Die drei Caravaggios von Neapel

Paris, 5. Dezember 2009, 10:10 | von Paco

Am 1., 4. und 12. Oktober sind hier Diques neapolitanischen Reisebe­schreibungen erschienen. So wie in jeder »Seinfeld«-Episode eine Anspielung auf Superman vorkommt, tritt in jedem dieser Berichte jeweils eines der drei Caravaggio-Gemälde Neapels auf. Umblätterer’s Digest:

Die sieben Werke der Barmherzigkeit (1607)

»Einen Laden weiter gibt es Schuhe für 3 Euro, gleich daneben frischen Fisch, und da hinten in der Kirche hängt dieser herrliche Caravaggio.«

*

Die Geißelung Christi (1607/10)

»Im Capodimonte nun ›The Flagellation‹, die Hängung ist fabelhaft, denn man sieht das Bild schon aus weiter Ferne und kann einen langen Gang darauf zuschreiten, bis man dann in der exklusiven, abgedunkelten Nische steht.«

*

Das Martyrium der Heiligen Ursula (1610)

»… die Via Toledo runter und zum Caravaggio, im zweiten Stock der Banca Commerciale Italiana.«

*

(Alle drei JPEGs stammen aus den Wikimedia Commons:
Sieben Werke, Geißelung, Martyrium)

Deutschlands erster Supermarkt-Roman

Konstanz, 1. Dezember 2009, 01:35 | von Marcuccio

Vier Äpfel (Cover)Der Kaufland-Tip mit seiner 19-Millionen-Auflage kann doch nicht alles sein, was wir über Super­märkte zu lesen bekommen. Mag sich David Wagner gedacht haben und legt »Vier Äpfel« vor – Deutschlands ersten Super­markt-Roman.

Der Plot ist schnell erzählt: David Wagner kauft sich keine nachtblaue Hose, wiegt aber vier Äpfel ab. Die bringen exakt 1000 Gramm auf die Kundenwaage – und den Gedan­ken: »Vielleicht ist heute ein besonderer Tag.« Nach 77 Seiten stellt sich heraus:

»Wahrscheinlich ist heute doch kein besonderer Tag, denn daß vier Supermarktäpfel zusammen genau tausend Gramm wie­gen, kommt bestimmt gar nicht so selten vor. Äpfel werden sicher auf dieses Gewicht hin gezüchtet und nach der Ernte entsprechend sortiert (…).«

Nach 157 Seiten ist das Buch zu Ende – doch es werden natürlich nicht nur vier Äpfel gewogen. Im Gegenteil.

»Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich mich ans Jagen erinnern, einen Speer in der Hand, unterwegs in der Savanne. Eine Million Jahre Jagen und Sammeln, achttausend Jahre Landwirt­schaft, neunzig Jahre Supermarkt. Kein Wunder, dass ich verwirrt bin, es ging doch alles ziemlich schnell.«

Genau so, möchte ich mal sagen, haben wir uns das mit dem Verbraucher-Feuilleton immer vorgestellt! Wer David Wagners Buch gelesen hat, wird Supermärkte neu entdecken, anders betreten, besser lieben und besser hassen. Ein Roman für …

1. Archäologen   – Die Liste der verschwundenen Supermarkt-Dinge
2. Archivisten   – Mit Liebeskummer in den Laden
3. Biografen   – Generation Granny Smith
4. Ethnologen   – Sex and the Supermarket
5. Galeristen   – Action Painting, Art Basel, documenta
6. Germanisten   – Wie heißt der Hund von Effi Briest?
7. Kunsthistoriker   – Supermarktpointillismus
8. Politologen   – Der Supermarkt als Apartheids-Regime
9. Psychologen   – Das Kunden-Trennholz
10. Romantiker   – Zum Milchschäumer-Vorführen zu mir
11. Serientäter   – Stromberg – die Supermarkt-Version
12. Soziologen   – Bourdieu auf Lebensmittelbasis
13. Systemtheoretiker   – Kein Shampoo für normales Haar
14. Theologen   – Der Supermarkt als Sündenfall

1. Der Supermarkt für Archäologen

So ein Kundenleben fängt im Einkaufswagen-Kinderklappsitz an. Und hört mit einem Rollator, der gleichzeitig Warenkorb ist, auf. Dazwischen geht in jeder Generation eine ganze Supermarkt-Kultur verschütt. David Wagner (Jg. 1971) hat mal ein paar Dinge ausgegraben, die allein schon, seit wir dabei sind, von der Bildfläche verschwunden sind:

  • der Schutzkarton, der die Zahnpastatube bis zum Paradigmenwechsel zwischen Metall- und Plastiktube umgab (98)
  • Kassenzettel ohne Produktzuordnung der Preise: »es stand ja nichts drauf, nur Zahlen, in einer langen Kolonne untereinander, es fehlte die Information, welcher Preis sich auf welches Produkt bezog« (150)
  • Preisetiketten auf den Produkten: »Am Rand stand DM, das D über dem M und links daneben, in größeren Ziffern, der Preis. (…) Der Umriß dieser Etiketten sah einer bestimmten Sorte von Verbundpflastersteinen ähnlich, die nicht selten vor den Geschäften (…) verlegt waren.« (144 f.)
  • die Etikettierpistole, »die wie eine Weltraumwaffe aussah, aber bloß kleine Preisschilder ausspuckte« (144)
  • »der lange Samstag«! (101)

2. Der Supermarkt für Archivisten

»geträumt, mit meinem Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen zu stoßen, in dem genau die gleichen Lebensmittel liegen wie in meinem.« (13)

Liebeskummer als Lizenz für das enzyklopädische Verfahren – was Moritz Baßler mal zu Stuckrad-Barres »Soloalbum« notierte, gilt auch für den Ich-Erzähler der »Vier Äpfel«. Er kauft ein, und sie ist weg. Und doch mit jedem Griff ins Regal präsent: »dass ich noch immer das Waschpulver kaufe, das L. gekauft hat«. Oder: »meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht.« (69)

L. heißt der Einfachheit halber übrigens wirklich L., also (phonetisch) elle. Vordergründig wird eine gescheiterte Beziehung besungen, hintergründig wandern lauter Dinge ins kulturelle Archiv nach dem Motto: »Zahnpastatreu bin ich nie gewesen«. Und dann folgt ein astreiner Lebenslauf, erzählt anhand von Zahnpastasorten. (99) Popliteratur lebt!

3. Der Supermarkt für Biografen

David Wagners Supermarkt-Inspektion ist DIE apokryphe Schrift zur Generation Golf! Einfach weil die »Vier Äpfel« ein paar Dinge über­liefern, die in den Illies-Evangelien schlichtweg fehlen. Zum Beispiel die Geschichte vom Apfel, der alt wurde.

Ja, Granny Smith (78 f.) war wirklich einmal so ›in‹ wie die 1980er makellos und giftgrün waren. Vielleicht auch nur als »Idee eines Apfels (…) – die Vorstellung, die ein Innenarchitekt von einem Apfel hat, der zu einer reinweißen Einrichtung passen soll«. Und deswegen war, wie David Wagner richtig notiert, Granny Smith natürlich auch die passende Apfel-Marke zu den Esprit und Benetton tragenden Neubaumädchen.

Heute, wo ein Apfel gar nicht streuobstgleich genug sein kann, wirkt der Granny Smith nur noch wie ein Schatten seiner selbst und wird denn auch in der Obsttheke »viel seltener und weniger prominent platziert«. Aber apfelkonsumgeschichtlich war er wahrscheinlich einfach eine notwendige Entwicklungsstufe: Man wollte und musste sich die Emanzipation vom Schrumpelapfel der Eltern und Großeltern leisten, da war ein gefühlter Retorten-Apfel gerade gut genug. Ob Granny Smith genauso Chancen gehabt hätte, wenn wir das mit Oma Schmidt schon damals gewusst hätten:

»Erst anderthalb Jahrzehnte später ist es mir gelungen, das Wort Granny, das ich als eine Kurzform für Großmutter kannte, auch als Bestandteil des Apfelnamens zu verstehen. All die Jahre hatte ich es einfach bloß als einen Klang wahr- und hingenommen (…).«

(Me too.)

4. Der Supermarkt für Ethnologen

Wagners Einkaufs-Ich ist Supermarkt-Single und wird es lange bleiben, denn

»tatsächlich (…) habe ich noch nie jemanden im Supermarkt kennengelernt. Ich habe Bekannte getroffen, ja vielleicht ist mir auch mal die Begleitung eines Bekannten oder der Freund einer Freundin vorgestellt worden, noch nie aber habe ich jemanden einfach so kennengelernt.« (13)

Eigentlich ist der Supermarkt ein absolut flirtfeindlicher Ort. Denn es gehört zur »Konvention des Supermarktverhaltens, (…) alle anderen zu übersehen, durch sie hindurchzublicken« (31).

Aber ein Bereich birgt dann doch so etwas wie Flirt-Potenzial, und das ist die »Kassenbrandung« (allein schon das: ein Wahnsinnswort), also da, wo das Einkaufen ins Bezahlen ausläuft und die Kundenströme in mehr oder weniger starken Wellen aus dem Laden schwappen. Wo die »Kassenloreley (…) über Wellen und Strom auf ihrem Terminalfelsen sitzt«. An ihr zerschellen männliche Kundenfantasien wie ein Ei auf einem Fels. Zumindest, wenn man den seitenlangen Bewusstseins­strom liest, mit dem Wagners Supermarkt-Held sich in eine Art Warteschlangen-Tagtraum hineinmanövriert:

»meine Lieblingskassiererin (…) lächelt mich an, obwohl ich noch gar nicht an der Reihe bin, sie hat mich erkannt. (…) Ich habe mich schon einmal gefragt, ob ich sie mit einer Auswahl besonders ausgefallener Produkte beeindrucken könnte.«

Usw. usf. Irgendwann zieht sie gefällig seine Waren über den Scanner, alles super, und er innerlich schon bei der Frage: »Will es vielleicht mein Schicksal, dass ich heute hier um ihre Hand anhalte? Könnte ich dann endlich L. vergessen?« Da bringt sie den Satz, der einem Flirtstorno gleichkommt. Sie fragt ihn, »ob ich eine Kundenkarte hätte, immer fragt sie mich nach dieser Karte und immer schüttele ich den Kopf«.

Was für ein Moment der Desillusion, bis zum nächsten Einkauf, der ihn wieder glauben macht, in einer besonderen Beziehung zu seiner Lieblingskassiererin zu stehen. So viel fruchtlosen Frauendienst hat man lange nicht gelesen in der deutschen Literatur. Man könnte auch sagen: David Wagner verlegt die Hohe Minne an die Supermarktkasse.

5. Der Supermarkt für Galeristen

»Was sich nicht bewährt, verschwindet aus den Regalen, was sich nicht verkauft, fliegt aus dem Sortiment. Der Supermarkt ist ein Museum der Dinge und Marken, die sich gehalten haben, ja, der zeitgenössischste Ausstellungsraum überhaupt.« (96)

Und von wegen nur Eat Art! In David Wagners Supermarkt ist Action Painting angesagt: »Mit dem rechten Vorderrad meines Einkaufswagens fahre ich nun absichtlich durch den Sahnefleck, ziehe eine dünne Linie auf den Supermarktboden.«

In der Sonderpostenzone lauert das documenta-Déjà-vu: Ein »Stapel weißer Kartons (…), die sich mitten im Gang auftürmen«:

»In ihnen befinden sich Tresore, einer von ihnen steht zur Ansicht. Sieht aus wie einer der kleinen Safes, die in Hotelkleiderschränken eingebaut sind, denke ich und daß ich nicht wüßte, was ich in einen Safe aus dem Supermarkt hineinlegen sollte.«

Sperrige Aktionsware, mit der man wenig anfangen kann? Im Prinzip müsste dieser Turm voller Tresore nur zum Einsturz gebracht werden, dann wäre die documenta-Imitation perfekt. Das Supermarkt-Pendant zur Art Basel kann, schon vom Prestige her, natürlich nur die Frischfischtheke sein:

»Ein ganzer, rauchblau glänzender, gar nicht kleiner Lachs liegt da neben Forellen und Doraden. Die meisten Fische kann ich nur deshalb benennen, weil neben ihnen kleine Schildchen im Eis stecken (…). Es ist also fast wie in einer Gemäldegalerie (…).« (41)

Hier wie dort mag sich die dicksten Fische geschmacklich wie finanziell nicht jeder leisten. Aber nur mal kucken kann ja auch schon schön sein.

6. Der Supermarkt für Germanisten

Ganz genau: Rollo darf hier nicht hinein! Aber es gibt an manchen Unis ja diese berüchtigten Leselisten und Leselisten-Prüfungsfragen à la: »Wie heißt bei Theodor Fontane der Hund von Effi Briest?«

»Literaturwissenschaft auf Kreuzworträtsel-Niveau« nannte das der »Spiegel« damals, und die Fangfrage für das Prüfungsthema »Vier Äpfel« wird einmal sein: »Was kauft David Wagners Ich-Erzähler eigentlich alles ein?« Es sind mitnichten nur vier Äpfel! »Zählen Sie also bitte aus dem Kopf lückenlos alle Produkte auf und bestehen Sie damit die Zwischenprüfung.«

7. Der Supermarkt für Kunsthistoriker

»L. und ich besuchten einmal ein Museum, in dem neben anderen kuriosen Dingen auch alte Konservendosen ausgestellt wurden. Die Exponate durften angefasst werden (…).« (33)

Im Grunde sind Supermärkte, was Vielfalt, Buntheit, Fülle angeht, Wunderkammern! Es begegnen einem:

  • … Parallelexistenzen von Lebensmitteln »in verschiedenen Aggregats­zuständen«: »Erbsen in Dosen und Tiefkühlerbsen und, fast vergessen, weil so unpraktisch, getrocknete Erbsen zum Einweichen vor dem Kochen«
  • … allerlei Assoziationen entlang des kulturellen Archivs: die Tiefkühltruhe als Schneewittchensarg, Spinat als Soylent Green … (17)
  • … und die absolut geniale Idee, dass es eigentlich nur eine ästhetische Form der Supermarktaneignung gibt: »Die Regale um mich herum sind ein einziges verschwommenes Farbenmehr, es bräuchte, so ein Bild könnte mir gefallen, einen Supermarktpointillisten, um sie zu malen«. (106)

Dass Wagner an dieser Stelle des Buches natürlich längst selbst der Supermarkt-Seurat ist, den er einfordert – geschenkt: 144 Kurzkapitel auf 159 Seiten werfen viele kleine Schlaglichter auf das Paradigma Supermarkt. In der Summe vielleicht wirklich so was wie ein pointillistisches Sittengemälde. Alles wird punktuell, quasi im Vorbeigehen und insofern sehr supermarktstimmig erzählt/gemalt.

8. Der Supermarkt für Politologen

Apartheid ist vielleicht das falsche Wort, aber David Wagners Super­markt-Held bekennt sich offensiv zur Warentrennung (Food vs. Non-Food), vor allem zu »den Drogerieartikeln, die ich nie im Supermarkt kaufe, weil ich sie nicht neben Wurst, Zitronen und Honig in meinem Wagen liegen haben will« (93).

Das Verbrauchervolk weiß er dabei auf seiner Seite: »Scheint so, daß es nicht nur mir so geht, viele Kunden trennen diese Einkaufssphären. Wie könnten sonst neben all den Supermärkten so viele Drogerie­märkte existieren?« (93)

9. Der Supermarkt für Psychologen

Schon wieder dieser Psychostress, bei jedem Einkauf die gleiche »beklemmende Verlegenheit«, dem Kunden, der an der Kasse hinter einem kommt, das Ding, für das so viele keinen Namen haben, vor die Waren zu legen!

»Schöner wäre es doch, wenn wir alle gemeinsam einkaufen und essen würden, ein Wunsch, bei dem es sich vermutlich um einen Höhlenatavismus handelt. Ich würde das große, zusammen erlegte Mammut lieber teilen und ein großes Festmahl feiern, statt dessen muss ich kleinlich Warentrenner legen.«

Tja, früher wären solche Typen in Woody-Allen-Filmen untergekommen. Heute werden sie von der Supermarktseelsorge direkt bedient: Bei der Schweizer Coop-Kette (Claim: Für mich und dich) haben sie die Kassen-Toblerone überhaupt nur für Therapiefälle wie ihn bedruckt. Nach der einen Seite steht ein freundliches: »Für mich.« Und nach der anderen: »Für Dich.« Diese Mischung aus Seelen-Wellness und We-are-Family-Marketing, das dürfte die Zukunft sein.

10. Der Supermarkt für Romantiker

David Wagner ist wirklich ein »Proust der Warenwelt« (Wolfgang Schneider/Börsenblatt), was die Poesie von Mangogabeln, Staubsau­gerbeuteln oder Tiefkühltorten angeht. Meine romantische Lieblings­szene aber ist und bleibt das Date mit dem »Chrommilchschäumer« aus dem Sonderpostenregal:

»Zweimal habe ich ihn überhaupt nur benutzt, das erste Mal, als er neu war, das zweite Mal, als L., die ich gerade wiedergetroffen hatte, mit zu mir kam und ich ihr imponieren wollte. Ich stand am Herd und bewegte das Sieb sehr schnell durch die warme Milch auf und ab, so produzierst du also diesen tollen weißen Schaum, sagte L. und lachte und meinte dann, für mich mußt du das nicht machen, ich mag gar keine Milch.« (100)

11. Der Supermarkt für Serientäter

»Angenommen, ich war einmal pro Woche, früher mit meiner Mutter oder Großmutter einkaufen, dann war ich es mit fünfundreißig, fast sechsundreißig schon fünfundreißig-mal-zweiundfünfzig-mal, jedenfalls war ich in meinem Leben schon viel öfter im Supermarkt als in der Kirche.« (63 f.)

Dieses Buch sensibilisiert für so manches, nicht nur für die eigene Supermarkt-Sozialisation (Höllentrip bei Feinkost Zipp als Assoziation zur Wölfin an der Kasse auf S. 149), sondern auch für sämtliche Supermarkt-Beziehungen, die man in seinem Einkaufsleben schon so hatte:

David Wagner erinnert sich »an Rewe, Edeka, Coop, Metro, Aldi, Spar, Superspar, Reichelt, Franprix, Champion, Tesco, Kaisers, Bio Company, Price Chopper, Wal-Mart, Plus, Extra und an einen in Rumänien mit dem für meine Ohren sonderbaren Namen Angst.« (33) Hätte Wagner das Ganze noch ein bisschen umfassender sortiert und kapitelweise präsentiert – Rebecca Casatis Roman über einen Fick durchs Alphabet hätte sich ein Supermarkt-Fetisch-Ableger zugesellt.

Und warum hatten wir eigentlich noch nie eine richtig gute Supermarkt-Soap? Kenne ich nur keine oder gab es auch keine? Im Übrigen bin ich mir sicher, dass ein Stromberg auch als Filialleiter zur Hochform aufgelaufen wäre (im Übrigen hätte auch seine Büro-Jalousie Platz gehabt – kein Marktleiterkabuff ohne diese Spionage-Lamellen!).

Ernie wäre wohl wechselweise für die Pfandflaschenannahme und das Zurückrangieren der Einkaufswagen (vom Parkplatz in den Laden) zuständig. Erika die altgediente »Frischfleischfachkraft« und gute Seele des ganzen Supermarkts, die vertretungsweise auch Kühlregal auffüllen und Kasse kann. Dort säße in der Hauptsache natürlich Tanja, während ihr Ulf die Getränkeabteilung (Biernachschub und so) versorgt, wo er sich so richtig gut mit Ernie zoffen kann, denn der braucht ja immer eine Vertretung an der Leergut-Annahme, wenn er wieder Einkaufswagen einsammelt.

Und Stromberg? Streut jeden Tag Gerüchte, dass der vollautomatische Pfandautomat bald kommt, die Frischfleischtheke in SB umgewandelt wird usw. usf. Kunden? Hätte ein Supermarkt mit der Stromberg-Crew eigentlich kaum noch nötig.

12. Der Supermarkt für Soziologen

»In fremde Einkaufswagen zu starren gilt als ähnlich ungehörig, wie während der Wartezeit an einer roten Ampel in den Innenraum eines in der Nebenspur stehenden Wagens zu sehen.« (135)

Allein schon für diesen Intimsphärenvergleich muss man David Wagner lieben! Zeig mir, was du in den Wagen legst und ich sag dir, wer du bist. Wo bzw. wie sonst sollten sich die feinen Unterschiede besser studieren lassen. Wer zum Beispiel kauft so was:

»Eine Halbliterflasche frischgepresster Kiwi-Orangen-Saft aus der Kühltheke, zwei Fenchelknollen, eine Tüte Biomöhren, zwei Flaschen stilles Wasser mit Orangenaroma und Naturjoghurt im Glas.« (130)

Natürlich, klischeemäßig, eine Frau. Und tendenziell sexy: »ich rieche, ich kenne es, ihr Parfüm. Ich nehme Fahrt auf und eile dem Duft der Frau hinterher.« Anderer Einkaufswagen, andere Kundin. Sie bestellt Leberwurst an der Bedientheke:

»Im Einkaufswagen der Leberwurstfrau liegen zwei Packungen Knäckebrot, Kartoffeln, Margarine und eine Salatgurke. Sieht nicht so aus, als kaufte sie für eine Familie ein. Prompt stelle ich mir vor, wie sie am Abend an ihrem Esstisch im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt und isst, wahrscheinlich gegen sieben, vielleicht auch erst um acht.

Und ich stelle mir weiter vor, wie sie ganz spät in der Nacht, sie kann nicht schlafen und weiß nicht warum, in ihre kleine Küche geht und sich noch einmal eine Scheibe Knäckebrot mit Leberwurst schmiert, die Kaloriengrenze, die sie sich für jeden Tag setzt, hat sie damit wieder weit überschritten, ihr Gewicht zu halten fällt ihr schwer.« (46 f.)

Bei Max Frisch hieß es ja auch immer: »Ich stelle mir vor«, »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«. David Wagner überträgt das Prinzip auf die dritte Person, sein Supermarkt-Held probiert an seinen Mitkunden die Weight-Watchers-Version von »Mein Name sei Gantenbein« aus.

Und auch das ist eine soziologische Erkenntnis: Wer über den Ladenbereich hinaus an Einkaufswagenladungen dranheftet, landet ganz schnell bei den »Randgruppen, die abseits der Supermärkte und ihrer Parkplätze mit Einkaufswagen unterwegs sind« (65).

13. Der Supermarkt für Systemtheoretiker

»Während des Einkaufens entwickelte L. gern Theorien« (75)

Shampoo-Shopping bitte immer nur im Drogeriemarkt (siehe Supermarkt-Apartheid). Und da passiert es: Unter »den hundertneunundachtzig verschiedenen Pflegeprodukten« findet der Erzähler eines Tages sein Stamm-Shampoo nicht mehr (115 f.):

»Wahrscheinlich wurde die Flasche, an deren Aussehen ich mich gerade erst gewöhnt hatte, schon wieder neugestaltet und ich erkenne sie nicht mehr. Aus der Pflegelinie, die ich davor verwendet habe, verschwand eines Tages das Shampoo für normales Haar. Erst dachte ich, es wäre nur nicht da, aber als ich die Woche darauf und später noch einmal und dann auch in anderen Drogeriemärkten danach suchte, fehlte es immer. Es gab das Shampoo für normales Haar nicht mehr.«

Luhmann hat nie über den Supermarkt der Gesellschaft geschrieben, leider. Denn David Wagner gibt allen Anlass für die Frage: Sieht die funktional differenzierte Gesellschaft ein Haarwaschmittel ohne Spezialfunktion überhaupt noch vor?

»Ich hätte mich für eine der Spezifikationen entscheiden müssen, von denen mir aber keine zusagte. Mein Haar braucht weder mehr Volumen noch einen Schutz vor Schuppen, und ich möchte auch kein Shampoo, auf dem ich lesen muß, dass ich sprödes oder schnell fettendes Haar habe. Ich will ein Haarwaschmittel für normales Haar.«

Das Sortiment als autopoietisches System. Ähnliche Auflösungs­erscheinungen des unmarkierten Normalzustands ja auch bei der Palette der ganzen Fleisch-, Kirsch-, Eier- und Cocktail-, Strauch-, Biostrauch-, Biokirsch- usw. -Tomaten (64). Von der Ausdifferenzierung ganzer Subsysteme (siehe wieder oben) ganz zu schweigen:

14. Der Supermarkt als Sündenfall

Das seltsame Verhalten Sahnebecher kaufender Kunden:

»Ich höre ein dumpfes Platschen, schaue auf und sehe, daß ein Becher Schlagsahne auf den Fußboden gefallen und aufgeplatzt ist. Er muß dem Mann mit dem Einkaufskorb vor der Kühltheke aus der Hand gerutscht sein, er sieht betroffen nach unten. Langsam, die Sahne fließt behäbig, wird der weiße Fleck neben seinen schwarzen, glänzenden Schuhen immer größer. Der Mann bückt sich, hebt den tropfenden Behälter auf, schaut sich verstohlen um, stellt ihn zurück ins Kühlregal und nimmt sich einen anderen, unversehrten Becher. Er kontrolliert das Haltbarkeitsdatum (…), legt ihn (…) zu zwei Weinflaschen und einem Radicchio-Salat und entfernt sich (…).« (28)

Eine Schlüsselszene des ganzen Supermarktromans! Aus Sicht der Moral-Theologie auf jeden Fall symptomatisch für die Ursünde aller Super- und modernen Warenmärkte überhaupt: die Anonymität. Anonymität schützt nicht nur Betrugsversuche des Systems Supermarkts am Kunden.

Anonymität deckt auch den Betrug des Kunden am Supermarkt. Und keiner redet hier von Diebstahl! Der zurückgestellte Sahne-Sabberbecher. Der Beutel Mozzarella, der kurz vor der Kasse doch noch auf der Strecke geblieben ist (›Wir machen doch kein Caprese!‹) und jetzt auf dem Sonderpostentisch (zwischen Skisocken!) versauert. Die Flasche Chardonnay, die irgendjemand im Weichspülerregal entsorgt hat. Lauter schöne Supermarkt-Findlinge.

Auch deswegen ist so ein gelegentlicher Supermarkt-Relaunch immer ein Traum: Wenn dann Wiedereröffnung ist und so ein ganzes Sortiment mal wieder kaufsündenfrei auf Kante steht … und kein erratischer Block, nirgends. Wahnsinn! Das Einkaufsparadies.

Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (5/2009)

Paris, 29. November 2009, 10:10 | von Paco

Der Brocken im November – O Brocken em Novembro

1. Um|blät|te|rer, der; -s, - (Feuilleton-Thinktank).

2. Nur noch ein paar Wochen bis zum Goldenen Maulwurf – Best of Feuilleton 2009, die fünfte Ausgabe. (vorherige Jahrgänge: 2005, 2006, 2007, 2008)

3. Kunstbücher von Taschen sind wie Schuhe von Deichmann.

4. Я в восторге! Gestern in der FAZ in »Bilder und Zeiten« ein riesiger Artikel über Jünger, also die Renovierung seines Hauses und den damit verbundenen temporären Umzug seiner Hinterlassen­schaften nach Marbach. Dann noch Biller und Grandmaster Flash, da braucht man gar kein eigentliches Feuilleton mehr, deshalb haben sie das auch entsprechend mies belegt.

5. »Klassenkampf«, sagte Doppler. »Wäre ’ne schöne Überschrift. Wie Klassenkrampf. Vielleicht lohnte es sich schon deshalb, einen Artikel über ihn zu schreiben. Wegen der Überschrift.« (Karasek, Das Magazin, S. 358)

6. US-TV-Serien: Wie gesagt, der Hype ist vorbei (cf. Umbl und serienjunkies.de). Narratologisch steht jetzt eine Flaute an, zu sehen an all den unterirdischen bis höchstens semi-mediokren Serien-Neustarts der Saison, detailliert nachzuverfolgen im sablog. Wir machen hier nur noch Curb 7 zu Ende (ich weiß, wir sind etwas hinterher) und im nächsten Jahr Lost 6.

7. »Dienstag, zu Hause, ich tat, ich weiß nicht was.« (Pontormo, »Il Libro Mio«)

8. L’Umblätterer goes Reading Room. Nach dem zehnteiligen Rundown der »Wohlgesinnten« im letzten Jahr folgt nun eine vierzehnteilige Exegese des grandiosen Supermarkt-Romans »Vier Äpfel« von David Wagner, und zwar am Dienstag.

 
Weitere Vorworte des Herausgebers zum aktuellen Jahrgang

 
I (29. 1.)   —   II (20. 4.)   —   III (22. 5.)   —   IV (29. 9.)
 

Endlich mal

Venedig, 27. November 2009, 07:49 | von Dique

Neulich endlich mal von Patricia Highsmith »Venedig kann sehr kalt sein« zu Ende gelesen. Endlich, denn das Buch war grottenlahm. Ich wollte ein bisschen Venedigstimmung für meinen jetzigen Aufenthalt aufbauen, aber wie gesagt, ein äußerst sinnloses Buch, auch sehr schlecht geschrieben, vielleicht auch eine schlechte Übersetzung, aber ich erinnere mich, dass ich mich durch den »Ripley« auch gequält habe, den las ich auf Englisch, ehrlicherweise war hier der Film, waren beide Filme deutlich besser als das Buch.

Also lieber nie wieder Patricia Highsmith, die amerikanische Donna Leon, hehe. Stattdessen las ich gestern einfach mal den »Tauge­nichts« von Eichendorff, herrlich, wie er da kurzzeitig als Zollvorsteher arbeitet und den ganzen Tag im gepunkteten Morgenmantel seines Vorgängers herumstolpert, einfach sehr köstlich das ganze Buch, ein 100-Seiten-Powerpackage.

Jetzt sitze ich also in der Dogenstadt und lese Eichendorff. Und die Dürer-Briefe. Lasset mich Euch hiemit befohlen sein. Geben zu Venedich am anderen Sunntag in der Fasten im 1506 Jahr. Grüsst mir Euer Gesind.

Eine Pferdewurst, die nicht abnimmt

Hamburg, 22. November 2009, 08:33 | von Dique

In vielen Witzen erhält jemand von einem Geist, einem verwunschenen Tier oder einer Fee ein Geschenk. Zum Beispiel der Typ, der irgend­einem Waldgeist behilflich gewesen ist und dafür zwei Wünsche frei hat.

Er wünscht sich eine Flasche Bier, die sich, nachdem man sie ausgetrunken hat, immer wieder von selbst füllt. Der Typ bekommt seine Flasche, trinkt sie aus, sie füllt sich wieder auf und er freut sich. Der Geist drängt nun, dass der Typ seinen zweiten Wunsch einlöse, und er wünscht sich dann eben noch so eine Flasche.

In »Peter Schlemihls wundersamer Geschichte«, aufgeschrieben von Adelbert von Chamisso, erhält dieser Schlemihl von einem Mann im grauen Rock einen kleinen Sack mit Gold, der sich von ganz allein immer wieder füllt. Dafür muss ihm der Beschenkte allerdings seinen Schatten überlassen. Das erscheint ihm zunächst nicht weiter tragisch, bis er dann erfahren muss, dass er ohne Schatten von seinen Mitmenschen verstoßen wird.

Peter hat keinen zweiten Wunsch frei. Immerhin taucht der Mann im grauen Rock nach einem Jahr wieder auf und möchte ihm den Schatten zurückgeben. Er könne sogar das Goldbeutelchen behalten, müsse ihm dafür allerdings seine Seele überlassen.

Arno Schmidt erwähnt in seinem Kurzroman »Aus dem Leben eines Fauns« die Schlemihl-Geschichte im Zusammenhang mit den möglichen Gaben und Geschenken:

»Sommersonne: Schatten: Peter Schlemihl!: Heute würd er in‘ Zirkus gehen und Unsummen verdienen! Wenn mir bloß mal son <Grauer Mann> erschiene, und mir was dafür böte, was Zeitgemäßes: ne Tabakspfeife, die nie leer wird; n Auto, das ohne Benzin fährt, ne Pferdewurst, die nicht abnimmt.«

Und Recht hat er, was gibt es Besseres, Schöneres, Zeitgemäßeres als eine never-ending Pferdewurst!

Kaffeehaus des Monats (Teil 49)

sine loco, 21. November 2009, 08:49 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Menzel, Mühlhausen, Interieur

Mühlhausen
Das Café Menzel in der Linsenstraße.

(Key Facts Mühlhausen: 1. Vor den Toren der
Stadt wurde Thomas Müntzer hingerichtet.
2. Innerhalb der Stadttore betreiben die
Menzels – Konditormeister mit eigener Mühle –
eine Art Little Austria. Key Facts Ende.)
 

Lars-Oliver Frökel: Von einem Bett zum andern

sine loco, 18. November 2009, 17:20 | von Guest Star

Unsere Popmoderne (Cover)Der 2005 erschienene Band »Unsere Popmoder­ne« von Marc Degens präsentiert 28 Auszüge aus fiktiven Werken der Gegenwartsliteratur mit kurzen Erläuterungen zu Autor und Wirkungsge­schichte. Unser Lieblingstext ist das hier folgende erotische Käsegedicht eines übereifrigen Ex-Thomaners.

Eine erweiterte Neuausgabe des Buches ist für 2010 im Verbrecher Verlag geplant.

*

                        Die Stühle
                        bilden
                        ein Quadrat

Ein kleiner, runder Beistelltisch
               steht im Schnittpunkt der Diagonalen

    Die Hände der Frauen
    sind mit Elektrokabeln
    hinter den Lehnen
    zusammengezurrt

        ihre Füße
        mit Stricken
        an die vorderen
        Stuhlbeine gefesselt

    Auf leisen Sohlen 
schleiche ich
        durch die Waschküche
    trete zum Tisch
                in die Mitte
        des Frauenquartetts
und lasse meinen Blick schweifen

Die Frauen atmen flach und erwartungsvoll
    vielleicht gar erregt

Ihre Gesichter sind mir zugewandt
                                ihre Augen
                                mit Seidentüchern
                                verbunden

Ich genieße das Stilleben
    die reglosen Körper
im Geist rufe ich ihre Vornamen

        Auf der Tischplatte liegt
        eine gelbe, bleiche, viereckige
    Käsescheibe
            nackt
von keiner Hülle geschützt.

Ich nehme sie in meine Hand
    und prüfe
    mit den Fingerkuppen
        ihre Beschaffenheit

        Das Käsestück fühlt sich künstlich an
        unecht
        wie ein Streifen Kautschuk

oder ein zu weiches Radiergummi

    Ich habe meine Wahl rasch getroffen
    und trete zu der Frau im langen, schwarzen Kleid
deren Mund

                                    ein Stück weit
geöffnet ist
        so daß ich ihre obere Zahnreihe sehen kann

    In aller Ruhe pirsche ich um den Stuhl
                                            beäuge sie
von allen Seiten
                    in immer engeren Kreisen

Sie spürt meine Anwesenheit
merklich von Minute zu Minute beben ihre Brüste heftiger

                                    ihr Atem wird gepreßter
                                    sie schluckt arg
                                    und aufgebracht

        Ich stelle mich vor sie

                schiebe mit den Fingerspitzen
            die schulterlangen, kupferbraunen Haarsträhnen
        aus ihrem Gesicht

        und entblöße die sonnverbrannt fleckigen

Wangen

Hernach rolle ich die Käsescheibe zusammen
                der Silberring an ihrem Ohrläppchen zittert

    ihr Atem stockt
    und scheint für einen Moment sogar zu versiegen

Mit der Spitze des Käsestücks streichele ich sanft

                                    beinahe 
                                        ohne Berührung
                    ihre Stirn

Vorsichtig tupfe ich ihre Haut
        wandere an ihr hinab
    bemale episodisch den Nacken
            das Kinn
                ihre Wangen

    Sie erschaudert bei jeder Berührung
                zittert
zuckt und meidet die Treffen

                    Bestimmter herze ich nunmehr ihre Haut
                    der Käse gleitet
                    langsam
                    über jede Pore
            wird stetig schlaffer
und sämiger

                        Ihre Wehr erstirbt
schlagartig
                            unterbreche ich
    die Verbindung
                                                isoliere sie
entrückt harrt ihr Kopf in stummer Erwartung

    um sich endlich
                        als ich sie wieder berühre
                            wie selbsttätig
                        und mit aller Kraft

    in mein Gekose zu stemmen

Ich wische ihr Fleisch

                        Der Käse klebt und seift
                        hinterläßt eine molkige Spur
                        nicht Butter, nicht Wachs

    Entschlossen umkreise ich nunmehr ihre Lippen

            begierig öffnet sich der Mund
        die Zunge schnellt hervor
                        und sucht das Labnis

    Ich locke sie
        spiele mit ihr

                kurz küßt der Köder die Glut

        entflammt einen Vorgeschmack
    sie schwärmt
und erlebt in Gedanken bereits die Erfüllung

                        Krankhaft buhlt sie um das Geschenk

schmust nach Genuß
                flau und vergebens

    Ich rolle die Käsescheibe auseinander

                                presse sie an ihre Stirn

an ihr Kinn
                                drücke sie fest
                                auf ihre linke
                                und rechte Wange

Schlußendlich verhülle ich ihre Lippen

    Ihr Mund springt auf
    klafft auseinander
            die Zunge trachtet nach dem Schlemmen

sie schlingt

    hungrig, gierig und geizig

        der Käse verschwindet im Krater

*

Das erotische Traumtagebuch Von einem Bett zum andern des 19 Jahre alten Leipziger Gymnasiasten Lars-Oliver Frökel verkaufte sich in den ersten vier Monaten nach Erscheinen bislang über zehntausendmal und gilt als die literarische Entdeckung der diesjährigen Frühjahrsbuchsaison. Die Frauenzeitschrift Mademoiselle wählte Lars-Oliver Frökel kürzlich zum »hübschesten Schriftsteller Deutschlands«, und ab November wird der ehemalige Thomaner-Chorknabe die Lifestyle-Sendung Glam des Kölner Musiksenders Viva moderieren. Zehn der achtundzwanzig Traumaufzeichnungen aus Von einem Bett zum andern werden derzeit für die ARD verfilmt, Regisseure der TV-Folgen sind unter anderem Detlef Buck und Sönke Wortmann.

Lars-Oliver Frökel: Von einem Bett zum andern
 

Curb Your Enthusiasm: 7. Staffel, 8. Folge

Paris, 18. November 2009, 00:51 | von Paco

»Officer Krupke«
(8. 11. 2009 · HBO)

Susie und Jeff cruisin‘ down the freeway. Sie sucht nach Taschen­tüchern und findet im Handschuhfach eine Damenunterhose. Und überhaupt wird der grundgütige Jeff in dieser Staffel zum immer schlimmeren Finger aufgebaut, nachdem er in der ersten Folge bereits Funkhousers meschuggene Schwester vernascht hat. Später wird Jeff von Larry verlangen, die Schuld auf sich zu nehmen: »I told Susie that you’re wearing women’s panties.«

Szenenwechsel: Larry beim Kauf einer Hose. Plötzlich Feueralarm, alle verlassen das Gebäude. Draußen begegnet er einem Officer Krupke. Er erheitert sich über den Namen und fragt ihn, ob er die »Westside Story« kenne (tut er nicht). Und so singt er dem Polizisten die wichtigste Stelle daraus vor: »Officer Krupke, krup you!«

Das Warten vor dem Bekleidungsgeschäft zieht sich eine Weile. Larry macht sich daher von dannen und behält einfach die anprobierte Hose am Leib. Aus den Hosentaschen schlackern Preisschild und Diebstahl­sicherung heraus.

Es folgt ein Besuch bei den Greens:

Larry: You know, I know all the lyrics from Westside Story.
Susie (gelangweilt): Really, fascinating.

Währenddessen lungert ein befreundetes Paar auf dem Sofa und erzählt Susie gerade seine Kennenlernstory. Larry will das nicht hören (»Let me guess how it ends, you get together in the end?!«) und dreht eine Runde um den sogenannten Block. Unterwegs kauft er bei drei Entrepreneur-Kids eine Limonade, die aber furchtbar schmeckt. Fiese Kids – ein echter »Curb«-Klassiker.

Cheryl und Virginia (die oben erwähnte Bekannte von Susie) treffen sich beim Vorsprechen für den Part der Amanda, der Exfrau von George bei der »Seinfeld«-Reunion. Cheryl liest die Szene mit dem TiVo-Guy, das Telefonat, das schließlich und letztlich zum Breakup der beiden geführt hat. Der Deal scheint besiegelt, Larrys Plan zur Rückgewinnung Cheryls scheint in die nächste Stufe zu gehen. Aber dann spricht diese Virginia vor, und Seinfeld lacht sich kaputt. Die Diskussion wird dann entschieden durch den dritten Typen, der im Zimmer sitzt, und der favorisiert auch Virginia. Larry knirscht sich ein Okay heraus.

Larry wieder im Hosenladen, einen Tag später. Die haben seine Hose verloren, die er für die Anprobe abgelegt hatte. Also sieht er nicht ein, warum er für die neue Hose bezahlen soll und verlässt, immer noch mit der Diebstahlsicherung versehen, den Laden.

Draußen trifft er Cheryl, der er erzählt, dass der Reunion-Part doch nicht an sie ging, sondern an Virginia. Cheryl berichtet im Gegenzug davon, wie ihr Dennis, der Boyfriend von Virginia, eine Ménage à trois vorgeschlagen hat (kleine Reminiszenz an den letzten Woody-Allen-Film »Whatever Works«).

Aber es gibt Hoffnung. Bei Jeff erfährt er, dass Virginia den Part wegen einer Nackenverrenkung doch nicht übernehmen kann. Außerdem arbeiten beide an der Überzeugungskraft von Larrys Freundschafts­dienst:

JEFF: Who are you?
LARRY: I’m Larry David.
JEFF: What do you happen to enjoy?
LARRY: I happen to enjoy women’s panties.

Danach checken die beiden Virginias Auto, weil Larry sichergehen will, dass sie sich ihren Nacken bei einem Unfall, nicht bei der angebotenen Ménage à trois mit Cheryl verzogen hat. Eine mehr als hanebüchene Idee, die aber die Handlung beschleunigt.

Am Ende sehen wir Officer Krupke bei Susie & Jeff hereinschneien. Er sucht nach Larry, der gerade »Krup you!« sang, als er bei den Limonadenkindern vorbeifuhr. Deren Mutter hat dann die Polizei rangeholt. Krupke sieht die Diebstahlsicherung an der Hose, Larry zieht sie aus, darunter kommt natürlich eine Frauenunterhose zum Vorschein. Und dann sagt er wie erwartet den Satz auf: »I’m Larry David. I happen to enjoy wearing women’s panties.«

Diesmal gibt es noch eine etwas wohlfeile Zusatzpointe. Zunächst hatte Larry apodiktisch festgestellt: »We all know, there’s only two ways a person can injure their neck. One is: a car accident. (…) The other is: cunnilingus.« Und nun klingelt Jeff mit eingegipstem Hals an Larrys Tür: »You gotta tell Susie I was in a car accident.«

Der Umblätterer über andere »Curb«-Episoden:
Season 6: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10
Season 7: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10

Genudelt voll mit Pontormo

Hamburg, 17. November 2009, 08:15 | von Dique

»Il Libro Mio« heißen die Aufzeichnungen Pontormos aus seinen letzten beiden Lebensjahren, 1554–1556. Inhaltlich geht es im Wesentlichen um seine Nahrungsaufnahme und das leibliche Wohl bzw. meist Unwohl, Darmstörungen, das Zipperlein allgemein und das schlechte Wetter.

Angaben über sein künstlerisches Schaffen werden eher uninspiriert erwähnt und sind ohne Kontext kaum nachvollziehbar. Er sagt maximal, dass er »Dienstag und Mittwoch den Alten gemacht (hat) mit seinem Arm und zwar so: (…)«. Dahinter sieht man dann eine kleine Miniskizze, nur aus ein paar Strichen bestehend.

Zu kompositorischen oder inhaltlichen Fragen des von ihm Erschaffenen äußert er sich gar nicht. Dafür erwähnt er immer und immer wieder die Essen mit seinem ehemaligen Schüler und Freund Bronzino:

»Sonntag, Mittagsmahl mit Bronzino
fühlte mich genudelt voll, also
nichts zum Abendessen.«

Ich las die deutsche Ausgabe des Buches. Für »satt sein« nimmt der Übersetzer meist »genudelt« oder »genudelt voll«. Das sagt doch aber eigentlich niemand. Vielleicht wurde das aus atmosphärischen Gründen benutzt, oder es ist tatsächlich die beste Entsprechung zum Original.

Folgt man der Beschreibung einer typischen Woche im Hause Pontormo, dann ist vor allem sonntags eine Nudelorgie fällig:

»Sonntag Mittagsmahl mit Bronzino, kleine Nudeln.
Montag den Helm.
Dienstag den Kopf (…)
Mittwoch den Rumpf; und kein Abendessen.
Donnerstag den Arm; und zum Abendessen Eierfisch.
Freitag den Leib, es war St. Lukas, zum Abendessen Eier und
14 Unzen Brot und Kohl.
Samstag den Arm und wo er sitzt; zum Abendessen Eier und
9 Unzen Brot und 2 Dörrfeigen.
Sonntag, Mittagsmahl mit Bronzino, kleine Nudeln,
Abendessen auch mit ihm.«

Zur Zeit der Aufzeichnungen arbeitete Pontormo in der Florentiner Kirche San Lorenzo an einem Jüngsten Gericht, vor dessen Fertigstellung ihn der Tod ereilte. Vasari erwähnt in der Vita des Pontormo den langen Zeitraum, der für dieses Werk draufging. Elf Jahre brachte er damit zu, in einer Kapelle »mit Mauern, Bretterwänden und Planen verhüllt und sich völlig der Einsamkeit hingegeben«.

Vasari wirft Pontormo, der stark von Dürers Druckgrafik inspirieren war, auch ständig vor, sich seinen eigenen Stil durch die Nachahmung des deutschen Stils ruiniert zu haben. Zwar lobt er die frühen Werke und lobt deren Maler als großen Meister, doch kann er mit seinem Spätwerk wenig anfangen. So auch mit dem Ergebnis des Freskos in San Lorenzo:

»Statt dessen malte er überall nackte Figuren in einer Ordnung, einem disegno, einer Bildfindung, Komposition und Farbgebung, die er nach seinem Sinn gestaltete und dazu in einer so tiefen Melancholie und für den Betrachter so wenig ansprechend, daß ich beschlossen habe, das Urteil darüber jenen zu überlassen, die es sich anschauen werden, da ich es noch nicht verstehe, obwohl ich selbst Maler bin. Ich befürchte nämlich, dabei verrückt und verwirrt zu werden, so wie er scheinbar in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit von elf Jahren sich selbst und jeden anderen zu verwirren suchte, der diese Malerei mit derartigen Figuren betrachtet.«

Dieses Urteil können wir uns nicht mehr bilden, denn das Werk wurde Mitte des 18. Jahrhunderts übertüncht und schlussendlich wurde gar die Mauer eingerissen, auf der es sich befunden hatte. Alles, was uns bleibt, sind einige seiner Skizzen und Studien und das etwas verwirrende »Libro Mio«.

Eine sehr schöne dunkle Jacke

Konstanz, 15. November 2009, 20:01 | von Marcuccio

Deutschland wird auch in Stilfragen am Hindukusch verteidigt, findet Kurt Kister mit Blick auf den neuen Verteidungsminister und seinen gerade absolvierten Afghanistan-Besuch. Der Beitrag beginnt so richtig gut im Bunte-Style …

»Er trug eine sehr schöne dunkle Jacke von Loro Piana, natürlich 100 Prozent Kaschmir, mit elfenbeinfarbenem Innenfutter.«

… reiht sich dann goldrichtig ins Genre der KT-Hagiografie ein:

»Die Hände hat er in die Hüften gestützt, das subalterne Offiziersvolk im Tarngewand umgibt ihn in einer distanzwahrenden, ehrfurchtsschwangeren Korona. Natürlich ist es nur Licht, das von außen auf den Baron fällt, aber er sieht auf dem Foto trotzdem so aus, als leuchte er selbsttätig von innen.«

… und wagt dann einen, wir denken an die Wendung vom »Baron aus Bayern«, gar nicht so pindarischen Sprung zum Brioni-Kanzler Gerhard Schröder:

»Die Angelegenheit war deswegen so bemerkenswert, weil dieser Politiker und dieser Anzug nicht zusammenpassten. Einer von beiden war dem anderen ein Fremdkörper. Poltrige Männer mit nach oben gedrehten Nackenlocken gehören nun einmal nicht in Brioni und in Versace, nur wenn sie bei den Sopranos eine Nebenrolle spielen.«

Ein weiterer Stopp bei Peter Struck (»fuhr gerne Motorrad und rauchte Pfeife. So sah er auch am Hindukusch aus«), aber dann sind wir auch schon angekommen, beim schönsten Satz des ganzen Artikels:

»Im Rückblick auf 30 Jahre bundesdeutscher Wehrgeschichte von Manfred Wörner bis zu Karl-Theoder zu Guttenberg ist erkennbar, dass die Bundesrepublik souverän geworden ist – zumindest was die Klamotten angeht.«

Ganz am Schluss wird Guttenberg zum Ehrenmitglied im Queen’s Own Corps of Guides ernannt, und das liest sich dann wirklich so, wie wenn Christian Kracht immer noch Asien-Korrespondent des »Spiegel« wäre.

Usw.