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Derrida

Lille, 15. September 2016, 22:44 | von Niwoabyl

Wie schon erwähnt lese ich gerade »Für immer in Honig« und habe eben Seite 600 erreicht. Vor zwei, drei Tagen war ich bei einem Kapitel angekommen, in dem zwei »Denker« vorkommen, und zwar tragen sie die Vornamen Jacques und Jürgen. Hahaha! (So hervorragend und empfehlenswert es ist, klingt »FiiH« leider ab und zu ein bisschen nach Jugendwerk, Dath kann oft nicht einfach aufhören, wenn’s gut und witzig ist, sondern muss immer wieder eins drauflegen, und dann kommt irgendwas Plumpes gegen Postmoderne und so.)

Das hat mich dann an Horzon erinnert, bei dem Derrida ja auch eine prominente Rolle spielt, direkt im ersten Kapitel vom »Weissen Buch«, als Haupterlebnis seiner Pariser Zeit (als PDF auf suhrkamp.de, S. 11–13). Und damit dachte ich dann wiederum sofort an Gespräche mit Österreichern, denen ich erklären musste, dass ich ja wirklich Franzose bin, aber mit Derrida nichts anfangen kann, und sie sagten, wie ist das möglich.

Da fiel mir auf: Ich habe eigentlich bislang überhaupt nur mit Deutschen und Österreichern über Derrida geredet (d. h., eigentlich sie von Derrida erzählen hören), und einmal vielleicht noch mit Amerikanern, aber auf jeden Fall nie mit Franzosen. Ich glaube, mein einziges Derrida-Gespräch auf Französisch fand 2003 statt, ich war gerade eben nach Paris gewechselt, als mir jemand erzählte, im Telefonbuch der ENSianer stehe Derridas private Telefonnummer (was auch stimmte, allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jackie Derrida). Sonst ging es irgendwie nie um ihn.

Als junge Studenten unterhielten wir uns über Foucault, wir lasen Deleuze und zitierten ihn nächtelang, wir führten Debatten über Strukturalismus in seiner Softcore- (Barthes) wie in seiner Hardcore-Prägung (Lévi-Strauss). Die ganz Philosophischen entdeckten auch Wittgenstein und Quine und die Sprachphilosophie für sich, die weniger Philosophischen versuchten es halt mit den politischen Autoren, alle mussten irgendwie für oder gegen Bourdieu sein. Wir waren also im Kopf Zeitgenossen unserer Lehrer.

Aber die eigentliche Postmoderne, Derrida und Lyotard, fand bei uns einfach nicht statt. Der vielleicht größte Star der Clique, der in Deutschland und den USA andauernd zitierte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Niemand las das oder wollte das lesen, das war kein Thema und gehörte schlicht und ergreifend nicht zum Kanon. Schwierigkeit könnte natürlich ein Grund sein, aber irgendwie auch nicht, denn einige – ich nicht – waren durchaus auch auf dem Weg zur Lacan-Kennerschaft, und unleserlicher kann selbst Derrida eigentlich nicht sein.
 


Gruß aus Wien

Wien, 12. April 2016, 14:19 | von Niwoabyl

Ich sitze nämlich gerade im vierten Ausstellungsraum des nagelneuen Literaturmuseums im Grillparzerhaus. Schöner und reicher ist wohl kein Literaturhaus auf der Welt. Diese Räumlichkeiten sind eine Hymne an die Schriftkultur österreichisch-größenwahnsinnigsten Ausmaßes.

Ich sitze da ganz allein und verlassen, als einziger Besucher tief in der Höhle, von Raum zu Raum gejagt von gefühlt zwanzig älteren, steifen, wienerisch vor sich hin murmelnden Museumswärtern, faszinierend.

In einer Vitrine mir gegenüber sind versammelt: ein Krauthobel aus dem Nachlass von Adalbert Stifter, der Selbstmordrevolver von Ferdinand von Saar, Ernst Jandls Metronom, Peter Handkes Maultrommel, Lernet-Holenias Springschnur und Doderers Morgenmantel.

Und dann das Original eines handschriftlichen Fanbriefs von Ian Fleming an Leo Perutz!
 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 14):
»Eine dritte deutsche Literatur« (1987)

Paris, 14. Dezember 2013, 08:10 | von Niwoabyl

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 93)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Nach »Kuhauge« ist ein weiterer Fritz-J.-Raddatz-Hundertseiter Teil einer Trilogie, ganz so als hätte er endlich auf Goethes Auslassungen gegenüber Eckermann antworten wollen, der ja bekanntlich über den Mangel an guten deutschen Trilogien klagte. Allerdings steht das Buch diesmal am Ende der Trilogie, wie der Titel schon hinreichend ankündigt, und wenn es um eine »dritte« deutsche Literatur geht, bildet sie nicht nur einen Zusatz – das schärfen uns hier alle Paratexte ein –, sondern sie soll den Gegensatz von ost- und westdeutscher Literatur wunderbar hegelmäßig aufheben. Von einer derart didaktischen Sicht merkt man im Buch selbst dann erfreulicherweise wenig.

Auf dem ziemlich schmucklos und spartanisch gehaltenen Rowohlt-Taschenbuch steht auch noch, hier seien »statt zierlicher Akzente heftige Thesen« zu erwarten. Aber mehr als die versprochene Heftigkeit, die sich mir nicht ganz erschlossen hat, gefiel mir, wie Raddatz seine kleine Sammlung kritischer Essays zu einer mosaikartigen Collage von Zitaten, Anspielungen und literatur- sowie zeitkritischen Analysen macht, die ganz ohne Unterteilungen, Kapitel oder gar Kapitelüberschriften auskommt. Hier wird Literatur- und Geistesgeschichte im Kempowskimodus praktiziert. Überall nur fließende Übergänge, von Robert Wilson zu Peter Stein, von Peter Stein zu Botho Strauß, von Botho Strauß zu Peter Handke, bis wir endlich über verschlungene Wege (Schütz, Schleef, Kunert, Kronauer, Christa Wolf, Manfred Frank) bei Martin Walser glücklich die Lektüre abschließen dürfen. Dass Raddatz in diesem Buch nicht vollständig auf Anführungszeichen verzichtet, ist in dieser Hinsicht fast zu bedauern.

Länge des Buches: ca. 251.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der Gegenwart. (= Zur deutschen Literatur der Zeit. Band 3.) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 71
Heimito von Doderer: »Das letzte Abenteuer« (1953)

Paris, 10. Juni 2013, 20:21 | von Niwoabyl

Bei Fremdsprachen erinnert man sich immer gern, in welchem Buch man dieses oder jenes nicht so häufige Wort mal gelernt hat. Mir wären zum Beispiel ›Molch‹ und ›Lurch‹ ohne Heimito von Doderer sicher nicht so geläufig. Auch wäre ich nicht von der manischen Laune befallen, diese allerschönsten Wortschatzeroberungen möglichst oft im Gespräch unterzubringen, was sicherlich nicht gescheit aussieht. In Doderers Frühwerk »Ein Mord, den jeder begeht« ist nämlich Conrad, die Hauptfigur, seit der Kindheit von Molchen derart fasziniert, dass sie ihm zur Chiffre geheimer, unwiderstehlicher Leidenschaften werden und er, immer um sein seelisches Gleichgewicht besorgt, sich ständig davor fürchten muss, irgendwas würde ihm zum ›Molch‹ geraten.

Auch im Spätwerk »Die Wasserfälle von Slunj« kommen kleine bis winzige Wassertiere zum Vorschein, eine der Hauptfiguren lässt nach nur wenigen Seiten seine junge Ehefrau ungalanterweise stehen und kriecht auf allen Vieren, um Flusskrebse besser beobachten zu können. Im übrigen wird auch sonst in diesem Roman viel auf allen Vieren gekrochen, in einer der unfassbarsten Szenen vor einer kleinen elektrischen Modelleisenbahn. Darüber hinaus sind bei Doderer gottlob noch große, ganz normale Züge dabei, sowohl in den »Wasserfällen« als auch im »Mord«, wo Wagenabteil und Bahntunnel beinahe strudlhofstiegenmäßig zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Handlung werden.

Also hat es auch seine Richtigkeit, wenn Doderer neben dem immer wiederkehrenden Gewimmel wenigstens einen Erzähltext hinterlassen hat, in dem ein richtig dickes Tier vorkommt, und amüsanterweise geht es um eine Novelle von – für Doderer’sche Verhältnisse – geradezu mickrigen Ausmaßen. Allerdings macht er dann keine halben Sachen und entschädigt den an Wuchtigeres gewöhnten Leser durch eine wahnhaft gigantische Bestie, einen Drachen so groß wie ein Berg. Die Beschreibung liest sich auch wirklich schön, und es ist fast ein bisschen schade, dass dieser Höhepunkt schon so früh im Text erreicht wird.

Läuft ein solches Prachtexemplar frei umher, können Ritter, von der Âventiure gelockt, nicht lange auf sich warten lassen. Allerdings sind die Recken, wenn sie zum ersten Mal den Kopf des Monsters erblicken (mehr als der Kopf des Drachen passt bei Doderer beschreibungsmäßig natürlich nicht auf eine Buchseite), doch etwas verunsichert. Zum eigentlichen Kampf kann es unter diesen Umständen kaum noch kommen, und den Drachen lassen schwertzuckende Däumlinge eh kalt, wenn man so etwas bei einem Reptil sagen kann: »Vielleicht war er auch schon satt.«

Überhaupt zeigt Doderer wenig Interesse am Actionpotenzial eines Ritterromans, und auch das mit der Brautwerbung geht bei allzu empfindsamen Rittern nicht mehr so ruckzuck wie in heldenhafteren Zeiten. Dafür findet man im Text eine ganze Menge wunderschöne synästhetische Vergleiche, an denen sich die höfische Gesellschaft selbst mit großem Vergnügen beteiligt. Diskutiert wird zum Beispiel über die richtige Beschreibung für den eigentümlichen Geruch, den ein vom Drachenhaupt abgeschlagenes, bläulich schimmerndes Stück Horn verströmt, und das ist schließlich auch nicht schlecht.

Länge des Buches: ca. 137.000 Zeichen. – Ausgaben:

Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Erzählung. Mit einem autobiographischen Nachwort. Stuttgart: Reclam 1953.

Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Mit einem Nachwort von Martin Mosebach. München: C. H. Beck 2013. S. 7–97 (= 91 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 61
Adolfo Bioy Casares: »Morels Erfindung« (1940)

Paris, 16. April 2013, 22:22 | von Niwoabyl

Ich wollte das Büchlein schon seit Ewigkeiten lesen, weil ich mal irgendwo gehört hatte, dort hätten sich Resnais und Robbe-Grillet für »L’Année dernière à Marienbad« bedient. Der Film ist ein großartig verkopftes kryptisches Wunder, und als Orgelmusikfanatiker muss ich ihn einfach als einen meiner Lieblingsfilme betrachten. Außerdem hat mal der liebe Deleuze in einer seiner Vorlesungen mit ihm ein ziemlich grandioses theoretisches Spektakel angerichtet, indem er das Zerwürfnis zwischen Autor und Regisseur auf verschiedene Auffassungen von Zeit und Gedächtnis, mithin auf verschiedene interpretatorische Möglichkeiten zurückführte.

Allein die Idee, gerade wenn man sich nicht einig sei, könne man zusammen ein Meisterwerk aushecken, ist faszinierend; das sieht man auch bei Robert Bresson: Ein mystischer Regisseur verfilmt eine grausame Erzählung aus der Feder eines notorischen Freidenkers, arbeitet dafür mit lauter Filmstars zusammen, mit denen er sich extrem schlecht versteht, am Ende sind alle stinksauer, der Autor dreht sich wie wild im Grabe um, und schon hat man den Film der Filme.

Immerhin hat es richtig gefunkt zwischen Borges und Bioy Casares, eigentlich so gut, dass vielen Bioy Casares nur deswegen überhaupt ein Begriff ist. Selbst auf dem Cover meiner libro-de-bolsillo-Ausgabe vom gemeinsamen Buch »Seis problemas para don Isidro Parodi« steht Bioy Casares‘ Name kleiner gedruckt als Borges‘. Frechheit! Und Borges‘ berühmtes Vorwort für »Morels Erfindung« klingt, hat man die Geschichte gelesen, wie üble Vereinnahmung. Was hat diese lahme Polemik gegen psychologische Prosa und für den Abenteuerroman denn hier zu suchen? Wenn das kleine Buch ein Abenteuerroman ist, dann einer von der wirklich beschaulich-lyrischen Sorte. Robinson-Crusoe-Situation, Science-Fiction-Anklänge und HG-Wells-Anspielungen hin oder her: Wer auch nur die wunderbaren ersten und letzten Paar Sätze gelesen hat, weiß schon Bescheid: Die Grundstimmung ist elegisch.

Obwohl die Beziehung zum Marienbad-Film keine unmittelbare ist, hat das Buch sehr viel mit dem Kino zu tun, auf fantasmagorisch-surreale Weise, und ist in dieser Hinsicht wie eine Weiterentwicklung von Jules Vernes »Karpathenschloss«. Deswegen sollte man eben der Versuchung widerstehen, es zu verfilmen. Viel schöner wäre nämlich, Bioy Casares‘ technisch-moderne Schattenwelt dorthin zu überführen, wo er eigentlich hingehört: in die Ästhetik der Barockoper. Morel würde sich in der Gesellschaft von Ariostos Zauberinnen sicher geborgen fühlen, und im Falle nicht verlässlichen Zaubers wäre er ihnen auch nicht der schlechteste Berater.

Länge des Buches: ca. 176.000 Zeichen (Haefs-Übersetzung). – Ausgaben:

Adolfo Bioy-Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus d. Span. übers. von Karl August Horst. Mit e. Nachw. von Jorge Luis Borges. München: Nymphenburger Verl.-Handl. 1965.

Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus dem Span. von Gisbert Haefs. Mit einem Nachw. von René Strien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 53
Édouard Dujardin: »Geschnittener Lorbeer« (1887)

Paris, 5. April 2013, 01:20 | von Niwoabyl

Das Wagnerjahr wollte ich nicht verstreichen lassen, ohne einmal an Édouard Dujardin erinnert zu haben, den Gründer der französischen »Revue wagnérienne«. Interessanterweise betitelte der vergessene Symbolist seinen epochalen Hundertseiter nicht »Winterstürme wichen dem Wonnemond« oder so, sondern »Les Lauriers sont coupés«, nach dem zweiten Vers des berühmten alten französischen Kreisliedes »Nous n’irons plus au bois«, nicht weniger ohrwurmhaft, dafür aber einen Deut pessimistischer. Über die eigentliche Bedeutung dieses Titels lässt sich prächtig spekulieren, selbst Petrarca wird dazu bemüht, was man ein bisschen weit hergeholt finden darf. Eigentlich soll das Liedlein, heute noch französischer Pausenhofhit, die Gründung der ersten Versailler Bordelle kommemoriert haben, und im Buch geht es ja auch um käufliche Liebe.

Erzählt wird ein Abend im Leben eines »Studenten«, der gleich anfangs gesteht, dass er sich nicht sonderlich um Jura kümmert. Da er im Paris des Fin de siècle lebt, bleiben ihm freilich drei ausgesuchte Betätigungsfelder: die oberflächlichen Gespräche mit Künstlerfreunden, das einsame Essen in deprimierenden Cafés (man fühlt sich an Huysmans‘ großartigen »À vau-l’eau« erinnert) und schließlich das Theater, will sagen: das abendliche Warten auf Schauspielerinnen, mit denen sich eventuell Liebschaften anfangen lassen.

Amüsant ist vor allem die wilde Stilmischung, ein wirkliches Fin-de-siècle-Potpourri, von derben, »authentischen« Ausfällen über komische Szenen zum entfesseltesten symbolistischen Gefasel. Der Auftakt zum Beispiel möchte gern so etwas sein wie ein Prosa gewordenes »Rheingold«-Vorspiel, mit einer Erzählstimme, die aus dem Nichts entsteht und sich allmählich in den Abend hineinmaterialisiert. Und nach nur ein paar Seiten schon will der Besitzer besagter Stimme im Café eine Frau durch gezieltes Billettzustecken anbaggern. Dann freilich verzichtet er darauf und macht sich ihr erst dadurch bemerkbar, dass er sorgfältig sein Billett zu kauen beginnt. So schnell verlässt man hier Bayreuth zugunsten der Vaudeville-Bühne.

Obwohl die Erzählung das erste bekannte Beispiel eines buchlangen inneren Monologs sein soll – so will es die Literaturgeschichte –, fühlte ich mich eben eher an die vielen komischen Monologe erinnert, die damals Furore machten, etwa an Georges Courtelines »Théodore cherche des allumettes«. Darin tappt die beschwipste Hauptfigur eine halbe Stunde auf der Suche nach Streichhölzern im Dunkeln, somit allerhand Kataströphchen verursachend, die er zur Freude des Publikums laut kommentiert. Das ist immer noch sehr lustig, und so was Hochkomisches hätte Dujardin wahrscheinlich auch drauf gehabt. Wäre er nur nicht Mallarmé-Freund gewesen.

Länge des Buches: ca. 146.000 Zeichen (frz.). – Ausgaben:

Édouard Dujardin: Geschnittener Lorbeer. Roman. Aus d. Franz. von Günter Herburger. Köln; Berlin: Kiepenheuer u. Witsch 1966.

Edouard Dujardin: Die Lorbeerbäume sind geschnitten. Dt. von Irene Riesen. Nachwort von Fritz Senn. Zürich: Haffmans 1984.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die Racine-Charts

Paris, 2. April 2013, 19:55 | von Niwoabyl

Die 12 Stücke von Racine, objektiv geordnet nach Qualität:

1. Andromaque (1667)
Ohne Worte, das Stück der Stücke!

2. Les Plaideurs (1668)
Die mit Abstand lustigste Komödie des 17. Jahrhunderts!

3. Britannicus (1669)
Action pur!

4. Bérénice (1670)
« Hélas ! »

5. Mithridate (1672)
Kennt kein Mensch und hat daher auch niemand gelesen, deshalb.

6. Phèdre (1677)
Gehört eigentlich in die Top-3, wird aber eh schon zu viel gelobt.

7. La Thébaïde (1664)
Jugendstück Nr. 1, keine Erinnerung mehr daran, außer dass es irgendwie okay gut war.

8. Alexandre le Grand (1665)
Jugendstück Nr. 2, dito.

9. Bajazet (1672)
Eigentlich langweilig, aber die hinter der Bühne wartenden Henker sind großartig. Wenn Bajazet die Bühne verlässt, ist er tot.

10. Esther (1689)
Alttestamentliche Tragödie 1, unlesbar.

11. Athalie (1691)
Alttestamentliche Tragödie 2, dito.

12. Iphigénie (1674)
Ein Happy End, unfassbar, so was geht doch nicht, trotz Euripides!

 


100-Seiten-Bücher – Teil 22
C. F. Lhomond: »De viris illustribus« (1779)

Paris, 1. März 2012, 00:35 | von Niwoabyl

Wir waren heute in der Rue Lhomond verabredet, die unweit des Panthéon die tourismusaffine Rue Mouffetard mit der filmreifen Idylle des Place de l’Estrapade verbindet. Weit spannender als unser Ge­spräch über Pariser Altertümer – die Stadtmauer des Philipp Augustus lag ja mal ganz in der Nähe – wäre jedoch die Frage gewesen, wer denn der Namensgeber der Lhomond-Straße nun gewesen ist.

»Grammairien« steht da auf den Straßenschildern geschrieben. Hinter der bescheidenen Bezeichnung versteckt sich aber einer der vielleicht einflussreichsten Männer der französischen Literaturgeschichte. Bis in die Fünfzigerjahre hinein haben alle sein Buch gelesen: »De viris illustribus urbis Romæ, a Romulo ad Augustum«, ein süffiger neulatei­nischer Hundertseiter, der die Geschichte Roms in Anekdoten möglichst einfach nacherzählt.

Die längst vergriffene kleinformatige Ausgabe der Reihe Classiques Hachette war schon lange zum Kultbuch geworden, als der Text in den Neunzigern endlich neu aufgelegt wurde. Man kann ihn durchaus als kluge Stilübung lesen, in der die Sprache ganz allmählich und parallel zum Lauf der Geschichte, also mimetisch, komplizierter wird. Und wann immer die écrivains et penseurs mal wieder mit ihrem Wissen über die römische Geschichte geprotzt haben, darf man fast sicher sein, dass sie das nicht aus dem Livius oder dem Cornelius Nepos hatten, sondern aus dem kleinen, feinen Lhomond.

Länge des Buches: ca. 202.000 Zeichen (lat.). – Ausgaben:

C. Lhomond: De viris illustribus urbis Romæ, a Romulo ad Augustum. Lyon: Savy 1805. S. 1–224. (= 224 Textseiten) (online)

C. F. L’Homond: Viri illustres urbis Romæ, a Romulo ad Augustum. New York: George Long 1835. S. 1–134. (= 134 Textseiten) (online)

Lhomond: De viris illustribus urbis Romæ a Romulo ad Augustum. Paris: Hachette 1857. S. 1–104. (= 104 Textseiten) (online)

Lhomond: Urbis Romae viri illustres a Romulo ad Augustum. Überarb. und mit einem Wörterbuch versehen von C. Holzer. Stuttgart: Neff 1856. (14. Auflage 1923)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Gaston Gallimard et la « traumdenfung »

Paris, 6. April 2011, 13:52 | von Niwoabyl

deutsch

(Zur deutschen Version dieses Berichts …)

Ce dimanche, nous sommes allés tôt le matin au Louvre. Nous nous rendions à l’exposition Messerschmidt, non point pour y contempler des débris d’avions à réaction, mais les « têtes de caractère » du célèbre sculpteur bavarois. On pourrait dire de cette petite cinquantaine de bustes qu’elle fut luxueusement sculptée dans toutes les règles de l’art, si les visages y étaient idéalisés ; mais ceux-ci s’y présentent comme défigurés par les grimaces les plus aberrantes.

Sur les raisons qui poussèrent Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783) à commettre cet acte unique dans les annales de la sculpture courent d’aventureuses théories, et ce n’est qu’après la mort de l’artiste que les bustes reçurent leurs bien arbitraires désignations. Aux rangs de celles-ci « l’homme constipé », « l’homme qui pleure comme un enfant » ou encore « le bassoniste incapable » sont sans doute les plus belles et les plus surprenantes.

Une bonne demi-heure plus tard, nous étions de retour dans le métro, en route pour la Bibliothèque Nationale où, ainsi que nous l’avions appris quelques jours auparavant par la Gazette de Francfort, se tenait une exposition en l’honneur de la maison Gallimard. Y étaient présentés entre autres choses : ouvert dans une vitrine, le manuscrit original des « Bienveillantes » de Jonathan Littell, porteur d’annotation d’une impeccable propreté ; et, accrochée sur l’une des cloisons, la lettre écrite le 11 juillet 1921 à Sigmund Freud par Gaston Gallimard, dans laquelle il le prie de bien vouloir donner son accord à la publication française de la « TRAUMDENFUNG » (« celui de vos ouvrages que vous estimez le plus important, n’est-ce pas »).

Ce titre fautif reçut trente ans plus tard sa juste récompense, dans la lettre de William Faulkner à Gaston Gallimard du 14 juin 1951. Le romancier américain y a comme une prescience du style bien particulier de Google Traduction : « Mon excuse [à l’envoi tardif de cette lettre] c’est seulment que j’etais engage completer un roman lequel sera digne, on espois sincerement, de la generosite de votre pardon. » (Rendue en allemand, cette phrase pourrait sonner à peu près ainsi : « Meine Entschuldigung ist bloss dass ich beschaftigt war einen Roman vervollstandigen welcher, man hofft aufrichtig, sich als wurdig erweisen wird der Grosszugigkeit ihres Verzeihens. »)

Ce ton joyeux et bon-enfant est celui de toute l’exposition, qui n’est pas bien grande ; on peut la traverser vite et sans effort, comme déjà Messerschmidt au Louvre. Puis nous sommes partis à la gare Saint-Lazare acheter la Sonntagszeitung, et ensuite au café Rosa Bonheur des Buttes-Chaumont, où nous avions rendez-vous. Et « en fait, c’est tout », comme l’écrivait Daniil Harms.
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 60)

sine loco, 8. März 2011, 18:51 | von Niwoabyl

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

La Capsule in Lille, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Lille
»La Capsule« in der Rue des Trois Molettes.

(Dieser billige Stadtführer mit dem sehr unzuverlässigen Stadtplan, schon wieder ziehen wir durch Vieux Lille und suchen ergebnislos den Zwiebelplatz. »Place aux Oignons« heißt der Ort tatsächlich, und dort bekommt man den allerschönsten Estaminet, den man sich wünschen kann. Kreuz und quer geht der Weg und gehen unsere Diskussionen, auch entlang der Polysemie des Wortes ›oignon‹, und wir fragen uns, ob an unserem Zielort früher eine Art Korso stattfand, bei dem alle Männer im Vorbeigehen feierlich ihre Taschenuhren zückten. Am Ende finden wir doch den Estaminet wieder, aber sie haben kein Bier für uns, man komme da nur abends zum Essen hin, sagt der dienstfertige junge Mann an der Theke und schickt uns um die Ecke in die »Capsule«, und das ist nun also unser Kaffeehaus des Monats Nr. 60.)