Autoren Archiv


Venezianische Bücher

Düsseldorf, 24. Oktober 2017, 11:16 | von Luisa

Weil ich keine Lust auf die neuen Bücher in Frankfurt hatte, fuhr ich nach Köln ins Wallraf-Richartz-Museum, um alte Bücher und ihre Leser anzuschauen, die Tintoretto 1539 gemalt hat. Das Bild ist ungefähr zwei mal drei Meter groß, man sieht einen tempelmäßigen Raum mit dicken Säulen und einer Treppe in der Mitte und links und rechts von der Treppe lauter in Tücher gehüllte Männer. Einige haben ganz normale Bücher aufgeschlagen, wie sie heute noch existieren, andere halten bloß eine Papierrolle, aber drei Bücher sind so groß und schwer, dass nur der junge Mann rechts es schafft, sein Buch im Sitzen zu lesen, die beiden grau gelockten Männer müssen ihre kolossalen Exemplare auf den Boden legen bzw. gegen ein Podest lehnen. Dadurch wirkt das Geschriebene extrem wichtig, obwohl die Buchstaben bloß wie Kringel und Striche aussehen, unentzifferbar, aber vielleicht soll das Hebräisch sein und Tintoretto fehlte die Geduld, es korrekt abzumalen.

Der Tempel ist nämlich der in Jerusalem, und die Männer, ob sie lesen oder nicht, hören alle einem ziemlich schmächtigen, sehr jungen Mann zu, der auf dem Thron sitzt, zu dem die Treppe hinaufführt. Hinter seinem Kopf flammt es, und klar, das ist der zwölfjährige Jesus, der den Schriftgelehrten erklärt, wie es sich mit Gott usw. verhält, er redet ohne Buch, einfach so, mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen. Die Schriftgelehrten schauen in den Büchern nach, was sie gegen seine Reden einwenden könnten, das Bild heißt »Disputa«, aber sie finden natürlich nichts.

Der Mann in Gelb vorne rechts am Podest will gerade eine Seite seines Riesenbuchs umdrehen und wendet den Kopf ab, als könne er nicht ertragen, dass da nichts Ebenbürtiges geschrieben steht. Das Gelb aber ist so herrlich, dass man sich überhaupt nicht mehr für Text und Buch interessiert und genau das drückt das Bild aus. In Büchern, und besonders in den umfangreichen und kaum zu schleppenden, steht ja selten das Passende, vor allem wenn es sich um Gott usw. handelt; meist findet man das, was gerade live zu hören und zu sehen ist, viel interessanter, es geht einen einfach mehr an. Die Zuhörer im Tempel haben noch nicht verstanden, dass es besser wäre, die Bücher mal zuzuklappen.

Ehe also die Gutenberg-Galaxis richtig in Fahrt kommt, hat Tintoretto sie schon niedergemalt. Und mindestens zwei Figuren drücken genau das aus: Ganz nah bei dem redenden Jesus sitzt ein Mann in braunem Tuch, mit einem knallroten Hut auf dem Kopf, wie ihn kein Schriftgelehrter jemals tragen würde. Ein richtig warmes, leuchtendes Rot ist das, nicht dieses fade bläuliche Rosa, das später Tintorettos Markenzeichen wurde. Also der Hutträger sitzt und lauscht und sein Hut spaziert einem ohne Worte direkt ins Herz. Die andere Figur ist die einzige Frau auf dem Bild, eine kräftige Magd in dunklem Blaugrün am linken Bildrand. Sie ist unglaublich groß, ihre Hände hängen lässig herab, und woran sie denkt, ist nicht auszumachen, aber bestimmt nicht an Bücher.

Die Größenunterschiede zwischen den Figurengruppen erinnern ein bisschen an Neo Rauch, aber in gut. Das Bild ist sozusagen das Intro zur Ausstellung »Tintoretto«, frisch renoviert und glänzend beleuchtet hängt es unter den großen Lettern des Malernamens. Für diejenigen, die Drama lieben, ist es bestimmt das schönste Stück, obwohl im nächsten Raum noch ein Palma Vecchio zu sehen ist mit zwei Nymphen im Wald, ganz diskret und ganz still.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 120
Camillo Boito: »Sehnsucht« (1883)

Düsseldorf, 5. August 2017, 18:45 | von Luisa

Der Originaltitel lautet »Senso«, also nicht »Sehnsucht«, denn die Contessa Livia aus Trient schmachtet nicht, sondern nimmt und liebt mit allen Sinnen, wie man sagte, als das Buch erschien (1883), und natürlich liebt sie nicht ihren Ehemann, sondern einen schlanken österreichischen Leutnant in weißer Uniform, weil Oberitalien 1866, als das alles passierte, noch habsburgisch war. Der Untertitel: »Das geheime Tagebuch der Contessa Livia« erklärt, dass die Contessa die ganze Affäre selber aufgeschrieben hat, was sie schon anfangs mit diesem gelungenen Satz zusammenfasst: »Ich bedurfte der Liebe.«

Der Liebste heißt Remigio und ist »feig« und »pervers«, wie die Contessa klar erkennt, aber gerade das usw. Livia ist auf Hochzeitsreise in Venedig und erfrischt sich im Canale Grande in einem speziellen Damenbad, Sirena geheißen, als Remigio unter dem Lattenzaun her in ihre Kabine schwimmt usw., und »nie war ich so gesund und fröhlich und zufrieden mit mir«, stellt sie hinterher fest, aber so kann es naturgemäß nicht bleiben.

Als Visconti 1954 »Senso« verfilmte, hat er die Planschszene weggelassen, weil sein Film eine ganz andere Livia zeigt, eine empfindsame, und Remigio heißt da nicht Remigio, sondern Franz und mit Nachnamen Mahler, aber die Musik ist trotzdem von Bruckner. Und während die Novelle bloß »eine kleine Geschichte« erzählt, wie Bodo Kirchhoff einst im »Spiegel« meinte (trotzdem »eines der Bücher meines Lebens«), ist der Film Großes Kino, also Breitwand, Farbe, zwei Stunden lang und eben komplett Visconti. Dass er zu Recht »Sehnsucht« heißt, liegt an den Kleidern, die Alida Valli trägt, an den bodenlangen Schleppröcken und dem schönsten Nachthemd ever, entworfen von Piero Tosi, der hier für den »Gattopardo« üben durfte und immer noch lebt, und Dank sei ihm.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Camillo Boito: Sehnsucht. Das geheime Tagebuch der Contessa Livia. Novelle. Aus dem Italienischen von Bettina Kienlechner. Mit einem Nachwort von Ursula März. München: dtv 2017. S. 5–83 (= 79 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 115
Botho Strauß: »Herkunft« (2014)

Düsseldorf, 5. Januar 2015, 14:50 | von Luisa

Gleich die ersten Sätze handeln vom Vater, der an seinem Schreibtisch sitzt und schreibt, im zweiten Absatz wird dann gesagt, wie und was er schreibt: »ein ausgefeiltes, zuweilen etwas überschmücktes Deutsch«. Ungefähr klar, was das heißt, aber da mir das zweite Adjektiv noch nie begegnet war, hab ich es mal nachgeschlagen.

Sofort wurde ich mit einem Sehnsuchtsgedicht von Immermann verbunden, in dem ein Jüngling mit einem Mädel auf einer Magerwiese sitzt, welche ihm dann später ganz verwandelt und von »Blüthen-Dolden stattlich überschmückt« im Traum erscheint. Es sind einfach viele Dolden und bedeutet nicht, dass der Schmuck übertrieben wäre. Das illustrieren erst die nächsten Beispiele, die von überschmückten Weihnachtsbäumen handeln und von überschmückten Frauen, die niemand ernst nimmt, wenn sie mehr als fünf Schmuckstücke tragen. Also klar negativ konnotiert, und auf Vater Strauß bezogen heißt das, dass sein Stil ein bisschen zweifelhaft war und der Sohn einem anderen Ideal folgt.

Andererseits hat Botho Strauß nicht den Ruf der Magerwiese, eher würden die Kritiker ihm wohl den Doldenreichtum bescheinigen. Also: wie der Vater, so der Sohn, ein Gefängnisspruch, den der Sohn aber im Verlauf von 90 Seiten komplett ins Positive wendet (»Welche Liebe ist größer als die Liebe dessen, der wiederholt?«), und so dürfte er nichts dagegen haben, wenn auch seine Prosa für »zuweilen etwas« überschmückt gehalten wird.

Andererseits las er als Kind regelmäßig die bekannten Heftchen, Akim, Tarzan, Sigurd usw., sozusagen Magerliteratur. Von Donald-Duck-Heften ist nicht die Rede, aber da gibt es eine Geschichte, in der Donald als Immobilienmakler auftritt und einem reichen Kunden eine Villa schmackhaft machen will. Nach den Windverhältnissen befragt, antwortet er: »Zuweilen ein Gesäusel im Gezweig«, ein schönes Beispiel für »zuweilen« und überschmückt. Goethe und Schiller – Botho Strauß und Erika Fuchs.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Botho Strauß: Herkunft. München: Hanser 2014.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 111
Wsewolod Petrow: »Die Manon Lescaut von Turdej« (1946/2006)

Düsseldorf, 27. April 2014, 10:20 | von Luisa

Ja, dieses herrliche Hin und Her nimmt kein Ende. Pasternak kam zum Studium nach Marburg und übersetzte Rilke, Rilke pilgerte nach Jasnaja Polnaja zu Tolstoi, Thomas Mann schrieb »Goethe und Tolstoi«. Als »Doktor Schiwago« Deutschland erreichte, erschien sofort eine »Schiwago«-Hymne von Friedrich Sieburg in der FAZ: »Es ist ein russischer Pilger, der zu uns kommt«, und seit kurzem pilgern nun die Romane von Gaito Gasdanow zu uns, und eine weitere junge Pilgerin, jedenfalls als deutsche Übersetzung, ist Wsewolod Petrows Erzählung »Die Manon Lescaut von Turdej«, um hier bei uns aus vollem Herzen usw. Volles Herz: russisch-deutsche Spezialität.

Aus dem Grab bzw. der Schublade heraus pilgerte sie jedenfalls direkt in den Erfolg, obwohl ihr Autor lange tot ist und sie selbst eine Fast-Siebzigerin, da 1946 als Manuskript geboren, und eigentlich kam sie auch nicht zu Fuß, sondern mit der Bahn. Denn die Geschichte spielt hauptsächlich in einem Sanitätszug, der Ärzte und Krankenschwestern kreuz und quer durch die Sowjetunion befördert, darunter den Ich-Erzähler, einen Arzt, und eben Manon, eine Krankenschwester, die mit richtigem Namen Vera heißt.

Schon der Titel verspricht schöne Intertextualität, Puccinis Oper klingt im Ohr, und außerdem liest der Arzt Goethes berühmten Briefroman, was die Erwartung verstärkt, dass der Tod am Ende seine traurige Melodie dazu fidelt, schließlich herrscht gerade Zweiter Weltkrieg.

Damals wussten vielleicht alle, was der Erzähler meint, wenn er Vera nicht Vera, sondern »meine Manon« nennt. Die letzte Kinoversion des Prévost-Longsellers erklärte es in der deutschen Fassung sicherheits­halber schon im Titel: »Hemmungslose Manon». »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo« ist aber auch nicht schlecht.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Wsewolod Petrow: Die Manon Lescaut von Turdej. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Stellenkommentar von Olga Martynova. Nachwort von Oleg Jurjew. Bonn: Weidle 2012.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 107
Maurice Blanchot: »Das Todesurteil« (1948)

Düsseldorf, 28. Januar 2014, 19:50 | von Luisa

Unter hundert Hundertseitern muss natürlich auch einer sein, der sich verbirgt. Korrekte Sätze und trotzdem nicht zu entschlüsseln. Seitenlang schildert ein abwechselnd selbstgewisser und zaghafter Ich-Erzähler seine abrupten Begegnungen mit Frauen, und weil der Tod nahe und alles möglich ist (durch Wände gehen, sterben und wieder erwachen), wechselt die Geschichte (aber es gibt eigentlich keine) nach Belieben die Richtung. Doch trotz aller Wirrnis ist es ein sehr nützliches Buch. Es bietet eine Menge Sätze, die als Spickfäden die eigenen alltäglichen Gedanken deutlich upgraden können:

»Was spricht, ist die jetzige Minute und die, die darauf folgt.«

»Das Außerordentliche beginnt in dem Augenblick, wo ich aufhöre. Aber darüber zu sprechen, liegt nicht mehr in meiner Hand.«

»Wenn ich Romane schrieb, entstanden sie dann, wenn die Worte anfingen, vor der Wahrheit zurückzuschrecken.«

»Übrigens sah ich die Unschuld dieses Angebotes durchaus, aber ich sah das gespaltene Herz der Unschuld nicht.«

»Wer hat mich denn geblendet? Meine Klarsicht. Wer hat mich in die Irre geführt? Mein aufrechter Sinn.«

Das Buch erschien zuerst bei Suhrkamp, dann bei Urs Engeler, der auch die Auflagenhöhe hineindruckte: nur 500 Exemplare, erstaunlich. Dabei sind solche récits eine schöne Kurzkur, um von Familienromanen und Historienwälzern zu gesunden. Oder nachdem jemand auf tausend Seiten die Welt erklärt hat. Dann ist so eine Blanchot’sche Betäubung einfach eine Wohltat, vom ersten bis zum letzten Satz.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Maurice Blanchot: Das Todesurteil. Aus dem Französischen von Jürg Laederach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990.

Maurice Blanchot: Das Todesurteil. Aus dem Französischen von Jürg Laederach. Frankfurt/M.: Basel; Weil am Rhein: Engeler 2007.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 10):
»Das Tage-Buch« (1981)

Düsseldorf, 10. Dezember 2013, 08:10 | von Luisa

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 89)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Neulich erzählte FJR in der LW, wie sehr er den Baron de Charlus bewundere, seines unfehlbaren Geschmacks wegen. Wem käme da nicht gleich das ebenso elegante wie unauffällige complet in den Sinn, in dem der Baron in Balbec vor die Leser tritt? Jedoch: »Ein dunkelgrüner Faden im Gewebe des Hosenstoffs war (…) auf das Streifenmuster der Strümpfe mit einem Raffinement abgestimmt, das deutlich eine sonst überall bezähmte Neigung verriet«. Eine eingewebte Enthüllung also, ein dezentes Fadenverrätertum, das Marcel natürlich sofort entdeckte.

Da der Sinn für solche Feinheiten inzwischen ausgestorben ist, konnte FJR bei seinem großen Fernsehauftritt mit Peter Voss bedenkenlos rote Socken tragen. Ob er damit etwas verriet, weiß ich nicht. Die dunkelgrünen, kaschierten Leinenfäden des 78-Seiters »Das Tage-Buch« signalisieren jedenfalls Seriosität, und die ist, im Gegensatz zu FJRs lärmend-losem 938-Seiter »Tagebücher«, tatsächlich die Grundlage dieser kleinen Schrift. »Das Tage-Buch« war eine 1920 gegründete Zeitschrift, deren Herausgeber und Autor Leopold Schwarzschild nach Paris und später in die USA fliehen musste. Schwarzschilds Artikel und Urteile waren klarsichtig, Thomas Mann und andere Schriftsteller publizierten dort, trotzdem ist die Zeitschrift längst nicht so berühmt geworden wie Ossietzkys »Weltbühne«. FJR erinnert an sie, zitiert und huldigt, und dafür soll er gepriesen sein auch dann noch, wenn Socken und Sottisen längst dahin sind.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Das Tage-Buch. Porträt einer Zeitschrift. Königstein (Ts.): Athenäum 1981. S. 3–78 (= 76 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Mein Krüger

Düsseldorf, 11. November 2013, 19:47 | von Luisa

Vor einigen Jahren geriet ich mal wieder in den Borges-Rausch, las ihn mitten im Juli auf dem Balkon, um die argentinische Hitze zu ahnen, dann wieder drinnen, im Dämmer der Jalousien. Borges war lange tot und sehr weit weg, also richtete ich die Begeisterung und Dankbarkeit auf seinen deutschen Verlag und den Verleger. Als ich erfuhr, dass Michael Krüger in die Buchhandlung Müller & Böhm im Heine-Haus kommen würde, um sich mit einem ehemaligen Professor der Kunstakademie zu unterhalten, ging ich sofort hin.

Der Abend war heißer als mancher Mittag, aber ich musste ja nur ein paar Straßen und über den Rhein und noch ein bisschen weiter laufen. Nach ein paar Metern allerdings dachte ich, dass kein Mensch bei dieser Hitze ein Kunstgespräch zwischen einem nicht mehr jungen Verleger und einem alten Professor ertragen könnte. Die werden allein auf dem Podium sitzen, dachte ich, niemand tut sich so einen Unsinn an, jeder trifft Freunde und trinkt und lacht und amüsiert sich, also was hat Borges davon, wenn ich im Heine-Haus unter dem Glasdach sitze und zerfließe?

Andererseits war Michael Krüger extra von München nach Düsseldorf gekommen, um jenem längst emeritierten Professor, dessen Namen ich nicht kannte, einen Gefallen zu tun, und schuldete ich etwa Krüger keinen Gefallen? Also reiß dich zusammen, sagte ich mir, wisch dir die Stirn, halt es aus und sitz mit drei, vier Leuten einfach einen Dank ab, von dem er nichts weiß, und fertig.

So schleppte ich mich über den Rhein in die berühmte Düsseldorfer Altstadt, die ja bis an den Fluss reicht und wo an Sommerabenden ein fürchterliches Gedränge herrscht. Dazu Frittendampf, Bierdunst, Bässe, Gejohle, Geschrei. Dass Heine hier zur Welt kam, ist seine Rache.

Kurz vor dem Ziel blieb ich dann in der Menge stecken, bloß um festzustellen, dass die Leute um mich herum weder johlten noch tranken, vielmehr nervös auf den Zehen wippten und die Hälse verrenkten. Kriegen wir noch Karten?, tuschelten sie. Ich komm extra aus Korschenbroich! Das ist doch nicht ausverkauft? Nicht im Ernst, an so einem Abend, in Düsseldorf? Was, ausverkauft? Wirklich??

Ich wage hier mal die These, dass in einem Monat, wenn Michael Krüger 70 wird, jeder deutsche Leser auf mindestens eine Krüger-Begegnung zurückblicken kann. Oder auf eine Nicht-Begegnung. Damals waren die Leute übrigens nicht des großen Michael wegen angereist. Sie wollten den kleinen Fritz Schwegler sehen.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 82
Magnus Florin: »Der Garten« (1995)

Düsseldorf, 14. Oktober 2013, 19:47 | von Luisa

Ziemlich früh am Mittwochmorgen, während die Buchmesse gerade öffnete, begann ich die in den letzten Tagen gesammelten Buchmessebeilagen der Zeitungen zu lesen, ordentlich der Reihe nach, und bis zum Frühstück hatte ich schon elf Rezensionen geschafft. Nach Kaffee und Cronuts ging es weiter, Seite um Seite, Text um Text, Buch um Buch. Mittags war ich dann fertig, doch immer noch unruhig und hungrig. Einen kurzen, störrischen Text hätte ich mir jetzt gewünscht über ein kurzes, störrisches, aber nicht zu störrisches Buch, das mir auf seltsame Weise eine Gegend zeigte, die ich nicht kannte, bewohnt von Menschen, die mir ganz fremd waren. Von Plänen und Ereignissen sollte die Rede sein, die mich nicht interessierten und eine Zeit betrafen, die längst vorbei war und unerreichbar. Durch solch ein Buch wollte ich mich Satz für Satz hangeln, ganz gemächlich, und nach jedem Punkt eine Pause machen und durchatmen und wieder weiter lesen.

Kurze Sätze zum Beispiel: »Die Tage vergehen. Herbst. Der Geruch rostiger Nägel in der morgendlichen Kälte.«

Aber auch lange: »Es sind Gerüchte, die bis nach Tjocksta, Vallby, Sävja, Krisslinge, Edeby, Söderby und Ängeby in der Gemeinde Danmark im Bezirk Vaksala gedrungen sind, bis zu Höfen der Gemeinde Funbo im Bezirk Rasbo und bis nach Kasby und Marma in der Gemeinde Lagga im Bezirk Långhundra.«

Und mittellange: »Dunkles Licht, dumpfer Klang, viele Ahnungen, nichts geschieht offen, ein träges Warten, ein Gefühl von Drohungen und Versprechen, vermischt.«

Das würde mir wirklich gefallen.

Die Gegend ist Hammarby in Schweden, die Zeit ist das 18. Jahrhun­dert, die Personen sind Carl von Linné, sein Gärtner, seine Schüler, ein Kutscher, ein Knecht und noch andere. Geschrieben wurde das Buch 1995, ins Deutsche übersetzt 2012, verlegt 2013. Zwischen seinen kurzen Absätzen ist viel Raum.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Magnus Florin: Der Garten. Aus dem Schwedischen übersetzt und mit einem Nachwort von Benedikt Grabinski. Berlin: Edition Rugerup 2013.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 75
Martin Walser: »Ein fliehendes Pferd« (1978)

Düsseldorf, 9. August 2013, 08:12 | von Luisa

Irgendwann wollte ich mal ein Buch von Walser lesen und weil Kritiker geschworen hatten, dass »Ein fliehendes Pferd« sein bestes sei und ewig bleiben werde, kaufte ich das. Es hatte bloß 151 Seiten, ein klarer Vorzug, und nach der Lektüre habe ich dann guten Gewissens mit Walser abgeschlossen und jedes Jahr den neuen Walser an mir vorbei ziehen lassen, bis es mich jetzt zum ersten Mal an den Bodensee verschlug, nach Wasserburg. Dort hat der Arzt, mit dem ich reiste, als Kind sehr eindrucksvolle Ferien verbracht, auf dem Grundstück des berühmten Professors Felix Hoppe-Seyler, der gegen 1860 die Physiologische Chemie erfand und sich direkt am See ein großes Haus hingebaut hatte, das lange in der Familie blieb. Zu beiden Seiten des Grundstücktors pflanzte er Mammutbäume, die nach und nach so riesig wurden, wie der Name versprach.

Während der Arzt mit dem Fahrrad in Wasserburg herum fuhr, um die Bäume zu finden, habe ich »Ein springender Brunnen« zu lesen begonnen. Darin fand ich die Mammutbäume schon auf Seite 20, denn der kleine Martin Walser, der im Buch Johann heißt, trifft einen Wanderfotografen, der ihn genau vor die Hoppe-Seyler-Gartenmauer dirigiert und ein Foto von ihm und den Mammutbäumen macht. Gleich auf der nächsten Seite erscheint dann auch das alte Fräulein Hoppe-Seyler, die Tochter des Professors, die sich jedes Jahr vom Gastwirt und Kohlenhändler Walser die Briketts liefern lässt, zehn, zwölf Zentner, mit dem Handwagen herangeschoben, und der kleine Martin muss schieben helfen. Da geht er dann natürlich jedes Mal staunend zwischen den Mammutbäumen durch, von denen manche Wasserburger behaupten, sie stammen aus Kalifornien, andere dagegen, der Professor habe sie aus Sumatra mitgebracht, und der kleine Martin überlegt, wem er glauben soll.

Als ich gerade mit dem zweiten Kapitel fertig bin, kommt der Arzt zurück und hat die Bäume gefunden. Sie anzuschauen ist wunderbar, ihnen im Buch zu begegnen auch, aber noch wunderbarer ist es, von Helmer Gierers Hermine zu lesen, die »ohne sich etwas zu vergeben« bei Fräulein Hoppe-Seyler putzt. Ihrer Meinung nach stammen die Bäume aus Sumatra und fertig. Einmal ist das Fräulein Hoppe-Seyler nicht daheim, als die Briketts angefahren werden, und da kümmert sich natürlich Helmer Gierers Hermine darum. Vorsichtig, damit sie nicht brechen und es möglichst wenig staubt, müssen die Walsers sie in die Kelleröffnung schütten, deshalb ruft Hermine hofele-hofele aus dem Keller herauf, das heißt sachte-sachte.

Dieses hofele-hofele gefiel mir so gut, dass ich, wieder zuhause, »Ein fliehendes Pferd« aus dem Regal zog und ein bisschen darin blätterte, und ja, zweifellos, das Pferd mag rennen, wie es will, hinter hofele-hofele bleibt es ewig zurück.

Länge des Buches: ca. 169.000 Zeichen. – Ausgaben:

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


John Wayne

Düsseldorf, 28. November 2012, 23:36 | von Luisa

Gestern kaufte ich ein kleines blaues Buch, das aussah wie ein Taschenkalender. »Wunderhorn Almanach Träume« stand darauf. Schon das Vorsatzpapier gefiel mir, es zeigte als Muster viele Male das Logo des Wunderhorn-Verlags, welches ja das schönste deutsche Verlagslogo überhaupt ist.

Zuhause fing ich dann an zu blättern und sah, dass das Kalendarium nicht das nächste Jahr abbildet, sondern ein »immerwährendes« ist, was ich natürlich sehr gut fand. Was spielt es für eine Rolle, ob, sagen wir, der 31. Januar auf einen Dienstag oder Freitag fällt. Die Haupt­sache ist doch, dass es ihn überhaupt gibt.

So folgen auf den Kalenderseiten einander bloß die Nummern der Tage, begleitet vom Namen einer Dichterin oder eines Dichters, die/der an diesem Tag geboren wurde. Ich habe natürlich gleich nachgekuckt, ob Goethe drinsteht und tatsächlich, da steht er, ganz korrekt. Und wer hat mit mir Geburtstag? Und wer mit Jan und Daniel und Charlotte usw.? Schließlich blätterte ich das ganze Kalendarium von Anfang an durch. Jeder Tag hat seine(n) Dichter(in), das ist doch irgendwie beruhigend.

Unter dem 26. Mai aber steht da »John Wayne 1907«. Ein Zeitgenosse von Faulkner und Hemingway also, ein wenig bekannter Lyriker vielleicht. Und wann genau wurde noch mal sein Namensvetter, der berühmte John Wayne geboren?

Später grübelte ich, was wohl dem Duke diesen Auftritt in einem so anmutigen, verwunschenen Büchlein verschafft hatte. Schrieb er seine Träume auf? Hatte er überhaupt welche? War es das schicksals­schwere »Der Tag wird kommen« aus »The Searchers«? Oder eher die Drohung »Ich werde aus der Bibel lesen«?

Aber nein. Man muss nur das Verlagslogo ansehen. Da reitet der Knabe und schwenkt das Wunderhorn. Sein Pferd galoppiert, sein Umhang flattert. Kavallerie.