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Ostertag crosst GÖttke

Berlin, 7. Oktober 2014, 18:07 | von Göttke

Als ich letztens durch die Straßen ging, sah ich ein astreines GÖttke-Bombing an einer der zahllosen Berliner Hauswände. Selbst wenn es nicht GÖttke meinte, sah es doch, jedenfalls für mich, schwer danach aus. Ich hatte gleich ein beschwingtes Gefühl, ganz so wie der Schriftsteller HIPOLITO in »Le fabuleux destin d’Amélie Poulain«, als er nahezu am Ende des Films an einer Hauswand seine Worte liest: »Sans toi, les émotions d’aujourd’hui ne seraient que la peau morte des émotions d’autrefois.«

Endlich hat man mich erkannt, dachte ich, endlich. Und dachte weiter: GÖttke, GÖttke! Nur vier Umblätterer-Artikel und schon an der Hauswand. Sofort erzählte ich es meiner ganzen Familie und die ist groß, was auch sonst. Sogar Josik rief ich an und die Verbindung war nicht so gut (Kosovo).

Doch dann wurde ich traurig. Mir fiel auf, dass viel zu wenig Menschen die GÖttkeraner Verbindung zwischen Berliner Hauswand und Umblätterer-Homepage ziehen würden, trotz diverser offensichtlicher Überschneidungen. Doch noch mehr verstörte mich die Ungewissheit: Wer steckt hinter GÖttke? Monatelang strich ich durch die Straßen, doch es kamen keine neuen GÖttkes dazu. Ich lief sogar, wie ich es aus Büchern gelernt hatte, um dreiviertel zehn gegen die GÖttke-Wand, doch nichts passierte.

Als dann auch noch Deutschlandradio Kultur den Hamburger S-Bahn-Tod von OZ verlas, verlor ich endgültig die Lust an der Hauswand, nahm mutlos eine nicht aktuelle FAS zur Hand und blieb an der Überschrift »Ich bin der Troll« mitsamt der Fotografie von und dem dazugehörigen Artikel über Uwe Ostertag hängen. Ich dachte: Toll, endlich ein Gesicht.

Dass Ostertag nicht grade das war, was man einen Menschenfreund nennt, verschreckte mich kaum und so fasste ich den Entschluss, meine beiden Lieblingssätze aus diesem Interview über das GÖttke sprühen zu lassen: »Provozieren, das ist wie ein Orgasmus. (…) Wenn sich jetzt jemand aufregt, dann ist das mein Ejakulat.« So.
 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 23):
»Nizza – mon amour« (2010)

Berlin, 23. Dezember 2013, 08:10 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 102)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich gestern Abend bei IKEA an der Kasse stand, rannte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit französischem Zopf spontan und schnell auf ihren kleineren Bruder zu. »Ich schneck‘ dich jetzt ab!«, rief sie dabei zwei Mal. Während der kleine Junge durch die Luft flog, zauberte mir das »schneck‘ dich jetzt ab« ein Lächeln auf mein genervtes Kassen-Ansteh-Gesicht. Denn, das bringen die Fritz-J.-Raddatz-Festwochen nun einmal mit sich, mir fiel das Radiointerview zwischen Denis Scheck und Fritz J. Raddatz ein, gesendet am 30. August 2011 um 16:10 Uhr im Deutschlandfunk.

Befragt nach seiner schrecklichen Kindheit, antwortete Fritz J. Raddatz da, dass er sich »in fremde, andere Welten, in Gebäude, in Seele und Geist hineinschnecken« könne. »Wie ein Wurm sich in den Apfel hinein bohrt.« Leider weist Denis Scheck sogleich harsch und unterbrecherisch auf Raddatz‘ stellvertretende Verlagsleitertätigkeit mit Anfang 20 hin und lässt ihn das Bild vom »Sich-Hinein-Schnecken« und »Sich-Hinein-Bohren« nicht superlativisch zu Ende ausführen.

Nun gut. Auf nach Nizza. Ab in Raddatz‘ Winter-Cocoon, ins Schmetterlingsmuseum (S. 15), ins Chagall-Museum (S. 17), ins Hotel »Negresco« (S. 21). »Dabei bietet Nizza dem mußevollen Flaneur so unendlich viel Schönes, jene ›Verzückungsspitze der Welt‹«. (S. 26) »Schließlich ist die Stadt ihr eigenes Freilichtmuseum, öffnet dem Bummelnden immer neue Perspektiven.« (S. 89)

Nizza ist so ganz anders als IKEA. Und während ich mich nun in mein aufgewärmtes Essen von gestern wühle, denke ich, wie viel ugandische Schule sich wohl aus diesem schwedischen Hackklöpschen ergäbe, wenn an Raddatz‘ nizzardischer Rechenfrage: »1 Auster weniger = 4 Wochen Schule für ein Kind in Uganda« (S. 59) etwas dran wäre.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Nizza – mon amour. Zürich; Hamburg: Arche 2010. S. 3–118 (= 116 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 20):
»Ich habe dich anders gedacht« (2001)

Berlin, 20. Dezember 2013, 08:05 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 99)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Ich bin auf dem Weg ins LWL-Museum für Naturkunde in Münster, als ich Fritz J. Raddatz‘ »Ich habe dich anders gedacht« auslese. Am Stadtrand von Münster angelangt, betrete ich die Sonderausstellung »Sex und Evolution«, die es ebenso in sich hat wie Raddatz‘ Erzählung. Ich sehe sich paarende Igel, einen Enten-Gangbang mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang fürs Weibchen und einen halbseiten-hermaphroditischen Falter, der, genau in der Mitte geteilt, auf der einen Seite männlich und der anderen Seite weiblich ist. Den stärksten Eindruck auf mich machen jedoch die Delfine. Viele Minuten lang starre ich auf das männliche Delfinpärchen mit Genital und Blasloch über mir an der Decke.

Mein ponyhofhafter Mädchentraum zerplatzt endgültig, als mich einer der beiden mit tiefer männlicher Stimme wie folgt anspricht:

Delfin: »Träumst Du?« (S. 21)
Ich: »Ich bin eine dumme Eule« (S. 21), »ich wußte ja nichts von diesem (…) Unsinn.« (S. 61)
Delfin: »Du bist jetzt kein Kind mehr, ich muß mit dir sprechen.« (S. 61) »Ich bewundere den glatten, unbehaarten, muskulösen Körper des kleinen Mannes, er verdrängt den gemütlichen Teddy Onkel Sami aus meiner Sehnsucht.« (S. 49)
Ich: »Schluß. Es ist genug. Ich habe dich anders gedacht.« (S. 60)
Delfin: »Erwachsenwerden ist nicht mehr Spiel. Und um zu beweisen, daß wir Freunde sind, trinke ich den Weinbrand und rauche die Zigarette.« (S. 86) Denn: »Fleiß, Kameradschaft, Verantwortungsfreude – das ist das Geheimnis« (S. 81).

Zurück im Zug habe ich noch lange den Geschmack von Weinbrand und Zigarette im Mund.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Zürich; Hamburg: Arche 2001. S. 5–110 (= 106 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Berlin: List 2004.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 78
Lewis Carroll: »Alice im Wunderland« (1865)

Berlin, 20. September 2013, 10:16 | von Göttke

Als ich mich letztens wieder einmal auf der Homepage des Fachbereiches Soziologie der Universität Trier herum trieb, entdeckte ich ein Zitat:

»Könntest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier aus nehmen soll?« , fragte Alice auf ihrem Weg durch das Wunderland die Katze. Worauf die Katze antwortete: »Das hängt von einem guten Teil davon ab, wohin du willst.« Ach darüber mache ich mir keine besonderen Gedanken« sagte Alice. Die Katze antwortete: »Dann ist es auch egal, welchen Weg du weitergehst.«

Keine Angabe über die Ausgabe, aus der zitiert wurde. Ich setzte sofort eine E-Mail an den PD Dr. Waldemar Vogelgesang auf und bat ihn um einen Quellenhinweis. Mir war der Wortlaut ein wenig anders, doch ebenfalls deutsch in Erinnerung, und so schlug ich in der Insel-Ausgabe nach, Seite 67:

»Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll? (…) Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest«, sagte die Katze. »Ach, wohin ist mir eigentlich gleich –«, sagte Alice. »Dann ist es auch egal, wie du weitergehst«, sagte die Katze.

Als ich dann etwas später meinen Müll runter brachte, vernahm ich folgende Gesprächsfetzen, die, mir unvergesslich, über den Hinterhof schallten:

»Übrigens, was ist aus dem Baby geworden? (…) Fast hätte ich vergessen, danach zu fragen.«
»Es hat sich in ein Ferkel verwandelt.« (…)
»Das hab ich mir gleich gedacht.« (Insel-Ausgabe, Seite 68)

Dieser Wortwechsel beeindruckte mich derart, dass ich ihn unbedingt auf meine Homepage schreiben will, sollte ich jemals an einem Soziologie-Lehrstuhl der Uni Trier arbeiten. Vor Begeisterung merkte ich dann zurück am Bildschirm erst gar nicht, dass Dr. Vogelgesang inzwischen geantwortet hatte, so pfeilschnell und sympathisch, dass ich mich fast für meine freche, lahme Anfrage schämte. Die »Alice«-Zeilen seien seine eigene kleine Übersetzung, schrieb er, und das leuchtete mir trotz der über 30 vollständigen deutschen Übertragungen sofort ein und ich machte mich an die Arbeit:

»Hey, watt is’n aus (sic!) den Kleen jewordn?« fragte die Katze. »Fast hätt ick fajessn zu fragn.«
»Er is’n kleenet Ferkel jewordn«, antwortete Alice, gerade als wie wenn die Katze auf ganz jewöhnliche Weise zurückgekomm wär.
»Hab icks mir doch jedacht«, sagte die Katze und verschwand wieder.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen (engl.), ca. 151.000 Zeichen (dt. Erstübersetzung von Antonie Zimmermann, 1869). – Ausgaben:

Lewis Carroll: Alices Abenteuer im Wunderland. Mit Bildern von Jonathan Wolstenholme. Nach der ersten dt. Übers. von Antonie Zimmermann. Getreu & behutsam erneuert von Gerd Haffmans. Leipzig: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins 2012.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 4):
»Zimzum« (1997)

Berlin, 11. April 2013, 09:20 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 58)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich die Pan Am Lounge am Mittwochabend verließ, sah ich vor dem Europa-Center Philipp Rösler in seinen Mercedes steigen. Mir fiel wie so oft in letzter Zeit ein Satz aus Ulla Berkéwiczs »Zimzum« ein: »Timing ist alles« (S. 18). Den sich daran anschließenden Satz »Ärzte sind musikalisch wie Juristen« (S. 37) schüttelte ich ab und wurde unterdessen beinahe von einem Radfahrer mit Megaphon und Trillerpfeife überfahren.

Er brüllte mir ein megaphones »Tot, tot« »Platt, Platt« (S. 56 und 57) entgegen und schien mein etwas klägliches »Und dann und dann.« (S. 28) gar nicht wahrzunehmen. Perplex blieb ich stehen und begriff, während mir ein Kind ins Bein biss und türmte (vgl. S. 57), dass ich diese Berkéwicz’schen Satzfetzen loswerden müsse, da sie sonst noch meine gesamte Hundertseiterbesprechung viel zu unorthodox »zuerinnern« würden (vgl. S. 118):

»Er (…) hat alle Dinge aus dem Nichts gemacht, und dasselbe Nichts ist Er selber, und wo Er selber nicht mehr ist, weil Er sich von sich selber auf sich selbst zurückgezogen hat, sind wir. Er (…) hat den Zimzum gemacht, Er hat sich in sich selbst verschränkt, um Raum für uns zu machen, Leerraum.« (S. 104)

Mit diesen Worten erklärt die im Sterben liegende Großmutter der Erzählerin Berkéwiczs Buchtitel. Der »Leerraum« und das »Nichts« werden von der Erzählerin mit und an ihren drei Freundinnen (rothaarige Tänzerin, Kopf zuckende Schauspielerin, Journalistin/Lieblingsfreundin) und drei Freunden (Arzt, Regisseur/Lieblingsfreund, Physiker) im Urlaub eingehend erläutert:

»Da ist nichts, sagt die Freundin, sieht einen an und hält sich den Kopf.
Nur Mangel, sagt der Lieblingsfreund, sieht einen an und stöhnt.
Heiße Materie, durch Implosion in Nichts verpufft, sagt der Physikfreund und stöhnt mit.
Quod erat demonstrandum, sagt der Arztfreund und stößt einem in die Weichteile.
Vorsicht, fährt der Physikfreund dazwischen, die Leere ist neutral, ein Fitz zuviel Materie, und sie verzerrt sich, ein Fatz zuviel Antimaterie, und sie bricht zusammen.
Das Vakuum beginnt zu schmelzen, ruft die Lieblingsfreundin von der Stuhlkante.
Schmilzt, stöhnt der Lieblingsfreund.
Und was, um Gotteswillen, bleibt uns noch, fragt die Freundin und hält sich den Kopf.
Ein Sommerloch, sagt die Rothaarige und starrt aufs Meer.« (S. 53f.)

In »Zimzum« geht es um alles und »[t]odsicher ist nur Zyankali mit Mundschuß« (S. 78).

Länge des Buches: ca. 108.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Zimzum. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. S. 5–122 (= 118 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)