Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 4):
»Zimzum« (1997)

Berlin, 11. April 2013, 09:20 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 58)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich die Pan Am Lounge am Mittwochabend verließ, sah ich vor dem Europa-Center Philipp Rösler in seinen Mercedes steigen. Mir fiel wie so oft in letzter Zeit ein Satz aus Ulla Berkéwiczs »Zimzum« ein: »Timing ist alles« (S. 18). Den sich daran anschließenden Satz »Ärzte sind musikalisch wie Juristen« (S. 37) schüttelte ich ab und wurde unterdessen beinahe von einem Radfahrer mit Megaphon und Trillerpfeife überfahren.

Er brüllte mir ein megaphones »Tot, tot« »Platt, Platt« (S. 56 und 57) entgegen und schien mein etwas klägliches »Und dann und dann.« (S. 28) gar nicht wahrzunehmen. Perplex blieb ich stehen und begriff, während mir ein Kind ins Bein biss und türmte (vgl. S. 57), dass ich diese Berkéwicz’schen Satzfetzen loswerden müsse, da sie sonst noch meine gesamte Hundertseiterbesprechung viel zu unorthodox »zuerinnern« würden (vgl. S. 118):

»Er (…) hat alle Dinge aus dem Nichts gemacht, und dasselbe Nichts ist Er selber, und wo Er selber nicht mehr ist, weil Er sich von sich selber auf sich selbst zurückgezogen hat, sind wir. Er (…) hat den Zimzum gemacht, Er hat sich in sich selbst verschränkt, um Raum für uns zu machen, Leerraum.« (S. 104)

Mit diesen Worten erklärt die im Sterben liegende Großmutter der Erzählerin Berkéwiczs Buchtitel. Der »Leerraum« und das »Nichts« werden von der Erzählerin mit und an ihren drei Freundinnen (rothaarige Tänzerin, Kopf zuckende Schauspielerin, Journalistin/Lieblingsfreundin) und drei Freunden (Arzt, Regisseur/Lieblingsfreund, Physiker) im Urlaub eingehend erläutert:

»Da ist nichts, sagt die Freundin, sieht einen an und hält sich den Kopf.
Nur Mangel, sagt der Lieblingsfreund, sieht einen an und stöhnt.
Heiße Materie, durch Implosion in Nichts verpufft, sagt der Physikfreund und stöhnt mit.
Quod erat demonstrandum, sagt der Arztfreund und stößt einem in die Weichteile.
Vorsicht, fährt der Physikfreund dazwischen, die Leere ist neutral, ein Fitz zuviel Materie, und sie verzerrt sich, ein Fatz zuviel Antimaterie, und sie bricht zusammen.
Das Vakuum beginnt zu schmelzen, ruft die Lieblingsfreundin von der Stuhlkante.
Schmilzt, stöhnt der Lieblingsfreund.
Und was, um Gotteswillen, bleibt uns noch, fragt die Freundin und hält sich den Kopf.
Ein Sommerloch, sagt die Rothaarige und starrt aufs Meer.« (S. 53f.)

In »Zimzum« geht es um alles und »[t]odsicher ist nur Zyankali mit Mundschuß« (S. 78).

Länge des Buches: ca. 108.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Zimzum. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. S. 5–122 (= 118 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

3 Reaktionen zu “Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 4):
»Zimzum« (1997)”

  1. Fritz

    Da bin ich so neidisch, das ich grün und blau platzen könnte, lockere 115.000 Zeichen, und die dünne Brühe ist so ungebremst herunterzuschreiben, das geht in ein bis zwei Wochen, keine Widerstände, weder stoppen Gedanken noch Formulierungen den Schreibprozess, einfach in den Garten setzen, Zigarette, Kaffee, zoooooom und fertig, feierlich abschicken, gratuliert bekommen, hochheilig lektoriert bekommen, Unseld schreibt persönlich, „ein wichtiges Buch“, Vorschuss, in den Druck und – hehe- Suhrkamp-Autorin sein. Das Literatisieren kann so schön sein, wenn einen nichts bremst, dann kann aus Nichts ausnahmsweise doch Etwas werden.

  2. GT

    Man muss aber so schön sein wie Ulla damals war, nicht einfach. Und das Etwas bleibt natürlich trotzdem Nichts.

  3. johannes

    umso mehr wundert es mich, dass die umblätterer aus solchem nichts eine ganze festwoche aufschäumen.

    ist das so eine art popzynismus?

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