Best of Feuilleton 2014

Der Goldene Maulwurf

Der Goldene Maulwurf 2014
Die 10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres
*10. und letzter Jahrgang*

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(Vorwort und Kommentare hier.)

Inhalt: Erster Weltkrieg, Negativzins, Gangsta-Rap, Lindenstraße, Lyri­kerinterview, Schirrmacher, Muttermuster, Hiddensee, Matussek, Raddatz

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1. Edwin Baumgartner

Späte Kriegsgewinnler. In: Wiener Zeitung, 23. 5. 2014. S. 25.

Der Journalist und Komponist Edwin Baumgartner ist eine Lichtgestalt, man könnte im Prinzip jeden seiner Artikel prämieren. (Etwa auch den Anti-Historienroman-Artikel vom letzten Januar, in dem er befindet, die historischen Romane von Bertolt Brecht, Thomas Mann und Thornton Wilder seien gar keine historischen Romane, weil sie »für eine Verfilmung mit Brad Pitt und Angelina Jolie eher nicht in Frage« kommen – super!) Aber dieser Artikel vom Mai sticht dann doch absolut heraus. Edwin Baumgartner rechnet ohne Erbarmen mit jener Publizistik ab, die uns 2014 bis obenhin mit Weltkriegsgedenkkunstgewerbsartikeln zugemüllt hat. Buchverlage bezeichnet er, weil sie vom Weltkriegsjubiläumshype leben, als schamlose Kriegsgewinnler – wow! Den Gang der Geschichte fasst Baumgartner bündig zusammen: »Franz Ferdinand erschossen, Österreich rächt sich mit Bündnispartner Deutschland als Beistand, funktioniert aber nicht, Millionen Tote, Friede in Versailles 1918. Aber das wird ausgewalzt auf Tausenden und Abertausenden Seiten.« Die Übersättigung wird in eingängige Bilder gefasst: »Nach zehn Tafeln Schokolade will man keine elfte mehr, selbst dann nicht, wenn die zehn von Milka waren und die elfte von Zotter wäre. Wobei der Erste Weltkrieg gewiss keine Tafel Schokolade ist, zugegeben.« »Fisch schmeckt gut, Erdbeermarmelade schmeckt gut, wie gut schmeckt erst Fisch mit Erdbeermarmelade!« Das ist der ganz unnachahmliche Stil eines metanaiven Avantgardeästheten, und man kriegt nicht genug davon. Lustigerweise ist natürlich auch Baumgartner selbst ein später Kriegsgewinnler: Der Riesenremasuri ist seine Feuilletonistendividende. Selten macht Zeitung heute noch so viel Spaß. Also auf, Leute, lest Edwin Baumgartner, immer wieder und wieder!

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2. Thea Dorn

Reichtum ist ein seltener Gast. In: Handelsblatt, 21. 11. 2014, S. 64f. (nicht im Original online, englische Version hier)

Seit die »Financial Times Deutschland« samt ihrem hervorragenden Feuilleton implodiert ist, bleibt uns bloß noch das ausgiebige Studium der Wochenendbeilage des »Handelsblatts«. Und genau darin stand die zweitbedeutendste feuilletonistische Analyse des Jahres! Kurz nach dem Buß- und Bettag erschütterte uns dieser Artikel aus der Edelfeder von Thea Dorn bis ins Mark. Es geht um das superzeitgemäße und uns alle (ob als Profiteure oder als Opfer) betreffende Thema Geldschmelze. Als Thea Dorn zum ersten Mal davon hörte, dass die Banken einen Negativzins kassieren wollen, sei, so schreibt sie, ihr erster Gedanke gewesen: »Das gibt Revolution.« Warum es Revolution in deutschen Landen dann doch nicht gab und wohl niemals geben wird, erklärt sie anschließend voller Entrüstung und Erkenntnis mit Wolfgang Schäuble, Hans Sachs, Martin Luther, Katharina von Bora, Andreas Gryphius, Leichenbergen, August Hermann Francke, Friedrich Wilhelm I., Heinrich Gottlob von Justi, dem thüringischen Volksschriftsteller Rudolph Zacharias Becker, der Nazizeit, Stangenspargel, Schmeckbrätel, Rosenkohl und der MDR-Reportage einer »Klima-Kommissarin«. Es ist einfach sensationell, wie Thea Dorn, um ihre anfangs eher halbgar anmutende These zu illustrieren, Beispiel an Beispiel an Beispiel an Beispiel an Beispiel reiht, wie sie ihr eines Argument gerade dadurch immer unanfechtbarer macht und wie sie dergestalt auf eine supramimetische Art sich selbst zum stilistischen Beweis in Sachen deutscher Sparwut formt. Vor allem die phänomenale Vision eines Soldatenkönigs, der wutschnaubend die heutigen Latte-Macchiato-Trinker in Berlin mit der Gerte vertreibt, geht einem nicht mehr aus dem Kopf, wenn man sie einmal gelesen hat. Die Miene des Amerikaners, so erfahren wir schließlich, leuchte, wenn er »impossible is nothing« sagt. Jeder Nichtamerikaner wird aber sofort zustimmen: Mehr Feuilleton, weniger Schnickschnack in nur ca. 11.557 Zeichen is impossible!

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3. Frédéric Schwilden

Gangsta-Rap schützt nicht vor Altersarmut. In: Die Welt, 20. 11. 2014. S. 21.

Die Rapperei als »Berufsstand« zu bezeichnen, schon mal gut! Jemanden dann als »süß« und »bisschen pummelig« (bei immerhin »stahlblauen Augen«) hinzustellen, na ja, bei DSDS wäre das Fremdbewertungsalltag. Und wenn man schließlich Rapper und Zeitungsredakteure als unisono krisengebeutelt auf eine Stufe stellt, könnte man eher einen versöhnlichen Artikel erwarten. So ging das aber nicht, damals im November. Sondern so: Fler a.k.a. Frank White hatte aus Gründen der Street Credibility sein polizeiliches Führungszeugnis auf Facebook gepostet. Frédéric Schwilden hat aus den dort anlässlich einer Geldstrafe angegebenen Tagessätzen zusammengerechnet: »Das Gericht geht von einem Monatsgehalt von 1200 Euro aus.« Daraufhin singt er, ein bisschen wie damals Victor Hugo, ein Lied auf die Armut des Otto-Normal-Rappers heutzutage. Er benennt die Straße, in der Fler laut Führungszeugnis gemeldet ist, und er errechnet, dass diese 20 Kilometer vom Grill Royal entfernt sei. Alles also ein bisschen sehr herablassend, und das ist dann auch keine Glosse mehr, sondern ein astreiner Diss. Genau so nahm es Fler auch entgegen. Es ergab sich zunächst eine durchaus schöne Twitter-Konversation, bis Fler die Adresse des Autors raussuchte und im Einklang mit einigen Fans gefährliche Hausbesuche insinuierte. Dieses Verhalten wurde dann von, wie Handke sagen würde, dem »Bild« und sinngemäß auch von anderen Medien als »unfler« gebrandmarkt. Aber es war auch schlau vorausgesehen von Fler, denn jetzt bekam er solche Schlagzeilen: »Fler gegen die Welt«. Oder: »Wie der Rapper Fler die Welt bedroht«. Street Creds ohne Ende! Solche Schlagzeilen kriegen nicht mal die Rapper vom Islamischen Staat. Und über seinen neuen Battle-Rap-Kollegen postete Fler etwas gnatzig, aber kultiviert hochfranzösisch mit einem Leerzeichen vor dem point d’exclamation: »Jetzt ist Freddy ein Star !« Und das stimmt einfach mal.

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4. Jan Wiele

Die beste Serie von allen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 2. 2014. S. 35.

Es scheint ja derzeit Konsens zu sein, dass man gar keine Romane mehr lesen muss, weil es doch amerikanische TV-Serien gibt. Im Umfeld dieses schlimmen Blödsinns ist Jan Wieles Mindfuck-Artikel über die seit 1985 laufende ARD-Sonntagsserie »Lindenstraße« anzusiedeln. Dass sie die eventuell beste, mindestens aber interessanteste Serie der Welt sein soll, das ist nicht nur originell, sondern entspricht vermutlich auch noch der Wahrheit. Schon inhaltlich: Atomunfall, Terroranschlag (»verhindert von Andy Zenker«), Fliegerbombe! Wieso gilt die »Lindenstraße« eigentlich als dröge und vermufft? Über diese noch unbeschriebene Fallacy sollte sich auch Rolf Dobelli mal Gedanken machen! Fürs Web haben sie Wieles Artikel dann die Überschrift »Wer braucht Don Draper, wenn es Momo gibt?« gegeben, ein Zitat aus dem Text, und ein geniales. Nicht nur wenn man knapp sieben Staffeln »Mad Men« hinter sich hat. Dort wird ja das Leben des stillen Don derb ausgewalkt, obwohl nicht so viel passiert ist, nicht im Vergleich zu Momo Sperlings unglaublicher Vita. Jan Wiele rekapituliert das alles ausführlicher, also bitte dort nachlesen, überhaupt ist seine Hommage nebenbei ein gelungener geschichtlicher Kürzestabriss, in dem auch die unvergessenen Figuren Zorro Pichelsteiner und Enrico Pavarotti einen Gastauftritt haben. Und wenn wir Jan Wiele nun mit der Frage konfrontieren: Wieso haben Sie ERST JETZT diesen lange fälligen und epochalen Artikel geschrieben??? – – – dann werden im nächsten Moment die Schicksalsgeigen des berühmtesten deutschen Cliffhangers anheben (didel-didel-didel-didel-didel-didel) und the answer, my friend, muss bis nächste Woche warten.

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5. Sabine Vogel

Notwendiger Ausdruck. In: Frankfurter Rundschau, 19. 3. 2014. S. 32.

Yahya Hassan, Jahrgang 1995, ist ein dänischer Lyriker, sein Hauptstilmittel beim Gedichteverfassen ist das durchgängige Benutzen von Großbuchstaben, Hauptaussage ist postpubertärer Zorn, und warum auch nicht! Das großartige Interview, das Sabine Vogel auf der vergangenen Leipziger Buchmesse mit ihm geführt hat, bestand offenbar aus Groß- und Kleinbuchstaben und verlief in etwa so: Frage: »Ist Poesie eine Therapie gegen das Ersticken?« Antwort: »Nein.« Nun weiß man eigentlich seit Friedrich Nowottnys legendärem Interview mit Willy Brandt, dass man keine Fragen stellen darf, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können, aber klar, im aufregenden Gespräch mit dem dänisch-palästinensischen Werther kann man das schon mal kurz vergessen. Vogel befragt Hassan nach einzelnen seiner Verse. Hassan weist Vogel auf ihre Methode hin, dass sie ihn nach einzelnen seiner Verse befragt. Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Vogel: »Worüber würden Sie gerne sprechen?« Hassan: »Sie sind doch der Interviewer.« Next try. Vogel: »Sie haben Flüchtlingsimmigranten wie Ihre Eltern als Sozialschnorrer angeprangert.« Hassan: »Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.« So geht es einfach die ganze Zeit weiter, wie in einen Rausch steigert man sich da hinein. Und wie herrlich, dass das abgedruckt wurde, wie ein One-Hit-Dichter einer viel schlaueren Journalistin Medienkompetenz beibiegen will. Man weiß ja, dass 2014 das Jahr war, in dem Medienproduzenten und Medienkonsumenten großflächig aufeinandergeclasht sind, und es ist leider völlig rational erklärbar, warum die Meinungsmacher sich selbst ins Knie schießen und das Volk z. B. Putin beispringt, wenn er auf die Behauptung des Interviewers Hubert Seipel: »Sie haben die Krim annektiert, für den Westen war das ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht«, die einzig richtige Antwort gibt, nämlich: »Und was ist jetzt Ihre Frage?« Also vielen Dank an Sabine Vogel, dass sie den Wahnsinn des Interviewens so herrlich dokumentiert hat wie vor ihr eigentlich nur Johanna Adorján, die nach einem Sinnlosgespräch mit Robert Downey »junior« in der FAS mal geschrieben hatte: »Dies, beschließe ich, ist mein letztes Interview mit einem Schauspieler. Keine Lust mehr.«

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6. Eberhard Rathgeb

Mann ohne Grenzen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15. 6. 2014. S. 41.

Oft schon wurde beschrieben, welche Zäsur für das Feuilleton der plötzliche Tod von Frank Schirrmacher bedeutet. In kürzester Zeit wurden Hunderte von Nachrufen auf Schirrmacher geschrieben. Nahezu jede Person des öffentlichen Lebens schien sich bemüßigt zu fühlen, ihr Nachrufscherflein beizutragen. Und je mehr dieser Nachrufe man las, desto elender wurde einem zumute, da sich die wohlmeinende Niedertracht der Schreiberlinge mehr und mehr offenbarte. Fast immer wurde erwähnt, dass Schirrmacher ständig Cola light trank, dass er seine Anzüge bei Tchibo kaufte, dass er parataktische E-Mails schrieb (aus denen ungeachtet aller Urheberrechte extensiv zitiert wurde), dass er, man staune!, Beamtensohn war, dass er aus Unkenntnis einfach immer den teuersten Wein bestellte, dass er einen Machtinstinkt besaß, dass er ein Babyface hatte und dass man die Millionen von Schnaken, die einen inmitten einer Diskussion an Schirrmachers Anwesen am See umschwirrten, gar nicht bemerkte, weswegen sie ja auch im Nachruf extra noch erwähnt werden mussten. Wer sich von diesen boulevardesken Schilderungen am wohltuendsten abhob, war Eberhard Rathgeb. Sein Nachruf auf Schirrmacher begann mit den grundstürzenden Worten: »Einmal hat er, in einem Zusammenhang, den ich vergessen habe, gesagt: Mit Ihnen würde ich aus dem KZ fliehen. Das kam überraschend. Ich dachte aber, klar, gut, das können wir machen.« Der Nachruf geht danach natürlich noch weiter, und es ist ganz insgesamt ein einmaliger und absolut gelungener Tanz auf dem Nachrufvulkan, den man nicht mehr vergisst.

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7. Nicole Zepter

Bin ich wie meine Mutter? In: ZEITmagazin 47, 13. 11. 2014. S. 16–24.

Deine Mutter! Erste Reaktion. Aber wir sind im »ZEITmagazin« und es ist Nicole »Kunst hassen« Zepter, die schreibt. »Bin ich wie meine Mutter?« ist als fundamentale Überschrift, inklusive der Kippoption ins Lächerliche, ein absoluter Coup, und eine derartige Überschrift funktioniert nur mit so einem Text im Rücken. Autobiografie meets Mutterbiografie, das Ganze ist eigentlich ein Film. Elementargewaltige Sätze wie »Wir müssen dir etwas sagen« oder »Papa ist nicht dein Vater« oder »Warum hast du das getan?« sind entkomplizierte Drehbuchzeilen. Auf den Zeitebenen 1975 – 1994 – 2011 beschreibt Nicole Zepter, wie sie sich im Muttermuster verfangen hat und wie sie da rauszukommen versucht. Das geht zum Beispiel mit einer systemischen Therapie, sichtbar wird »Familie als Geschichtsstruktur« und, wtf?!, wir schließen Bekanntschaft mit den Korbstühlen einer psychotherapeutischen Praxis. Dann gibt es ein paar psychotherapeutische Merksätze, der Text kippt immer noch nicht, und ein Exempel gelungener Individuation ist wohl so was hier: »Obwohl meine Eltern wollen, dass ich Jura studiere, studiere ich Jura.« Und obwohl alle (die ganz falschen Leute jedenfalls) sagen, dass dieser Text so unglaublich super und mitreißend ist, ist er so unglaublich super und mitreißend!

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8. Renate Meinhof

Rettungsinsel. In: Süddeutsche Zeitung, 2. 10. 2014. Seite Drei. (nicht online)

Es ist immer herrlich, so herrlich, wenn sich Leute in Literatur erkennen, oder nicht? Renate Meinhof hat unsere Perlenkette der stillen Helden, die viel zu selten oder eher zufällig ins Visier des porträtierenden Feuilletons geraten, fortgesetzt (ihren Wagnerianer hatten wir ja 2007 abgefeiert). Diesmal hat sie uns Klaus Müller näher gebracht, der einen aus der Zeitung heraus förmlich anspringt mit seinem »breiten Dresdnerisch«, das er mit Kniggedeutsch à la »Meine teure Dame!« kombiniert. Dieser Müller war 1988 von der DDR aus kurz mal nach Italien geflüchtet, was gleich 1995 in F. C. Delius’ Erzählung »Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus« verarbeitet wurde. Müller habe sich in diesem Buch aber nicht wiedererkannt, das sei ihm »zu oberflächlich« gewesen, »Literatur eben«. Anlässlich der Artikelrecherche waren Meinhof und Müller nun zusammen auf Hiddensee unterwegs, weil das Müllers Startpunkt für seine Flucht war und auch, weil da eine Lutz-Seiler-Lesung stattfand. Seiler las aus seinem Roman »Kruso«, der dann ein paar Tage später den Deutschen Buchpreis erhielt. Nach der Lesung nähert sich Müller dem Autor und will bestätigt haben, dass er sich auch in diesem Roman wiedererkannt hat (»Seite 51 oben, und Seite 128 unten«). Seiler ist ein sympathischer Autor und »fühlt, was jetzt wichtig ist, die ganze Dimension dieses zielgerichteten Lebens, das da angereist ist, für eine Vergewisserung«. Und obwohl man diesmal, was bei Meinhof selten ist, sublime feuilletoneske Antipathiegesten herausliest, wenn sie diesen Seiler-und-Delius-Blaupausen-Müller als latenten Stalker seiner eigenen Literarizität beschreibt, entwickelt er eine starke Präsenz und ist im Geiste des Feuilletonjahrs 2014 spontan mehr haften geblieben als das x-te Lottmann-Porträt. Auch wenn das von Hilmar Klute zum Beispiel ein sehr gutes war, und das stand übrigens ebenfalls auf Seite Drei in der SZ.

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9. Alexander Wallasch

»Ich hab ihm öfter gesagt, dass er eine Niete ist«. In: The European, 3. 2. 2014.

Zu den betörendsten Texten des Jahres gehört der kurze Vorspann, mit dem Alexander Wallasch sein Interview mit Matthias Matussek verziert hat. Diese in all ihrer poetischen Melancholie irgendwie anrührenden Passagen haben wir auswendig gelernt und uns immer wieder gegenseitig vorrezitiert: »Wenn Matussek der Tiefseetaucher ist, ist Florian Illies der Ärmelkanalschwimmer. Konditioniert, aber dabei einen doppelten Schutzanzug tragend, es könnte ja eine Feuerqualle unterwegs sein, irgendwo in den Weiten dieser bösen Nordsee … Wenn Matussek das Fässchen edler Portwein ist, getrunken aus dem steinernen Henkelbecher aus Auerbachs Keller, wird Illies zum hochkarätigen Danziger Goldwasser, mit abgespreiztem Finger schlückchenweise genippt aus einem dünnwandigen Meißner Porzellantässchen.« Da kann Mallarmé einpacken! Aber auch das Interview selbst ist sehr interessant, zum Beispiel verrät Matussek en passant, warum man von ihm so gut wie gar nichts mehr hört, seit er zur »Welt« gewechselt ist (auf die Frage: »Was soll man überhaupt noch Neues von Ihnen bei der ›Welt‹ erwarten?« antwortet er nicht einfach: »Nichts«, sondern: »Ach, ich glaube, ich käme von jetzt an auch so über die Runden«), und Wallasch stellt eine unfassbar bedeutungsschwangere Frage, auf die man erst mal kommen muss: »Wie ist das, wenn Sie weinen? Ansehnlich?« Ansonsten soll Wallasch übrigens vor allem als immer wieder begeisterter Autor seines eigenen Wikipedia-Eintrags hervorgetreten sein, das werden wir gleich mal nachprüfen.

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10. Uwe Wittstock

Ich, der sexuelle Honigtopf. In: Focus 10, 1. 3. 2014. S. 116–117.

Über den Rabatz, den Raddatz veranstaltete, berichtete der leider weithin unterschätzte und erst vor wenigen Tagen etwa Novalis’ Fragment »Die Christenheit oder Europa« gehypt habende Kulturteil des »Focus«-Magazins, als FJR seine letzten, aber nun auch wirklich definitiv allerallerletzten Tagebücher veröffentlichte. (Erst vor vier Wochen allerdings hat Raddatz in einem Interview mit der »Basler Zeitung« von einem noch »unveröffentlichten Tagebuch« geraunt, auweia!! Und natürlich übt Raddatz sich dort, wie schon seit Jahrzehnten, auch wieder darin, seine ihm liebgewordene entsetzliche Suiziddrohung spazierenzuführen.) Uwe Wittstock legt schon mal den perfekten Einstieg hin: »Man kann Fritz J. Raddatz manches nachsagen. Doch sanftmütig hat ihn noch keiner genannt.« Die größten Giftspritzer, die Raddatz verteilt, werden noch einmal in aller Sachlichkeit referiert und wenn die Schmähung zitiert wird, Jacqueline Onassis, verwitwete Kennedy, sei eine »Halb-Nutte«, ist das eine etwas gemeine philologische Referenz auf Raddatz’ bekannte Schlampigkeit, denn hä?!, was bitteschön soll das denn überhaupt sein, eine »Halb-Nutte«? Inzwischen ist das mit Raddatz so eine Sache, nachdem er Mitte September die Öffentlichkeit ja kurzzeitig mit der shocking Nachricht paralysiert hatte, dass er hinfort schweigen und gänzlich stumm sein werde. Nur 17 Tage nach dieser Bekanntmachung hörte man Raddatz freilich schon wieder wie eh und je ein Interview im Deutschlandfunk geben, und da fiel der Öffentlichkeit direkt eine Kiesfabrik vom Herzen.

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[ veröffentlicht am 13. 1. 2015 ]