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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 22):
»Mein Sylt« (2006)

Berlin, 22. Dezember 2013, 08:20 | von Papageno

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 101)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Was für ein hammermäßiger Beginn, FJR fällt wieder mal mit der Tür ins Haus: »Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?« (S. 5) Ganz klar, wer so fragt, ist ein Verfallener, einer, der vom Wunder seiner Insel geradewegs in die Metaphernhölle fährt, weg vom »Heizdecken­paradies des Billigtourismus« (S. 125) – Sylt, das ist ihm ein »schwar­zes Paillettenkleid« (S. 11), Sylt, das ist ihm »ein Juwel in schim­merndem Blütensamt« (S. 11f.).

FJR nimmt sie alle mit und »innerlich gewaschen« (S. 37) kehren sie wieder: Thomas Mann, Hubert Fichte, Kurt Tucholsky, Pastor Traugott, Alexander Mitscherlich, Alfred Kantorowicz, Peter Suhrkamp, Barkeeper Karlchen, Carl Zuckmayer und die »Kreissparkassendirektoren mit zu grünen Jacken, zu blonden Zweitfrauen« (S. 24), ganz zu schweigen vom »wendischen Wettergott« (S. 107). Das Meer zieht ihnen allen »den Schmutz aus der Seele« (S. 37). »Das Meer erzählt seine Märchen« (S. 9), FJR erzählt seine Anekdoten. Unter anderem erfährt man, dass die Gemeindevertretung von Kampen Hermann Göring im Jahre 2005 die Ehrenbürgerschaft aberkannt hat (vgl. S. 63). FJR ist in »Mein Sylt« keineswegs »nur der leicht hinkende weißhaarige Alte, der in verbeulten Cordhosen in Kampen durchs Dorf schlurft« (S. 19, S. 23); er ist ein Sylt-Prediger, der »in lauter kleinen Devotionalienbildern« (S. 37) huldigt.

In FJRs Sylt-Spaziergängen kommt man vorbei am Keitumer Friedhof, an »hellgelbgrünen Weidenkätzchen« (S. 10) oder an »Uta und Armin Findeisens Ziegenkäserei« (S. 139). Der Himmel – der dem »Perlmutt einer umgestülpten Riesenmuschel« gleicht – ist ganz groß, und man denkt: Sylt ist eigentlich doch ganz okay.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Mein Sylt. Mit Fotografien von Karin Székessy. Hamburg: Marebuchverlag 2006. S. 3–156 (= 154 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Touristische Ernsthaftigkeit

La Rochelle, 16. August 2011, 01:53 | von Papageno

Je crois qu’il est très important de comprendre que la
France est simultanément le pays des révolutions
et une grande terre de la réaction.

Alain Badiou

»No, I have never been there, this is my first time in Europe, but I heard it is absolutely gorgeous!«, meint Steve, der mir im TGV von München nach Paris gegenübersitzt. Steve kommt aus Miami, hat gerade das College hinter sich und ist auf großer Europatour. München habe ihm, nach Berlin natürlich, am besten gefallen, nur seien die Bayern so unfreundlich gewesen. »A friend of mine told it is even worse in France. He said that the French always answer you in English, even if you try to speak their language.«

Das stimmt natürlich beides nicht. Wie so oft wollte hier jemand einem Davonreisenden aus purem Neid mit einem touristischen Vorurteil Angst einjagen. Denn die Pariser sind in den letzten Jahren zum Beispiel extrem zutraulich und sehr, sehr freundlich geworden, vgl. Gumbrecht 2010.

Wenn man so den Artikel »Charming Paris. Quand la Cité devient parc à thème« von Benoît Duteurtre liest, in der Augustausgabe von »Le Monde diplomatique«, könnte man allerdings meinen, Steves Freund habe doch noch Recht. Der mürrische Autor behauptet da nämlich, dass man in Paris einfach nicht mehr leben könne, besonders in den Sommermonaten sei es unmöglich. Die Attitüde kultureller Überlegen­heit, wenn die amerikanischen Touristen sich anmaßen, jemanden mit »Parlez-vous anglais?« anzusprechen, aber auch die englische Ausschilderung der Sehenswürdigkeiten, all das vermiest Duteurtre reichlich den Sommer. Nur auf Kitsch seien die Touristen aus, das wahre Paris bleibe ihnen allen ja verborgen, es mangele einfach an touristischer Ernsthaftigkeit.

Dieses ewige autochthon-antitouristische Lamento hätte natürlich genau so schon in den letzten 50 Jahren erscheinen können. Gott sei Dank beobachte ich wenig später am Gare de Montparnasse eine amerikanische Familie in Abercrombie & Fitch-Aufzug, die, nach reiflicher Vorbereitung mit einem Wörterbuch, belegte Baguettes bei »Paul« bestellt. Die Verkäuferin antwortet dabei ganz langsam auf Franzö­sisch, zum Schluss wünscht sie ihnen sogar noch einen schönen Sonntag!

Dann lese ich noch den Artikel »Dans le laboratoire de l’écolo-bourgeoisie« von Olivier Cyran über die Grünen, in der Hoffnung, dass die Deutschen vielleicht ein bisschen besser wegkommen. Leider glaubt Cyran, dass Karl-Theodor zu Guttenberg der FDP angehört, und das sind leider nicht mal Breaking News. Das kommt einfach davon, dass man die Praktikanten die ganze Arbeit machen lässt, ähnlich wie ja schon letzten Sommer, als »Monocle« so schön vom Münchner Transrapid geschwärmt hat.

Und dann habe ich in Steves neuer Ausgabe des »Lonely Planet« noch gelesen, dass ausdrücklich davor gewarnt wird, sich in Paris in die Nähe der Rue d’Ulm zu begeben. Dort verbrennen nämlich aufstän­dische französische Intellektuelle Abercrombie & Fitch-Sweater, man fürchte, dass sich die Aufstände ausweiten.
 


Oswald Spengler meets David Foster Wallace:
Mit dem Zug von Los Angeles nach San Francisco

Berkeley, 22. Juni 2011, 07:35 | von Papageno

Es ist nicht so, dass mich niemand gewarnt hätte. Mit dem Zug von Los Angeles nach San Francisco? Pure Boredom. So European. Die meisten Kalifornier, denen ich von meinem Vorhaben erzählt habe, hatten von der Zugverbindung eh noch nie gehört.

Von der Union Station geht es frühmorgens in Richtung Norden, durch die endlosen Vorstädte dieser Riesenvorstadt, in Richtung Central Valley, vorbei an zahllosen In-N-Out Burgers und riesigen Parkplätzen. Nach etwa eineinhalb Stunden Fahrt nähert man sich der angeprie­senen Hauptattraktion des Pacific Coast Liners – dem freien Blick auf den Pazifik (die »Kristallmauer«, wie Baudrillard den Ozean einmal nannte, »der Kalifornien in sein Glück einschließt«).

ein Foto

Der Bummelzug fährt dann die meiste Zeit über oder unter dem Highway 1 entlang, der »vielleicht schönsten Küstenstraße der Welt«. Links blickt man auf die Küste, Strände, Kliffs und rechts auf erdrutschverdächtige Steilhänge, ausgebrannte Autowracks und Milchkühe.

Nach gut zwei Stunden hält der Zug dann in Santa Barbara, einer kleinen Universitätsstadt, in der alles so aussieht, als wäre es Teil eines Golf- und Landclubs. Es steigt niemand weder aus noch zu. Nach zwei weiteren Stunden atemberaubender Aussicht verlaufen die Schienen weg von der Küste ins Landesinnere, wo es außer Mandel-, Zitronen- und Orangenbäumen, Orchideen und flimmernder Hitze nichts zu geben scheint. Hier wird alles produziert, was in Los Angeles und San Francisco dann konsumiert wird.

Tausende mexikanische Arbeiter ernten vor unseren Augen Erdbeeren und Pflaumen. Einige Passagiere winken ihnen zu, sie winken nicht zurück. So auch Steve, der neben mir sitzt. Er trägt Wandersandalen, Karohemd und dreht seine eigenen Zigaretten. In einem Land, in dem Rauchen mehr als verpönt ist, gilt das als revolutionäre Geste. Steve ist auf dem Weg nach Portland, Oregon, um dort Arbeit zu suchen: »L.A. is killing me. Nobody can make a living here«, erzählt er. (Ich muss an John Rechy denken, der es auf die so wahre Formel gebracht hat: »You can rot here without feeling it.«)

Steve fährt gern mit Zügen, da man so die Möglichkeit habe, die Landschaft und seinen Reiseweg wirklich zu erfahren: »You really feel where you are going, it somehow gives me back my sense of space and direction.« Steve liest Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlands«, und während wir durch die Wüste des Central Valley fahren, meint er, dass diese Wüste genauso sei wie Amerika. »Just empty, as if life has vanished completely.«

»Something has happened to people in the 80ies«, spricht er weiter. »It’s not about the people anymore, just about the big cooperations. We’re not making the pie anymore, we’re just havin’ it!« Steve wird diese Sätze noch öfter während der 16-stündigen Fahrt sagen. Als es etwas später wird, bittet ihn eine mexikanische Mutter, die mit ihrer siebenköpfigen Familie nach Seattle umzieht, ein bisschen leiser zu sein, ihre zwei Kleinkinder seien gerade eingeschlafen.

Mir wird es auch langsam zu viel und ich nehme mir David Foster Wallaces gerade aus dem Nachlass herausgegebenes Buch »The Pale King« und setze mich in den Speisewagen, der keinerlei Speisen anbietet. Grob gesagt handelt das Buch vom Leben und Leiden von Steuerbeamten in Peoria, Illinois, in der Mitte der 1980er Jahre.

Viele der von dem Herausgebern zusammengebrachten Geschichten und Fragmente handeln von verlorenen Söhnen und Töchtern, die irgendwie ihren ›eigenen Weg‹ gefunden haben, um schließlich doch wieder in zermürbender Alltäglichkeit, Bürokratie und Selbsthass festzustecken. Wallace geht es in »The Pale King« um Langeweile in allen Formen, nicht weniger als eine allumfassende Beschreibung der Lebenswelt am Ende des 20. Jahrhunderts sollte das unvollendete Projekt werden – »a portrait of bureaucracy«.

Mittlerweile schlängelt sich der Zug hinauf in die Berge, weiter ins Landesinnere, die Landschaft wirkt zerklüftet, aber auf einmal sehr grün, toskanischer Schwarzwald.

»Bläulichschwarze Steinmassen giengen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens die Gipfel, dunkel schmale zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken über die der Zug fuhr und sie waren so nah daß der Hauch ihrer Kälte das Gesicht erschauern machte.«

Ich stelle mir vor, wie sich Franz Kafka das Central Valley vorgestellt hat und wie schön seine Beschreibung doch ist, und erinnere mich, wie falsch und pathetisch Theodor W. Adorno die kalifornische Exilland­schaft aus seinem Exilhaus in den Pacific Exilisades beschrieben hat:

»Es ist als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie ist ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise der Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge bloß im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen.«

Wäre Adorno einmal mit dem Pacific Coast Liner gefahren, er hätte anders gesprochen.

Währenddessen erzählt Wallace von den kleinen Erfolgen eines Steuerbeamten, der sich jedes Mal selbst belohnt, wenn er die Arbeit an einem Formular beendet hat und schließlich merkt, dass er niemals fertig wird: »The thing here is that the returns never stop. There’s always a next one to do. You never really finish.«

Ein paar Seiten weiter heißt es dann: »We think of ourselves now as eaters of the pie instead of makers of the pie. So who makes the pie?« Ich frage mich, ob Steve das Buch gelesen hat und erinnere mich dann, dass er es nicht gekannt hat, als ich es vorhin erwähnt habe.

Es ging Wallace in seinen letzten Jahren vermehrt um die Beschreibung von Erfahrungen der Selbstgewissheit, von Konzentration und Präsenz in einer instrumentalisiert-bürokratischen Lebenswelt. (Das vielleicht beste Beispiel dafür ist seine Meditation über »[Roger] Federer as a religious experience«!) Um die Frage, wie man konzentriert sein kann, wenn man eigentlich nur abgelenkt ist, wie schließlich aus Langeweile Kreativität entstehen kann?

»The underlying bureaucratic key is the ability to deal with boredom. To function efficiently in an environment that precludes everything vital and human. To breathe, so to speak, without air. The key is the ability, whether innate or conditioned, to find the other side oft he rote, the picayune, the meaningless, the repetitive, the pointlessly complex. To be, in a word, unborable. […] It is the key to modern life. If you are immune to boredom, there is literally nothing you cannot accomplish.«

Das Highlight findet sich gegen Ende des Buches, es handelt sich um eine minutiöse Beschreibung eines (Flirt-)Dialogs zwischen zwei Steuerbeamten an einem Freitagfeierabend. Über mehr als hundert Seiten baut Wallace Spannungs- und Frustrationsbögen auf, um sie dann wieder einzureißen. Die besten Momente sind die, in denen man merkt, dass Wallaces Erzähler sich in den Dialog mischt, Sätze vollendet, kommentiert, weiterspinnt, um dann wieder flauberthaft über allem zu schweben, seine Figuren an den Abgrund drängt, sie aber nie fallen lässt.

Wegen Gleisproblemen steht der Zug fast vier Stunden zwischen Mandel- und Orangenbäumen in der Nähe von Salinas. Die Sonne geht ewig unter und färbt alles in blau und rot – jedes Mal wieder ein Schauspiel. Die mexikanischen Arbeiter ziehen sich langsam zurück in ihre Zelte, Steve ist mittlerweile über Spengler eingeschlafen.

Neben ein paar wirklich grandiosen Stellen ist »The Pale King« wirklich langweilig, nicht mehr als ein ungeordnetes Riesenprojekt, das Wallace beim besten Willen nicht beenden konnte, schon gar nicht seine Herausgeber. Aber ich meine gelernt zu haben, mich nicht langweilen zu lassen, und lese weiter, be unborable, stay focused, sage ich mir immer wieder.

Als ich in Emeryville aussteige, kommt es mir wirklich so vor, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen, und als hätte ich alles, was ich in meiner Langeweile gesehen habe, Kristallwände, Wüsten und Untergänge, schon wieder vergessen – a supposedly fun thing I’ll never do again.