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W Punkt

Berlin, 1. Mai 2012, 23:29 | von Austin

Neue Nationalgalerie, 1. Mai, später Nachmittag. Gerhard-Richter-Ausstellung. Vor dem Bild »Wiesental«.

Sie: Das ist ja ein ganz idyllisches Bild.
Er: –
Sie: Ganz idyllisch.
Er: Das kommt aus dem MoMA.
Sie: Ach. Ja!
Er: –
Sie: Haben wir das da gesehen?
Er: Weiß nicht.
Sie: –
Er: Weißt du, für was das W. in Theodor W. Adorno steht?
Sie: Nein.
Er: Wiesental.
Sie: Ach. Dann ist da ja auch schon wieder ein doppelter Boden.
 


Bayreuth

auf Reisen, 16. August 2011, 16:43 | von Austin

Der Moment des Sommers. In der ersten Pause von Stefan Herheims genialischer »Parsifal«-Inszenierung: Eine Dame in Abendkleid bückt sich im Park und trägt, durch Mitleid wissend, eine Schnecke von der Mitte des Weges ins Gebüsch.
 


Donna Leon bringt den Müll raus

Venedig, 14. August 2011, 04:26 | von Austin

Sommerzeit. Reisezeit. Die Welt trifft sich in Venedig. Am Eindrucks­vollsten darauf eingestellt war der Akkordeonspieler auf Torcello, der seine Musik nach der Nationalität der Passanten ausrichtete; ich be­kam »Mein Hut, der hat drei Ecken« ab, die französische Familie vor mir »Frère Jacques«, hinter mir hörte ich dann »O sole mio«.

Gesperrt wegen Bauarbeiten waren in der Galleria dell’Accademia die Säle 5 & 6 sowie 8 & 9 & 11 & 21 und auf San Giorgio Maggiore das Refektorium. Nichtsdestotrotz hier die Top drei Tintoretto-Gemälde in Venedig nach Meinung des Umblätterers:

1) Scuola di Gran Rocco: Die Versuchung Christi. Is it a girl? Is it a boy?

2) Accademia: Der Traum des Heiligen Markus. Als hätte Tintoretto einen Workshop bei El Greco belegt.

3) Madonna dell’Orto: Der Tempelgang Mariens. It’s showtime …

Und die ganze Verzweiflung, die ein Kultururlaub in der Ferne auslösen kann, sie trifft den sehr jungen, strahlend schönen Schwulen, der als ein Objekt seiner selbst durch die Galleria streift, ganz allmählich seinen All-American Parents hinterher; vor Tintorettos »Vertreibung aus dem Paradies« hört man sein unendlich gequältes, leises Jaulen: »Oh no, my camera is dying.«

Zur Phänomenologie des Museumsbesuchers ist zu sagen – den deutschen Kultur-Touristen erkennt man in italienischen Museen neben den Kommentaren (»Haben wir gestern nicht auch eine Verkündigung von Veronese gesehen? Oder war das Bellini?«) sehr gut an der langen Leinenhose. Seit wie vielen Auflagen postet der Baedeker eigentlich schon sein gusseisernes Kleidungsgebot, dass niemals Italiener es wagen würden, in Sommerbekleidung eine Gemäldegalerie zu betreten? Machen sie doch, und zwar zahlreich. Vielleicht kann man das im Text ja mal ändern bei Gelegenheit, das wäre ein guter Beitrag zur allgemeinen Sommerfrische.

Ansonsten bin ich dreimal von japanischen Reisegruppen auf der Terrasse beim Frühstück fotografiert worden, und am letzten Abend tobte ein Gewitter über der Stadt, zweimal schlug der Blitz in Palladios San Giorgio ein, und eine geschmackvoll gekleidete ältere Dame, von der ich schwören könnte, es war Donna Leon, öffnete zaghaft ihre Haustür und hängte den Müllbeutel an den Knauf.
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 61)

sine loco, 2. April 2011, 12:50 | von Austin

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Das Kaffeehaus Michaelis in Chemnitz, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Chemnitz
Das Kaffeehaus Michaelis am Düsseldorfer Platz.

(Lange war es weg, genau ein halbes Jahrhundert, nun ist es wieder da: das Café Michaelis in Chemnitz. Und viele der alten Gäste, das kann man sagen, haben auf diesen Moment gewartet. Seit der Wiedereröffnung vor ein paar Wochen ist es täglich randvoll, und ganz zu Recht: Hier herrscht das größte Tageszeitungsangebot in ganz Südwestsachsen, im Erd­geschoss gibt es eine Unisextoilette, genau wie im »Berghain«, und die Baumkuchentorte ist hervorragend. Es ist auch keine Eile geboten, dieses Mal wird das Michaelis bleiben.)
 


Auf dem Oktoberfest der Klassik

Leipzig, 2. Januar 2011, 13:45 | von Austin

Öfters schon ging es hier um das Gewandhausorchester, heute wieder, Anlass: das »GROSSE CONCERT zum Jahreswechsel« mit der deutschlandweit für diesen Termin üblichen 9. Sinfonie Beethovens. Eigentlich war mir dieses Ritual immer suspekt, ich hab mich da nie hingetraut, in diesem Jahr aber doch: mal sehen, wie das ist.

Im Foyer treffe ich auf eine ungewohnte Mischung aus hochgestimmten und (mitunter sehr) weit angereisten Gästen, kontrastiert mit rouinierten Leipzigern, die offensichtlich seit Jahrzehnten dieses Konzert besuchen und das Privileg der örtlichen Nähe auch ausstrahlen.

Und das setzt sich fort, je weiter ich ins Gewandhaus gelange. Die entscheidenden Besuchergruppen, grob nach Typ und Vorkommen geordnet: der erfahrene Klassik-Event-Besucher (»Also neulich in München, der Jonas Kaufmann …«), der freudige Genießer (blickt mit einem Glas Sekt auf die Skyline der Stadt und hat tatsächlich Gesprächsstoff mit seiner Ehefrau), der Klassik-Nerd (hat keine Ehefrau, aber eine Mutter oder ein Accessoire in Form eines Notenschlüssels), der unerfahrene Klassik-Event-Besucher (tendenziell überfordert von allem) und der Gewandhaus-Rentner (heute is ohne Pause). Wirklich entspannt ist nur der freudige Genießer.

Überraschenderweise liegt der Ereignischarakter fast wie eine Zwangsjacke über dem Haus, eine Atmosphäre, die auch mit Beginn des Konzertes nicht nachlässt. Pierre Bourdieu hätte seine helle Freude gehabt. Und grade als ich noch in den ersten Takten des 1. Satzes plötzlich denke, ob vielleicht die Frau in der Reihe vor mir Gefahr läuft zu kollabieren, verlässt auf der gegenüberliegenden Seite der erste Besucher den Saal. Später noch einer. Und dann noch einer. Offenbar hat sich ein Senioren-Flashmob dazu verabredet, Lubitschs legendären »Sein oder Nichtsein«-Film ins Konzert zu transponieren.

Flächendeckendes Husten im Saal nach dem 1. und 2. Satz – wieder eine Etappe geschafft. Die übliche Geräuschdramaturgie in den Satzpausen, Handtasche aufziehen, Bonbon raus, Bonbon auswickeln, Handtasche zuziehen, Handtasche fällt runter, vielfach verstärkt. Jetzt geht auch die Frau in der Reihe vor mir.

Faszinierend der Weg von Chailly und dem Orchester, eine mehr als allbekannte Partitur zu erarbeiten als sei sie eine Ausgrabung. Ein fabelhaftes Solo-Horn, eine großartige Solo-Querflöte, die Pauke als Herzzentrum, die wiederum sensationell präzise Spielkultur – und doch wirkt das seltsam unbemerkt, wie verdunkelt vom gigantischen Chor-Satz, auf den alles wartet.

Die Anspannung, sie steigert sich, bis endlich im 4. Satz das »Freude!«-Motiv erstmals durchs Orchester zieht. Da!, da war es doch – und dann, dann gibt es kein Halten mehr. Mit Händen zu greifende Erleichterung, wenn der Chor einsetzt.

Es gibt ja im Genre ›Alterswerk bedeutender Künstler‹ die vielfältigsten Ergebnisse, von seltsam versponnen (Goethe, Faust II) über seltsam fragwürdig (Kubrick, Eyes Wide Shut) bis genial erschütternd (Strauss, Vier letzte Lieder). Und dieser Chor-Satz, er pendelt zwischen all dem.

Zeilen wie »Wollust ward dem Wurm gegeben, / Und der Cherub steht vor Gott« als Grundlage eines sinfonischen Chores zu nehmen, ist ein wirklich schillernder Einfall des späten Beethoven mit einem erheblich erhöhten Zausel-Faktor, der letztlich Ratlosigkeit hinterlässt – die nur aufgefangen wird durch die krud-geniale musikalische Verarbeitung und die überraschende, verstörende, tendenziell immer wieder das Martialische streifende Interpretation im Konzert.

Mit dem letzten Ton Standing Ovations derer, die noch da waren.
 


Horváth in Murnau

Leipzig, 26. April 2010, 12:36 | von Austin

Der Plan: Endlich mal nach Murnau fahren. Horváths Stadt schauen. Und endlich die jetzt superb besprochene neukonzipierte Horváth-Ausstellung im Schloss (S-Zeitung vom 3. März 2010).

Und was soll man sagen. Einst wurde seine Einbürgerung abgelehnt, nun wird hier ausgeführt, dass Horváth der gewissermaßen einhundert­zwanzigprozentige Murnauer war, wie sehr also Horváth mit Murnau eins sei. Plötzlich ist er vor allem Heimatdichter.

Als Kontrast ist dann im Setting eines Biergartens die Mediathek installiert, in der Martina Gedeck und jemand anderes Auszüge von Horváths Texten lesen, als handelte es sich um Peter Weiss‘ »Ermittlung«.

Ich will grade gehen und denke, dass ich mal wieder schauen muss, wie weit die in Wien-Alsergrund sind mit diesem eigenwilligen Gedenk­raum für Heimito von Doderer, da findet sich, im Schaukasten »Horváth und Berlin«, ganz en passant doch noch etwas Erstaunliches. Unter dem Bild von Francesco von Mendelssohn, dem Uraufführungsregisseur von »Kasimir und Karoline«, steht der Hinweis, er sei einige Zeit der Partner von Gustaf Gründgens gewesen. Schau an.

Ansonsten ist neben ein bisschen Gabriele Münter nicht viel zu tun in Murnau. Zum Staffelsee gelangt man durch eine spektakulär gruselige Fußgängerunterführung. Also gleich weiter, aus gegebenem Anlass, nach Kloster Ettal. Hey, gleich der erste Seitenaltar rechts ist dem Hl. Sebastian gewidmet.

Dann Halt in Oberammergau. Dialog zwischen zwei Einheimischen, warum denn der und der besetzt sei und nicht der und der, und ob denn der und der der Rolle gerecht werden könne wie weiland dessen Vater. Eine ganz normale Theaterkantine, nur heuer beim Postwirt. Faszinierend.

Auf der Rückfahrt durch Unterammergau gefahren. Und die Frage: Müssen die sich nicht grade wieder fühlen wie das Villabajo des Voralpenlandes?


Regionalzeitung (Teil 24)

Leipzig, 7. April 2010, 21:58 | von Austin

 
  116.   entdeckte früh seine Leidenschaft für

  117.   das furiose Debüt des jungen Autors

  118.   um dem Alltag zu entfliehen

  119.   gerade heute, in diesen politisch bleiernen Zeiten

  120.   in ihren Bann zogen
 


Regionalzeitung (Teil 21) — SZ-Spezial

Leipzig, 18. Januar 2010, 08:53 | von Austin

 
  101.   erläutert der Regierende Bürgermeister fachmännisch

  102.   drängeln sich etwa 900 Gäste

  103.   und verrät, dass sie gleich drei Handys bei sich trägt

  104.   verspeist gutgelaunt zwei Portionen Schnitzel mit Kartoffelsalat

  105.   zu später Stunde
 

alles gefunden in:
Süddeutsche Zeitung, 14. Januar, S. 9,
über die »Nacht der Süddeutschen Zeitung«

 


Im Schlitten Gustav Mahlers

Chemnitz, 14. Januar 2010, 19:50 | von Austin

KüchwaldAus gegebenem Anlass Winterspaziergang im Küchwald, in der einsetzenden Dunkelheit, und einen Tag später im sonnigen Schnee.

Auf dem iPod: Gustav Mahlers 10. Sinfonie. In der Aufnahme mit dem RSO Berlin und Riccardo Chailly. 20 Jahre alt. Ein schöner Vergleich zum sensationellen Konzert letzten September zu Saisonbeginn mit dem Gewandhausorchester – unser Konzert des Jahres 2009 (gemeinsam mit Mahlers 1. Sinfonie fünf Wochen später).

Man glaubt dann, mit dem Beginn des 1. Satzes im Ohr, man könnte jetzt immer weiter hineingehen in den Wald, zauberbergmäßig, bis dann nur noch Schnee ist.

Dann denkt man, diese Musik könnte aber auch ein prima Soundtrack sein zu einem Film von Tim Burton, vielleicht war es das ja auch schon.

Und dann fällt auf, dass das Leipziger Konzert entschieden härter dirigiert war, schärfer. Elementarer. Der Wahnsinns-Trommelknall auf dem Übergang vom 4. Satz zum Finale, dieser großartige Moment des Übergangs, der schon auch ein Ende ist, war im Gewandhaus ein Schlag aus dem Nichts, herzschlagaussetzend; vor 20 Jahren ist es noch auch Schönklang, abgefedert.

Am nächsten Tag, im Sonnenschein, ein leicht anderer Charakter. Alles beschwingter, liegt wohl am Wetter. Der Weg führt an einer Wildfutterstelle vorbei und an einer Bank steil über einem gefrorenen Bächlein, und Walter Kappachers »Fliegenpalast« fällt einem da wieder ein, ein seltsames Buch, trotz Büchner-Preis. Ein Sommerbuch, das doch viel mehr ein Winterbuch ist. Glaube im Nachhinein auch immer, das Buch habe von Richard Strauss erzählt und nicht von Hofmannsthal. Muss mich da immer mühsam dran erinnern und korrigieren.

Trotzdem denke ich, jetzt fahren gleich Strauss und Hofmannsthal in einem offenen Schlitten mit lauter klingelnden Glöckchen vorbei, freundlich winkend seltsamerweise, ganz anders als bei Kappacher. Aber da ist natürlich nur der blinkende Schnee in der Sonne.

Dann ist Chailly bei diesem unglaublichen Finale angekommen. Doch Musik vom Tode. Wenn die Flöte einsetzt, 2:13ff – der Wahnsinn, diese Passage.

Andere Top-Stellen, als Softskills für den Smalltalk zum Neujahrs-Stehempfang: Die Streicherlinien zum Beginn des 1. Satzes, insbes. 2:26ff. Der Schluss des 4. Satzes mit einem super Paukensatz ab 10:41. Das gesamte lange Verglimmen des Finales, ab 19:38.

Dann ist die Sinfonie durch, es ist Stille, und ich gehe ins »Kellerhaus«, diese leckere Pilzrahmsuppe bestellen, wie zuletzt mit Marcuccio und Paco, als sich die Beiden unmittelbar vor dem Dessert heftigst über diesen Wolfgang-Büscher-Artikel zerstritten.


Pierre Boulez spricht

Paris, 25. Juni 2009, 11:40 | von Austin

Sonntag. 20.20 Uhr. Warten im Cour Napoléon. Fête de la musique. Um 21.15 Uhr ist Einlass für das Konzert sous la pyramide du Louvre: Pierre Boulez und das Orchestre de Paris. Vor uns eine lange Schlange. Hinter uns eine immer länger werdende Schlange.

Vor uns zwei Pariserinnen, Amt für Statistik & Marketing bei L’Oréal, wollen unbedingt zu Buläh. Hinter uns zwei Kolumbianerinnen, wollen unbedingt zu Buläs.

sous la pyramide

22.00 Uhr. Angeblich sitzen jetzt 2.000 Menschen auf dem Marmorbo­den des Auditorium du Louvre. Über uns der Richelieu-Flügel. Über uns die Pyramide. An ihren Scheiben die, die nicht reingekommen sind. Würden sie durchbrechen, würden sie auf den Schlagwerker des Orchesters fallen.

Und tatsächlich erscheint vor uns der große alte Mann der europäi­schen Musik und dirigiert: Strawinskis »Feuervogel«. Irre präzis, fabelhaft trocken, ohne jeden billigen Effekt.

Nach dem Konzert Jubel. Pierre Boulez scheint dem Publikum etwas sagen zu wollen. Er spricht. Was er sagt, geht unter in der Begeis­terung.

Am Nachmittag schon in einer anderen Schlange gewesen: im Musée Jacquemart-André, das im Baedeker einen ganzen Stern abbekom­men hat. Vermutlich vergeben für einen großartigen Rembrandt und eine schöne Orangen-Tarte im Museumscafé.

Ansonsten beantwortet dieses Museum vor allem die Frage, wie Tadzio, sollte er die venezianische Seuche überstanden haben, seinen Lebensabend gestaltet haben könnte. In diesem Haus hätte Tinto Brass Pornos drehen sollen, selbst der Staub scheint hier historisch zu sein, und hinter jeder Ecke erwartet man Siegfried und Roy.

Nichtsdestotrotz kommen wir rechtzeitig zum letzten Tag der Ausstel­lung italienischer Maler des Trecento, ausgeliehen aus einem Museum in »Altenbourg«, einer laut Informationstext »kleinen Stadt bei Dresden«.

Und die Leute drängen sich in den kleinen Räumen, um das Lebens­werk des Herren Lindenau zu sehen. Und wahrscheinlich sind es in diesem Moment, in dieser Stunde mehr Menschen, als in Altenburg in einem ganzen Jahr.

Passend zum Pariser Mittsommernachtstreffen des Umblätterers gibt es eine Frankreich-FAS, darin ganzseitige Artikel zu Julie Delpy (Interview) und Michel Foucault (kein Interview). Die Lektüre am Erscheinungstag wird aber durch oben genannte Ereignisse mehrfach vereitelt.

Usw.