Öfters schon ging es hier um das Gewandhausorchester, heute wieder, Anlass: das »GROSSE CONCERT zum Jahreswechsel« mit der deutschlandweit für diesen Termin üblichen 9. Sinfonie Beethovens. Eigentlich war mir dieses Ritual immer suspekt, ich hab mich da nie hingetraut, in diesem Jahr aber doch: mal sehen, wie das ist.
Im Foyer treffe ich auf eine ungewohnte Mischung aus hochgestimmten und (mitunter sehr) weit angereisten Gästen, kontrastiert mit rouinierten Leipzigern, die offensichtlich seit Jahrzehnten dieses Konzert besuchen und das Privileg der örtlichen Nähe auch ausstrahlen.
Und das setzt sich fort, je weiter ich ins Gewandhaus gelange. Die entscheidenden Besuchergruppen, grob nach Typ und Vorkommen geordnet: der erfahrene Klassik-Event-Besucher (»Also neulich in München, der Jonas Kaufmann …«), der freudige Genießer (blickt mit einem Glas Sekt auf die Skyline der Stadt und hat tatsächlich Gesprächsstoff mit seiner Ehefrau), der Klassik-Nerd (hat keine Ehefrau, aber eine Mutter oder ein Accessoire in Form eines Notenschlüssels), der unerfahrene Klassik-Event-Besucher (tendenziell überfordert von allem) und der Gewandhaus-Rentner (heute is ohne Pause). Wirklich entspannt ist nur der freudige Genießer.
Überraschenderweise liegt der Ereignischarakter fast wie eine Zwangsjacke über dem Haus, eine Atmosphäre, die auch mit Beginn des Konzertes nicht nachlässt. Pierre Bourdieu hätte seine helle Freude gehabt. Und grade als ich noch in den ersten Takten des 1. Satzes plötzlich denke, ob vielleicht die Frau in der Reihe vor mir Gefahr läuft zu kollabieren, verlässt auf der gegenüberliegenden Seite der erste Besucher den Saal. Später noch einer. Und dann noch einer. Offenbar hat sich ein Senioren-Flashmob dazu verabredet, Lubitschs legendären »Sein oder Nichtsein«-Film ins Konzert zu transponieren.
Flächendeckendes Husten im Saal nach dem 1. und 2. Satz – wieder eine Etappe geschafft. Die übliche Geräuschdramaturgie in den Satzpausen, Handtasche aufziehen, Bonbon raus, Bonbon auswickeln, Handtasche zuziehen, Handtasche fällt runter, vielfach verstärkt. Jetzt geht auch die Frau in der Reihe vor mir.
Faszinierend der Weg von Chailly und dem Orchester, eine mehr als allbekannte Partitur zu erarbeiten als sei sie eine Ausgrabung. Ein fabelhaftes Solo-Horn, eine großartige Solo-Querflöte, die Pauke als Herzzentrum, die wiederum sensationell präzise Spielkultur – und doch wirkt das seltsam unbemerkt, wie verdunkelt vom gigantischen Chor-Satz, auf den alles wartet.
Die Anspannung, sie steigert sich, bis endlich im 4. Satz das »Freude!«-Motiv erstmals durchs Orchester zieht. Da!, da war es doch – und dann, dann gibt es kein Halten mehr. Mit Händen zu greifende Erleichterung, wenn der Chor einsetzt.
Es gibt ja im Genre ›Alterswerk bedeutender Künstler‹ die vielfältigsten Ergebnisse, von seltsam versponnen (Goethe, Faust II) über seltsam fragwürdig (Kubrick, Eyes Wide Shut) bis genial erschütternd (Strauss, Vier letzte Lieder). Und dieser Chor-Satz, er pendelt zwischen all dem.
Zeilen wie »Wollust ward dem Wurm gegeben, / Und der Cherub steht vor Gott« als Grundlage eines sinfonischen Chores zu nehmen, ist ein wirklich schillernder Einfall des späten Beethoven mit einem erheblich erhöhten Zausel-Faktor, der letztlich Ratlosigkeit hinterlässt – die nur aufgefangen wird durch die krud-geniale musikalische Verarbeitung und die überraschende, verstörende, tendenziell immer wieder das Martialische streifende Interpretation im Konzert.
Mit dem letzten Ton Standing Ovations derer, die noch da waren.