Best of Feuilleton 2005

Die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2005

Gestaltungskraft, Piano-Mann, Kinder, radikale Verlierer, Kultur der Freiheit, Hitlers Volksstaat, minimale Literaturkritik, Ayahuasca, Schrödertum, 39 Fragen

*

1. Stephan Maus

Beim nächsten Glas wird alles besser – Leider kein wirklich anonymer Alkoholiker: Augusten Burroughs in »Trocken!« In: Süddeutsche Zeitung, 8. 4. 2005.

Der Verriss des Jahres! Beginnt mit den mittlerweile legendären Sätzen: »Hi, ich bin Stephan. Ich bin Kritiker.« Maus-Kritiken sind Erlebnisse. Dabei ist es ganz egal, welches Buch er bespricht. Seine Texte bestätigen ein Diktum Alfred Kerrs, demzufolge gute Kritiken ihre Gegenstände überleben werden. Stephan Maus macht Krach, dass es einen ungläubig aus der Feuilleton-Leseroutine haut. Bei seiner Besprechung des Burroughs-Buches beschreibt Maus die Ausfälle des Autors gegen als Nazis karikierte Deutsche und gibt dem Autor einen Wink in seiner Muttersprache: »You know, Augusten, von Nazi zu Ami: What we miss in your novel is what we Nazis call Gestaltungskraft. You may say that’s Fascist stuff, but we say it’s Literature.«

*

2. Jürgen Dahlkamp, Gerald Drissner, Gunther Latsch, Roman Pletter, Andreas Ulrich

Der verlorene Sohn. In: Der Spiegel, Nr. 35, 29. 8. 2005.

Während die britische Boulevardpresse den von ihr kreierten Fall des »Piano Man« damit ausklingen ließ, dem deutschen Doch-nicht-Piano-Mann Andreas G. vorsätzliche Täuschung vorzuwerfen, erzählt der »Spiegel« die Geschichte des verlorenen Sohns neu. Die geballte Recherchewucht der fünf Autoren verschmilzt der »Spiegel«-Jargon zu einer großen journalistischen Erzählung, in der Andreas G.s Geschichte zu einem Präzedenzfall des Sturms und Drangs in Zeiten der Globalisierung gerinnt. Andreas G. scheitert, er wird nicht gewollt, er flieht in die Irrationalität. Der Artikel verschaltet G.s Pläne und Werdegang (Zivi in Saarbrücken, dann Aufenthalt in einem französischen Dorf, schließlich sein Auftauchen an der britischen Küste) mit der Schilderung der Trägheit seines 70-Seelen-Heimatortes Waldmünchen. Unterhaltsam und subtil setzen die Autoren Homosexualität und künstlerisches Streben nach Bedeutung in Beziehung wie vorher höchstens mal Thomas Mann.

*

3. Frank Schirrmacher/Harald Schmidt

Dreißig Jahre nach zwölf. In: FAZ, 21. 2. 2005 / ARD, 24. 2. 2005.

Die Reichweite des Feuilletons wird von keinem so hoch potenziert wie von einem Harald Schmidt, der einen Feuilletonartikel nimmt (wie einst den von Stuckrad-Barre über Claus Peymann) und ihn inszeniert. Frank Schirrmacher hat also in der »FAZ« einen seiner Themensetzerartikel geschrieben, in dem es um Kinderarmut und deren langfristige Folgen geht. Schmidt hält drei Tage später den Artikel in die Kamera und variiert dessen Thema mit einem Einspieler in der Art der Verkehrssendung »Der 7. Sinn«, deren Duktus Schirrmacher selbst als Gleichnis für notwendiges demografisches Umdenken benutzt hatte (»Reaktionszeit, Bremsweg, Anhalteweg«). In der anschließenden Befragung des »Familienexperten« Manuel Andrack parodiert Schmidt den behutsam Fragen stellenden Statthalter der Hochkultur im Fernsehen, Alexander Kluge. Die Kombination aus dem Wachrütteltext Schirrmachers und seiner unterhaltsamen Inszenierung durch Schmidt hat beider Agenda 2005 (»Reden wir über Kinder.«) nachhaltig in den gesellschaftspolitischen Diskurs gerückt.

*

4. Hans Magnus Enzensberger

Der radikale Verlierer. In: Der Spiegel, Nr. 45, 7. 11. 2005.

Enzensberger großer »Spiegel«-Essay versprüht den intellektuellen Furor seiner Aufsätze aus den 60er-Jahren. Er liefert dabei keinerlei Lösungsvorschläge, sondern holt weit aus und beschreibt den zeitgenössischen wie den historischen Selbstmordattentäter als »radikalen Verlierer«, der im Abgleich mit seiner Umwelt irgendwann zu sich selbst sagt: »Ich bin ein Verlierer und sonst nichts.« Nach der Feststellung, dass der als natürlich angenommene Selbsterhaltungstrieb »eine fragile, historisch eher junge Vorstellung« ist, illuminiert er die paradox erscheinende Logik des radikalen Verlierers: »Da (…) radikale Verlierer von der Wertlosigkeit ihres eigenen Lebens überzeugt sind, ist ihnen auch das aller anderen gleichgültig; jede Rücksicht auf das Überleben ist ihnen fremd. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ihre Gegner, ihre Anhänger oder um Unbeteiligte handelt.« Die globale Häufung von Selbstmordattentaten, sei es als Schulmassaker, als Familientragödie, als terroristisches Blutbad, »liegt an den sogenannten Verhältnissen. Damit kann der Weltmarkt ebenso gemeint sein wie eine Prüfungsordnung oder eine Versicherung, die nicht zahlen will.« Enzensbergers – wie gesagt – vorschlagsfreier Text endet fatalistisch: »Anschläge stellen ein permanentes Hintergrundrisiko dar, wie der alltägliche Unfalltod auf den Straßen, an den wir uns gewöhnt haben. Damit wird eine Weltgesellschaft, die fortwährend neue Verlierer produziert, leben müssen.«

*

5. Heribert Prantl

Furor und Gesetz. Udo Di Fabios Erneuerung des Bürgertums aus altem Geist. In: Süddeutsche Zeitung, 16./17. 7. 2005.

Ein Artikel von Heribert Prantl im Feuilleton der »SZ«? Und dann auch noch exponiert auf dessen erster Seite? Ganz klar: Prantl ist WÜTEND. Und zwar so sehr, dass er sich mit seinem Wutartikel beeilt hat, um gleich mal die Lesart vorzugeben, Wochen bevor das inkriminierte Buch überhaupt erschienen ist. Seine Beschäftigung mit Udo Di Fabios »Die Kultur der Freiheit« ist denn auch keine klassische Rezension, sondern gleich beinharter Meinungsjournalismus, der sich letztlich gegen Di Fabios Stellung als einflussreicher, aber irgendwie reaktionärer Verfassungsrichter wendet. Denn er vertrete in seinem Traktat ein Frauenbild à la Steffen Heitmann und plädiere für Sozialabbau, und dann schreibe er auch noch, dass Hitler kein echter Deutscher gewesen sei. All das ist natürlich nicht zu glauben. Der Verfassungsrichter, der zuletzt u. a. als Berichterstatter die Klage gegen die Auflösung des Bundestages begleitet hat? Der soll das geschrieben haben? Aber man kann es wie immer auch anders sehen. Trotz Prantls kluger Zitatmontage, bei der Di Fabio so schlecht wegkommt wie nur möglich, trotz der vorzeitigen Totschlagkritik: Es hat nicht funktioniert, Di Fabio letztgültig als bösen Menschen zu brandmarken. Die Sonntags-»FAZ« wählte ihn im November gar zum »Reformer des Jahres 2005«.

*

6. Götz Aly

Wie die Nazis ihr Volk kauften. In: Die Zeit, Nr. 15, 6. 4. 2005.

Götz Alys Buch »Hitlers Volksstaat« und dessen Einordnung wanden sich wie ein roter Faden durch das Feuilletonjahr. Ein Hauch von Paradigmawechsel zog durch die Historik, und das bei einem Thema, das in 60 Jahren wie kein anderes beschrieben, erklärt, verfilmt wurde. Aly wurde dafür gelobt und angegriffen von der Zunft, hat auf Kritik aber immer stehenden Fußes reagiert. In diesem »Zeit«-Artikel antwortet er einem einseitig argumentierenden Hans-Ulrich Wehler, der Aly im »Spiegel« ebenfalls Einseitigkeit in der Argumentation vorgeworfen hatte. Alys Erklärungsprinzip des »Volksstaats« mit »linkssozialdemokratischem Grundmuster« will aber nicht etwa alle anderen Theorien, etwa die Wehler’sche der »charismatischen Führerschaft«, ersetzen. Auch der Vorwurf, Aly unterschätze mit seiner Theorie den Antisemitismus als Triebkraft in 12 Jahren Nazidiktatur, greift nicht, denn Aly stellt das »Volksstaats«-Prinzip und das Raffgiermotiv der volksgenössischen Nutznießer einfach daneben, als Teilmotiv. Abgesehen von diesem geschichtswissenschaftlichen Turn ist Aly vor allem auch als Autor mit Hang zu feuilletonistischem Stil aufgefallen, der die Streitkultur im Feuilletonjahr 2005 belebt und bereichert hat wie kein anderer.

*

7. Matias Faldbakken

Verriß und Vorurteil. Über den erbärmlichen Kritiker. In: FAS, 16. 10. 2005.

Matias Faldbakken, Autor von »The Cocka Hola Company«, hat im »FAS«-Themenfeuilleton »Gegendarstellung«, in dem sich Autoren über ihre Kritiker auslassen durften, eine kleine Erzählung veröffentlicht (und später in die nicht auf Deutsch erschienene Sammlung »Snort Stories« aufgenommen), in der er den armenischen Literaturkritiker Artoun Dilsizian für den »New Yorker« seine Ja-oder-nein-Kritiken entwickeln lässt. Es geht um die größtmögliche Verdichtung von Literaturkritik, um ihre Reduktion auf einen binären Code. Die Titelangaben der von Dilsizian rezensierten Bücher sind jeweils mindestens zehnmal länger als die Urteile selbst. Aber: Es SIND Urteile, und was für welche: Entweder steht JA (»Lesen!«) oder es steht NEIN (»Abort, also: Nicht lesen!«) unter den Buchtiteln, fertig. Der Haken an der Sache: Ja und Nein kann jeder sagen, also ist klar, »daß man sich auf anderen Gebieten Glaubwürdigkeit erarbeiten müsse, damit die minimale Meinungsäußerung ernst genommen werde«. Dilsizian verdient sich diese Credibility auf Societypartys, übertreibt es aber und stürzt ab. Er kann eine Deadline nicht einhalten und daraufhin wird seine Kolumne letztgültig minimiert: Sie wird aus dem Heft genommen.

*

8. Henry Shukman

Stirred and shaken. In: The Guardian, 12. 3. 2005.

Weil das flüssige Halluzinogen Ayahuasca in der Drogenweltliteratur bisher stiefmütterlich behandelt wurde, begibt sich Henry Shukman zu einer Massensession in einem Tanzstudio irgendwo in Santa Fe, das in New Mexico liegt, wo Ayahuasca seit 2002 legal ist, obwohl es »one of the strongest hallucinogens known to humanity« ist. Shukmans Trip-Beschreibung steht in der langen Tradition der literarischen Trip-Beschreibungen; er selbst spannt einen Bogen von Homer bis Irvine Welsh, bezieht sich auf Aldous Huxley, Hunter S. Thompson, Peter Matthiessen, Allen Ginsberg, William Burroughs und Mario Vargas Llosa. Nun also er selbst. Eine Frau, die an der Session teilnimmt, meint hinterher, dass Männer dank Ayahuasca nun erfahren können, was es heißt, ein Kind zu gebären. Und Shukman gebärt – und wird geboren, als Asteroid, wie er später sagen wird. Behütet von einem peruanischen Schamanen würgt er sich während des Trips hauptsächlich von einem Kotzanfall zum nächsten (»each time I felt the nausea, it seemed it would last for ever«) und weiß am Ende, dass er die Amazonasdroge nie wieder anrühren wird. Trotzdem hat sie ihm genützt: Nach einer wochenlangen Schreibblockade kann er nun ein Blatt in A2-Größe mit Ideen und Entwürfen vollkritzeln.

*

9. Hans Zippert

Zippert zappt. In: Die Welt, 5. 10. 2005.

Der tägliche Glossist Hans Zippert ist vor allem deshalb über den grünen Klee zu loben, weil das ehemals konkurrenzlose »Streiflicht« auf Seite 1 der »SZ« inzwischen so dermaßen von schlechten Eltern ist. Aber zurück zu Zippert. Seine Textlein links unten auf der »Welt«-Titelseite sind kurz. Es reicht, sie einmal zu überfliegen, denn sie sind deutlicher und brachialer als jedes »Streiflicht«. Etwa sein Text aus der unsicheren Phase kurz nach der Bundestagswahl, als Gerhard Schröder seinen Machtanspruch einfach nicht aufgeben wollte. Die ersten drei Sätze dieser Glosse lehnen sich ziemlich weit aus dem Fenster und müssen hier nicht wiederholt werden. Es geht zunächst darum, Schröder irgendwie loszuwerden, bevor Zippert vorschlägt, ihn als »Kanzler der Herzen« in ein repräsentatives Amt zu stecken. Der so dank Schröders Machtbegehren neu belebten konstitutionellen Monarchie gibt Zippert den Namen »Schrödertum«, und dieser Begriff beschreibt in seiner lachhaften Überzeichnung die Wochen nach der Wahl so gut, dass er die schwächeren Texte, die Zippert qua täglichen Veröffentlichungsdrucks auch manchmal unterlaufen, vergessen macht.

*

10. Michael Angele/Moritz von Uslar

39 Fragen. In: Netzeitung, 3.-7. 11. 2005.

Die beste Idee der »Netzeitung« in diesem Jahr war die Wiederbelebung des internetaffinen Interviewstils von Moritz von Uslars »100 Fragen« aus dem »SZ Magazin«. In der »NZ« sind es nur noch 39 Fragen, surfgerecht aufgeteilt in drei Akte. Das erste Interview führt Michael Angele gleich mit Uslar selbst. Dessen Highspeed-Fragerei zielte stets darauf, mehr über den Interviewten zu erfahren als in Standardinterviews (Uslar: »Wahrheit statt Pointe«), und auch die »NZ« probiert sich nun etwa in der Technik der nicht weiter präzisierten, ausweglosen Entweder-Oder-Frage: »FAZ oder SZ?« Uslar: »SZ«.

*

[ first published in satt.org, 2. 1. 2006 ]