Best of Feuilleton 2010

Der Goldene Maulwurf

Der Goldene Maulwurf 2010
Die 10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres
*6. Jahrgang*

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(Vorwort und Kommentare hier.)

Inhalt: Väterverriss, Wikipedia, Loveparade, Hegemann, Digitale Gesellschaft, Vegetarismus, Horst Köhler, Zeitungssucht, Sammlung Jägers, Žižek

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1. Christopher Schmidt

Papalapapp. In: Süddeutsche Zeitung, 16. 8. 2010, S. 9.

Der angelegentlichste Verriss des Jahres! An ihn können sich alle nicht nur deshalb noch erinnern, weil der SZ-Rezensent so überschäumte, sondern auch, weil er noch seine Kritikerkollegen mit in den Verriss einbezog, die es sich erlaubt hatten, Thomas Hettches Roman »Die Liebe der Väter« besser zu besprechen. Parallel zum Erscheinen des Romans kam ja das Bundesverfassungsgericht mit seinem Sorgerechts­urteil, das Vätern eines nichtehelichen Kindes mehr Rechte einräumt. Für Felicitas von Lovenberg in der FAZ hat diese Parallelität mit einem Anschluss der Literatur an die »Lebenswirklichkeit« zu tun. Für Schmidt genau nicht, denn schon Euripides habe sich an der Patchworkfamilie abgearbeitet, »die nur damals noch nicht so hieß«. Herrlich! Euripides! Ansonsten trifft es noch Jens Jessen von der »Zeit« und Volker Weider­mann von der FAS (und implizit auch uns, die wir Hettches Roman für einen der besten der Saison halten). Schmidt war eventuell so was wie der Kritiker des Jahres, der auch durch seinen Martenstein-Verriss in größere Erscheinung getreten ist (dessen Replik im »ZEITmagazin« hat es sogar bis ins Fernsehen zu »3nach9« geschafft). Schmidts Hettche-Verriss ist auch gleich die Gegenprobe zu Sibylle Lewitscharoffs Lamento in der »Welt«: »Warum sind die Kritiken bloß so schlaff?« Und es gibt Vieles, was man gegen Schmidt vorbringen könnte, aber nicht, dass er alternativlos verreißen würde. Am Ende steht sein Hinweis auf Tom Drurys Roman »Die Traumjäger« (2000, dt. 2008). »Wunderbar leise-lakonisch« sei dieses Buch, eben ganz im Gegensatz zu Hettche und aber lustigerweise eben auch zu Schmidt.

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2. Mathieu von Rohr

Im Innern des Weltwissens. In: Der Spiegel 16, 19. 4. 2010, S. 152–156.

Der epistemologischste Artikel des Jahres kommt wie beim »Spiegel« üblich als mitreißend erzählte Story daher. Es geht um das Back-End der deutschsprachigen Wikipedia, dessen soziale Mechanismen anhand eines Edit Wars um den Eintrag zum Wiener Donauturm beschrieben werden, der Ende Oktober 2009 entbrannt ist. Der Versicherungsberater und Turmspezialist Wladyslaw Sojka hatte aus dem »Aussichtsturm« nach reiflicher Überlegung einen »Fernseh- und Aussichtsturm« gemacht, es folgte eine Diskussion, die in 600.000 Zeichen ausuferte, der Länge eines ansehnlich dicken Romans: »Sehr bald ging es nicht mehr um den Donauturm. Es ging um die Wahrheit und darum, wer sie gepachtet hat.« Mathieu von Rohr porträtiert einige weitere Lexikonaktivisten und zeichnet ein recht abenteuer­liches wie genaues Bild der Wikipedia-Hinterzimmer, nebenbei kommen ziemlich viele Anekdoten mitgeschwommen, z. B. über unangemeldete Nutzer, die »in den Artikel über Diderot ›ficken‹ reinschreiben«, über ein paar Wikipedia-Prominente wie Orientalist, Fossa und DerHexer, über »Wikifanten« und über die erste Version des Artikels zur »Nord­see« (»Die Nordsee ist ein Mehr, …«). Das Daten-, Fakten- und Anek­dotenbad endet zwar in einer eher zu lustig zugespitzten Pointe, aber egal: »An guten Tagen sei Wikipedia besser als jede Soap.« Übrigens feuern ja gerade anlässlich des 10. Geburtstags der Wikipedia, der gerade ansteht, alle Zeitungen Artikel über das Lexikon raus, sehr gute Artikel (Meike Laaff in der letzten sonntaz, Peter Praschl in der letzten WAMS). Für den von uns gekürten »Spiegel«-Artikel spricht also zusätzlich noch die relative Anlasslosigkeit, die überhaupt eine unserer Lieblingskriterien für schönes Feuilleton ist.

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3. Stefan Niggemeier

Ein einziger Blick in die Zukunft hätte doch gezeigt … In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. 8. 2010, S. 23.

Ein herausragender metajournalistischer Artikel über die Berichter­stattung nach der Loveparade-Katastrophe im Juli, über den wohlfeilen Besserwisser-Gestus vieler Profimedien. Schon die Überschrift und der erste Satz sind kleine Meisterwerke bitter-ironischer Veranschauli­chung. In seinen Anfangsjahren war Niggemeier selbst ein paar Jahre Autor einer Regionalzeitung, heute zeigen viele seiner Texte, dass ihm der Zustand des Lokaljournalismus besonders am Herzen liegt. Hier zerlegt er beispielhaft das nachträgliche Bescheidwissen zum Beispiel der Neuen Ruhr Zeitung, die sich von der International Herald Tribune für einen Text mit dem Titel »Stoppt die Loveparade!« feiern ließ, der zwar über ein halbes Jahr vor dem Unglück erschienen ist, in dem es aber gar nicht um unzureichende Sicherheitsmaßnahmen ging, sondern um die Finanzierung des Events. Vom Duisburger Lokalchef der NRZ kriegt Niggemeier dann eingeräumt, dass die IHT da tatsächlich was missverstanden haben muss: »Wir waren immer gegen die Lovepara­de, aber aus anderen Gründen.« Als »Machwerk« im Besserwisser-Style kritisiert er auch die »Spiegel TV«-Reportage über das Unglück, seine Beschreibung der »Anmaßung der Rolle als Ankläger, die viele Medien nun eingenommen hatten«, gewinnt so grundsätzlichen Charakter, zur Wiedervorlage bei der nächsten Katastrophe.

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4. Simone Meier

Die Schönheit des kaputten Kindes. In: Tages-Anzeiger, 2. 2. 2010, S. 31.

Simone Meier hat die einzige dezidiert kritische Rezension des Helene-Hegemann-Romans »Axolotl Roadkill« gewagt, bevor ab dem 5. Februar der Hype um das Buch in eine Plagiatsdebatte umschlug. Meier wun­dert sich einen Absatz lang über die teils fast peinlichen Lobeshymnen ihrer Kritikerkollegen, dann legt sie selbst Hand an und beginnt gleich mal mit dem Urteil: »Das Buch ist nämlich überhaupt nicht gut und gar kein Lesegenuss.« Es folgen ein paar Kraftwörter, um den Stil zu beschreiben (»altkluges, pseudophilosphisches … Gekotze … einer heftigt Pubertierenden«, »delirierendes Imponiergehabe«). Und sie hat ein Gefühl, das nach ihr auch andere haben werden: »Man könnte nämlich behaupten, dass Helene Hegemann genau so schreibt, wie ihr Vater redet.« Meier bringt das aber nicht triumphal mit dem Gestus der Entlarvung hervor, sondern erklärt das auf ganz banale Weise: »Nie ist es so einfach wie in der Pubertät, die perfekte Nachahmung eines Diskurses oder eines Vorbilds selbst herzustellen.« Hegemanns Werk habe seinen »wahren Kern« darin, dass es den »hässlichen Bodensatz der Berliner Bohème« darstelle, in dem sich »die Kinder der Generation Selbstverwirklichung« mit ihren Eltern gleichen, den »Restposten aus der spätkindlichen Infantilgesellschaft«. Und ach ja, außerdem sei übri­gens Hegemanns MySpace-Seite ganz gut, ein »ironischer Hallraum«, der im Buch fehle. Und das ist neben der Gleichgültigkeit gegenüber dem Hype am beeindruckendsten: »Dass Frau Meier es schafft, einen Text, der derart offen auf seine Subjekte einschlägt, versöhnlich enden zu lassen« (Lukas Heinser).

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5. Jakob Augstein

Mein Hirn gehört mir. In: Welt am Sonntag, 7. 2. 2010, S. 55.

Was für eine Drastik: Der »Freitag«-Verleger und »Spiegel«-Anteils­eigner schreibt in der WAMS über ein Buch des FAZ-Mitherausgebers, das er gegen unzulängliche Rezensionen in der taz und in der SZ in Schutz nimmt. Ein Crossover vom Feinsten, über alle bekannten Zeitungsgrenzen hinweg. Der Text beginnt und endet mit Edgar Allan Poes »Mann in der Menge«, einem Verdächtigen, der Poes Erzähler ein Rätsel bleibt, den heutige Software-Agenten aber vermutlich erst mal an die Behörden melden würden, »weil er sich nicht lesen lässt«. Mit diesem parabolischen Bild schwenkt Augstein hinüber zum »Payback«-Buch von Frank Schirrmacher, der sein uraufklärerisches Anliegen gegenüber Alexander Kluge so zusammengefasst hat: »Die Algorith­men müssen in Narration übersetzt werden.« Das Buch war nun zwar auch ein Bestseller, die entscheidenden Stellen seien laut Augstein aber nicht in den Diskurs eingegangen. Stattdessen sei es den Rezensenten um Äußerlichkeiten gegangen, das Thema sei nicht mal ansatzweise abgebildet oder verarbeitet worden. Augstein macht eine systematische Diskursverweigerung aus, auch auf den immer mal wieder stattfindenden Konferenzen zur digitalen Gesellschaft gehe es »weniger um Ankoppelung der technologischen Avantgarde an den gesellschaftlichen Diskurs als um die Frage, wie im Netz Geld zu ver­dienen sei«. Augstein selbst geht es natürlich ebenso um die Zukunft der Medien, aber eigentlich gebe es Wichtigeres zu diskutieren: »das Schicksal des Individuums«. Eine Prise Pathos also, aber warum nicht, ein Antiversäumnistext, der noch dazu gut geschrieben ist, nicht jam­mernd, sondern argumentativ in der gebotenen Kürze und Klarheit einer Intervention.

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6. Iris Radisch

Tiere sind auch nur Menschen. In: Die Zeit 33, 12. 8. 2010, S. 41–43.

Die Überschrift klingt erst mal nur wie eine Parole der Umweltgruppe der Klasse 9a. Der lange, lange Text, der ihr folgt, zeigt aber mal wieder, was für eine begnadete Polemikerin Iris Radisch ist. Vegeta­rismus ist ja vom Ernährungsstigma zum »feinen Unterschied« avan­ciert, das hakt sie auch kurz ab (»Vegetarismus-Chic in den besseren Kreisen«). Sie konzentriert sich dann darauf, die Natur- sowie die Kulturthese der Fleischlobbyisten zu entkräften. Dabei wird die Diskussion um den Vegetarismus auf einen Grad an Ursprünglichkeit zurückgeführt, dass man sehr erstaunt ist, so etwas in einem voraus­setzungsreichen Medium wie einer Zeitung zu lesen. Wie in vielen Radisch-Artikeln wechseln sich scharfe Formulierungen, denen man sich kaum entziehen kann, mit banalen Argumenten und seltsamen Volten ab. Etwa fordert sie Fleischesser, denen es einfach nur unreflektiert schmeckt, nach einem Drittel des Artikels nachgerade dazu auf, »betrüblicherweise spätestens an dieser Stelle die Lektüre des Artikels ab[zu]brechen«. Dabei würde man dann allerdings wunderschön grelle Zuspitzungen verpassen: »Der Mensch kann Klavier spielen und Porsche fahren, das Schwein kann sich nur im Sand suhlen. Was also liegt da näher, als es zu essen?« Und selbst die wildeste, nerdigste Spekulation ist noch in die eleganteste Formulierung gepackt: »Und was, wenn die Evolution noch eine Ehrenrunde dreht und eine Spezies hervorbringt, die uns für dumm hält und deswegen einsperrt und auffrisst?« Vom Auslöser des Vegetarismusdebattenjahres, dem Kompromissler Jonathan Safran Foer mit seinem Buch »Tiere essen«, grenzt sie sich übrigens ab: »Für ihn gibt es, was für mich undenkbar ist: ›ethisch unbedenkliches Fleisch‹.«

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7. Nils Minkmar

Der Fahnenflüchtling. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 6. 2010, S. 29.

Illoyal! Feige! Fahnenflüchtling! So wuchtig schallte es aus der Dienstags-FAZ, direkt am Tag nach dem Rücktritt Horst Köhlers als Bundespräsident. Es war ja auch kaum ein Jahr her, dass er sich zu einer zweiten Amtszeit bereiterklärt hatte. Noch immer weiß niemand, warum Köhler tatsächlich zurückgetreten ist, es gibt nur Spekulatio­nen, und Minkmar konzentriert sich natürlich auf die vom Fahnenflücht­ling angegebenen Gründe: die Debatte um sein Deutschlandradio-Interview, in dem es um den Zweck militärischer Einsätze ging. Die kaum minder prominenten Rücktritte von Margot Käßmann und Roland Koch ordnet Minkmar als »komplexe Rollensuche in unübersichtlichen Zeiten« ein, der Köhler-Abgang aber sei, da letztlich ohne plausiblen Grund, »zum Heulen vor Wut und in jeder Hinsicht eine Katastrophe«. Damit gesellt sich Minkmar, der sich »leicht schafsartig« fühlt, avant la lettre zu den Wutbürgern des Jahres 2010 und zeigt sich solidarisch mit ihnen: »die Mehrheit kann das nicht: einfach zurück- und abtreten« in einen »unbehelligten Ruhestand«. Ein besser empörtes Politfeuil­leton gab es nicht im vergangenen Jahr. (Thomas Strobl fragte Minkmar übrigens nach Erscheinen des Textes, ob er das mit dem »Fahnen­flüchtling« nicht »ein wenig hart« finde. Tut er nicht.)

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8. Michael Angele

Die Leiden des Zeitungssüchtigen. In: der Freitag, 25. 2. 2010, S. 13.

Einer der schönsten Sätze des Jahres: »Zweifellos sehen nur wenige Menschen den Sinn ihres Urlaubs darin, nach einer Zeitung vom Vortag zu suchen.« Michael Angele entscheidet sich demgemäß dann auch dagegen, am Istanbuler Sirkeci-Bahnhof die dort »sündhaft teure« FAZ vom Vortag zu kaufen. Einige Stunden später kehrt er allerdings reumütig dahin zurück, zu spät: Jemand anderes hat ihm die FAZ schon weggekauft, ein zeitungslesender »Komplize«, er deutet das als eigentlich gutes Zeichen. Auch auf den Kykladeninseln ist Angele mal ein Zeitungskauf vereitelt worden, die Fähre fiel aus, die FAS kam nicht. Von diesen Erlebnissen schlägt er den Bogen zu Thomas Bernhards vergeblicher Odyssee zu einem Exemplar der NZZ, beschrieben in »Wittgensteins Neffe«. Warum das Ganze? Es gibt natürlich das Internet, es gibt Spiegel Online, aber Zeitungen böten eben ein »Mehr«, und Angele bezweifelt, »dass es in den neuen Medien gut aufgehoben ist«. Er sammelt Indizien, er feiert z. B. die »schlichte Großartigkeit« der Rubriktitel der FAZ (»Unternehmen und Wetter«, »Deutschland und die Welt«). Er ist wie berauscht und wir mit ihm, spricht vom Zeitungslesen als gelebtem Kosmopolitismus, bringt es als perfektes Alibi ins Spiel (»wer Zeitung liest, schießt nicht«), beklagt sich über Airlines mit den falschen Zeitungen und bezeichnet das Zeitungsrascheln als »Flügelschlag der Engel«, Feuilletonismus­kitsch der Spitzenklasse! Eine zusammenhängende Argumentation gibt es letztlich nicht, dafür aber schöne Sozialisationsmomente und klinische Befunde für das Lebensgefühl Zeitungssucht.

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9. Renate Meinhof

Beute Kunst. In: Süddeutsche Zeitung, 16. 10. 2010, S. 3. (nicht online)

Seit Herbst sind quasi im Minutentakt neue Artikel über die Fälschun­gen aus der so genannten »Sammlung Jägers« veröffentlicht worden, jeder Text ein Rekonstruktionsschnipsel zum Kunstkrimi des Jahres. Im »Spiegel« 44/2010 zum Beispiel haben fünf Autoren den Fall als großen Abenteuerroman nacherzählt. Zwei Wochen davor war aber auf der »Seite 3« der SZ schon ein Artikel von Renate Meinhof erschienen, unserer Preisträgerin von 2007. Ihr Text war der erste, der die Neugierde nach einem Narrativ zum Fälscherskandal vollauf befriedigte. Sie setzte damals prägnante Glanzpunkte auf alle Kategorien des Falls: den Markt, die Experten, die Fälscher. Ihr Text beginnt mit einem Besuch beim Kunsthistoriker und Max-Ernst-Intimus Werner Spies, der sich bei der Identifizierung von Max-Ernst-Bildern aus der angeblichen Sammlung »siebenmal geirrt haben« soll. Sie fragt ihn: »Ist das nicht eine schwierige Verknüpfung, einerseits ein [Echtheits-] Zertifikat abzugeben, und andererseits an der Vermittlung des Werkes zu verdienen?« Die Sekunden vor der Antwort wären im Kino ein Moment der Mucksmäuschenstille, man wartet, ob da gleich noch eine Bombe platzt. Mit dem Wissen von heute stockt einem auch der Atem, als die Begegnung zwischen Werner Spies und der mutmaßlichen Fälscherfamilie auf deren Anwesen in Südfrankreich geschildert wird. Insgesamt zeigt der Artikel, dass Empathie beim Zeitungslesen möglich ist, sowieso eine der Hauptbotschaften der täglichen »Seite 3«. Am Ende des Textes steht ein Gastauftritt des Parkinsonpatienten Edgar Mrugulla, des »Königs der Kunstfälscher«. Was er zur Genialität der »Jägers«-Fälschungen sagt, ist erwartbar, aber ganz nebenbei fällt noch ein großartiges feuilletonistisches Bild ab, die Beschreibung seiner vom Körper entrückten wächsernen Madonnenhände, die einst Picasso und Beckmann gefälscht haben.

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10. Philipp Oehmke

Der Denkautomat. In: Der Spiegel 27, 5. 7. 2010, S. 98–102.

Ein seitenlanges »Spiegel«-Porträt, ist das »ein Depp wie Žižek« (Hel­mut Krausser) überhaupt noch wert? Schon die Überschrift des Artikels scheint in diese Kerbe zu hauen, der »Denkautomat« soll wahrschein­lich gleich wie die erste Schmähung klingen, der Anklang an Leibniz’ »Automate spirituel«, eventuell auch an Deleuzes Wunschmaschinen usw. schafft aber auch die allerschönste Sinnverwirrung. Insgesamt gelingt Oehmke ein überzeugendes Stück über Personality Shows im heutigen akademischen Milieu. Und er findet für Žižeks eklektizistisches Denken, seine Vorliebe für Paradoxa, sein verschwitztes Auftreten eine atemberaubend zutreffende Formulierung: Das sei »Stand-up-Comedy für eine linksradikale Avantgarde«, das kann man so eigentlich gleich in alle relevanten Lexika übernehmen. Der Text ist mustergültig aufge­baut und um den Kommunismus-Kongress an der Volksbühne (Juni 2010) herum erzählt, es gibt einen computerspielartige Spannungs­bogen (Wird er seinen Vortrag trotz aller Hinder- und Ärgernisse noch halten können?). Vieles gehört hier zum Besten, was der »Spiegel« zu bieten hat. Trotzdem ist es natürlich ein unauflösbares Problem, dass Oehmkes polemischer Grundton und seine unterhaltsam ausgewählten Anekdoten letztlich doch wieder nur zur Žižek-Folklore beitragen.

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[ veröffentlicht am 11. 1. 2011 ]