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Interview mit Moritz von Uslar zu Meldungen aus dem Wald (MadW)

Frankfurt/M., Zürich, 26. Juni 2025, 08:47 | von Charlemagne

Der Umblätterer: Gar nicht einfach, in so ein Interview reinzufinden, daher vorneweg erstmal ganz locker: Wie geht’s Dir gerade, Moritz, und wo beantwortest Du diese Fragen?

Moritz von Uslar: Es geht: entsetzlich gut. Danke der Nachfrage. Sitze hinter geschlossenen Rollläden in Zürich-Seefeld. Draußen 32 Grad.

Der Umblätterer: Seit gut einem Jahr schreibst Du Deine Meldungen aus dem Wald. Fränkischer Alltag zwischen Borkenkäfer und Schützenverein. Wie bist Du da drauf gekommen, in den Wald zu gehen und für alle mitzuschreiben?

Moritz von Uslar: Ich denke ja, schon immer: Ideen werden überschätzt. Die wichtigen Dinge liegen logisch vor einem, praktisch unter dem Niveau des viel gesuchten guten Einfalls. Man muss nur zugreifen, sagen, was ist (Rudolf Augstein). Ich bin im Wald, ich möchte warm bleiben im Prozess des Schreibens, ich bin so weit von allem weg, dass sich das Beschreiben des Alltags wie Meldungen vom Mond anfühlt – ich schreibe also, folglich: Meldungen aus dem Wald.

Der Umblätterer: Du kannst deine Texte jetzt einfach raushauen, ohne Abgabetermine und Lektorat: angenehm easy oder fehlt Dir da jetzt was? Stichwort: Produktionsphantomschmerz?

Moritz von Uslar: Abgabetermine sind pervers und gleichzeitig gut und eben produktiv, genau – ich könnte Romane darüber verfassen, wie der böse Druck des Abgabetermins viel verhindert hat und gleichzeitig, eben oft unter Schmerzen, dabei hilft, Widerstände zu überwinden und überhaupt in den ersten Absatz hineinzufinden. Nach 35 Jahren Journalismus und Nahkampf mit dem Abgabetermin, bin ich derzeit offengestanden einfach nur froh darüber, dass es und wie gut es auch ohne äußeren Druck geht.

Der Umblätterer: Ganz egal, ob Du dich aus dem Flixbus, Berlin Mitte oder Tennessee meldest, man erkennt dich immer sofort wieder. Größtes Talent: einfach drauflosschreiben und wissen, der SOUND wird’s schon richten?

Moritz von Uslar: Interessant, früher, also bis in meine Zeit beim SZ-Magazin hinein (Neunzigerjahre), hätte ich gesagt: Es braucht nur Sound, was soll es sonst geben außer den Rhythmus, die Musikalität der Worte, etwas anderes trägt eh nicht. Heute, wo mir ein von Ihnen zitierter Sound attestiert wird und offenbar zur Verfügung steht, denke ich: Gäbe es eventuell auch wirklich etwas zu sagen? WAS will ich sagen? Für was wollen wir das ausnutzen, dass da Leute, die Leserinnen und Leser, für einen Moment bereit sind, dem Text zu folgen? Beim Tippen der Meldungen habe ich zuletzt wieder gemerkt, und es war ein schönes Gefühl, ich genieße das gerade sehr: Ich lasse mich gerne wegtragen, ich mag das, wenn dem Text der Wind in die Segel bläst und the boat einen Ruck nach vorne tut.

Der Umblätterer: Was ist das überhaupt, SOUND? Und: geht’s auch ohne?

Moritz von Uslar: Sicher geht es auch ohne. Aber ich würde sagen: Das Hirn anheizen, den Körper in Bewegung bringen, dancing to the music of words, das geht eben nur über Rhythmus, das geht nur über Musikalität.

Der Umblätterer: Welche Rolle spielt POP heutzutage? Was kann uns POP in unserer aktuellen Gegenwart noch sagen?

Moritz von Uslar: Ich verstehe die Frage nicht. Und zitiere dabei meinen Freund DJ Hell, dem nach jede Frage mit den immer selben drei Sprachfiguren beantwortet werden kann. Figur eins: Zu Recht. Figur zwei: Ich habe ein gutes Gefühl. Figur drei: Ich verstehe die Frage nicht. Die Antworten sind natürlich allesamt Zitate vom Fußball-Spielfeldrand, wo Sprechen unter enormem Effizienz- und Zeitdruck und in tosend lauter Geräuschkulisse stattfindet und der genervte Fußballprofi dem Reporter Frage und Antwort stehen muss.

Der Umblätterer: Letzte Woche hast Du deinen Abschied bei der Zeit gegeben. Im Gespräch mit Rainald Goetz (»Chateau Royal« in wrong, 2024, S. 331–359) hattest Du Deine Pause bereits angedeutet, vielleicht auch eine längere. War’s das jetzt mit dem Feuilleton für Dich?

Moritz von Uslar: Ich denke: Ja, das war es für mich erstmal mit dem Für-das-Feuilleton-der-Zeit-Schreiben. Mit dem Feuilleton – als Art des Denkens, Herangehens an Themen, Text und die vielen Unterthemen und Randthemen des Lebens – war es das natürlich nicht. Feuilleton ist für mich: von etwas Kleinem kommend ins Größere hineindenken. Fürs Feuilleton gilt auch: Kein Thema ist zu klein.

Der Umblätterer: Überhaupt, warum ist das Feuilleton mittlerweile so langweilig (sorry, sorry)?

Moritz von Uslar: Ist das nicht selbst ein wohlfeiler, schon tausend Mal gehörter und maximal uninspirierter Satz, die Klage über das angeblich langweilige Feuilleton? Gegenfrage: Welches Feuilleton ist gerade besonders langweilig, das der SZ, das der FAZ oder doch das der NZZ, wo ein gut aussehender, smarter 35-Jähriger neuerdings das Feuilleton leitet? (Sorry, der gut aussehende NZZ-Feuilletonchef beruht auf einer unsicheren Faktenlage, das gebe ich gerne zu, aber so etwas Ähnliches, unmittelbar gute Laune Machendes kam mir jüngst zu Ohren). Ich habe noch nie ein Feuilleton in der Hand gehalten, in dem nicht wenigstens ein interessanter Text stand, meistens waren es zweieinhalb lesenswerte Texte. Und, nicht zu unterschätzen: Auch die gescheiterten, uninspirierten, dahingeschlampten Feuilletons sind auf eine Art natürlich interessant. Auf der Basis, dass das Hirn lesend das ersetzt, was fehlt, bzw. gegen schwache Gedanken anzudenken versucht. Stimmt nicht? Noch mal alles anders? Okay.

Der Umblätterer: Fränkischer so called Alltag, Lob der Gartenarbeit, ein frühes Bier: sieht so das Glück aus?

Moritz von Uslar: Keine Ahnung. Fuck Glück.

Der Umblätterer: Und jetzt, lieber Moritz? What’s next?

Moritz von Uslar: Ich würde sagen erstmal: weiter machen. Mein Hauswart am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg – namentlich Harald Seewald, ein sehr guter Mann – sagte das immer zum Abschied nach Telefonaten, stets Handwerker-mäßig sehr kurz und sachlich und effizient gehalten, er hatte ja keinen Bock auf reden. Die Telefonate gingen immer los mit: »Watt will er?«, geil berlinerisch rausgeschnauzt. Und endeten mit: »Weitermachen, Moritz, weiiiiiiitermachen.« Mir hat das immer sehr eingeleuchtet. Und, in den Tag hinein, einen schönen Schwung mitgegeben.

Der Umblätterer: Zum Schluss noch die wirklich wichtigen Fragen. Dein liebstes fränkisches Wort?

Moritz von Uslar: Da gibt es: waafen. Heißt so viel wie: plaudern, fröhlichen Unsinn miteinander reden. Aber das Wort erklärt sich lautmalerisch ja ganz von selbst.

Der Umblätterer: Das beste fränkische Bier?

Moritz von Uslar: Das ist ja wurscht. Es gibt ja etwa 600 gute fränkische Biere, jedes 200-Seelen-Dorf in Oberfranken hat sein eigenes Bier, eins köstlicher als das andere. Die bayerischen Biere sind ein Witz gegen die fränkischen, das weiß ja auch jeder.

Der Umblätterer: Der größte lebende Franke?

Moritz von Uslar: Da würde ich sagen: Größe und Franke, das schließt sich – auf eine maximal wohltuende Art – gegenseitig aus.
 


Warm und grau

Frankfurt/M., 1. September 2019, 22:33 | von Charlemagne

Man wird halt auch älter, da ist es, fürchte ich, ganz normal, dass die Helden weniger werden. Und es ist ja auch nicht so, dass sie dann für immer weg sind, sie kommen nur anders daher. Dirk von Lowtzow zum Beispiel schreibt jetzt auch Bücher und hat graue Haare, ist aber immer noch der beste und schönste Musiker. Außerdem ist er damit in sprichwörtlich bester Gesellschaft, Rainald Goetz ist ja auch seit Jahren ganz grau, mein Apfelweinhändler Jens Becker ebenso und bei Christian Kracht dauert es bestimmt auch nicht mehr lange.

Genau andersherum verhält es sich hingegen mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ist heute ganz bunt und überhaupt nicht mehr so schön grau wie früher, als Titelbilder noch selten und eine angenehme Überraschung waren und die Kommentare noch Frakturüberschriften hatten und gelesen wurden. An öffentlich-unglücklich intrigierende Herausgeber kann ich mich auch nicht erinnern.

Aber eigentlich soll dieser Text ganz woanders hin, nämlich, über Umwege, die ich der hiermit ausgerufenen und damit gleichzeitig auch wieder für beendet erklärten Michael-Angele-(auch grau!)-Festwoche zuschreibe, zum »Letzten Zeitungsleser«. Nach dem furiosen Schirrmacherritt (wir berichteten) musste ich das Buch natürlich auch sofort lesen. Es ist mindestens genauso toll, und hat sogar einen hidden bonus track. Denn schon allein bei der äußerlichen Betrachtung des Buches musste ich an so viele »wo kriegen wir hier in der Einöde jetzt noch eine FAZ«-Geschichten aus Familienurlauben denken, dass ich erst mal eine halbe Stunde schmunzeln und dann nur ein kleines bisschen um dieses mittlerweile wie selbstverständlich verlorene Ritual weinen musste. Und da haben wir noch gar nicht über die zweistündige Fahrt durch die staubtrockene Toskana gesprochen, um, überglücklich, eine FAZ vom Vortag zu ergattern, eine Mittwochsausgabe.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 165
Katja Kullmann: »Rasende Ruinen – Wie Detroit sich neu erfindet« (2012)

Düsseldorf, 23. August 2019, 13:16 | von Charlemagne

Das Buch von Katja Kullmann hat 90 Seiten und das passt natürlich ganz ausgezeichnet, da ich in den Neunzigern des letzten Jahrtausends in einem schmucken, im Gegensatz zu Detroit natürlich sehr sicheren, plüschig manikürten Vorort der Motor City in den Kindergarten ging. So viel zur Einleitung, oder, um den bekanntesten noch lebenden Sohn der Stadt zu zitieren: Welcome to Detroit.

Die zeitlose Idee, dass aus Ruinen irgendwann auch wieder etwas Neues aufersteht, lässt sich an Detroit tatsächlich sehr schön durchdeklinieren, und Katja Kullmann hat darüber ein schlaues kleines Buch geschrieben, trust me on that one (für interessierte Leser sei hierzu auch Jeffrey Eugenides‘ Roman »Middlesex« empfohlen, da werden die Geschichte der Stadt, der »white flight« und der Detroit Riot von 1967 sehr eindrücklich erzählt).

Die These allerdings, dass das bei Detroit irgendwann berlineske Züge annimmt, well, da war ich dann doch etwas skeptisch. Also hin, nachschauen, ohne Hoodie. Das war 2014, ich war zu Besuch aus der Windy City, und da sah downtown tatsächlich sehr nett aus, da saßen Menschen unter freiem Himmel und tranken überteuerten Kaffee, sehr zur Verwunderung meiner Mutter, die die Gegend von damals nur als forbidden inner city warzone kannte. Tja, was das ganze Geld von Dan Gilbert & Co. so angerichtet hat, Bilderbuchgentrifizierung halt.

Beim Verlassen der Stadt, vorbei am leuchtenden Comerica Park und auf dem Weg hinter die Fassade, denkt man dann aber doch rasend schnell wieder an den unsäglichen Begriff des »ruin porns«, der bringt das leider immer noch ganz gut auf den Punkt: die Stadt als ausgebranntes, trauriges Paradebeispiel für den Niedergang des American Dream, jetzt aber mit paar bunten Bildern an den Hauswänden.
 

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Katja Kullmann: Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet. Berlin: Suhrkamp 2012. S. 7–93 (= 87 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Once Upon a Time im Feuilleton

ICE 727, irgendwo hinter Köln-Deutz, 25. Juli 2019, 18:50 | von Charlemagne

Nach knapp 100 Seiten musste ich das Buch dann erst mal zur Seite legen, das war einfach viel zu viel, hatte ich es bis dahin ja einfach inhaliert und nicht zur Seite legen können, und hiermit jetzt einfach die dritte Doppelung direkt zum Texteinstieg abgeliefert.

Was Michael Angele da in seinem, und ich bemühe den Begriff hier besonders gern, Docufiction-Shocker alles über Leben, Wirken und Lebensdichten des Frank Schirrmacher auffährt, liest sich so aufregend, spannend und klatschbegeistert, als hätten wir es endlich geschafft, den hive mind des Umblätterers anzuzapfen und das Ergebnis auf Papier zu bringen.

Es tauchen halt auch wirklich alle Schutzheiligen unserer Maulwurfsbande im Buch auf, von Karl Heinz Bohrer über Henning Ritter bis hin zu Rainald Goetz, und ich bin erst bei der Hälfte des Buches angekommen. Florian Illies, David Wagner etc. pp., eh klar. Dazu noch so herrlich absurde Geschichten wie das Abendessen mit Helmut Kohl (wetten, es gab rheinischen Saumagen? warum gibt’s zum Hauptgericht keine Informationen!), und da haben wir von der Taktik des gezielten Nichtbeachtens noch gar nicht gesprochen. Und und und.

Eigentlich also alles bisschen wie bei Quentin Tarantino, der sich eine Geschichte nimmt, einige vergessene Akteure mit neuen Ideen um ein großes Thema zusammenwirft und daraus dann ein Meisterwerk zimmert. Und wären wir jetzt noch relevant, würden wir den Vergleich noch bisschen mehr rausarbeiten, aber den Stress müssen wir uns zum Glück nicht mehr machen. Ich lese stattdessen erst mal schnell weiter.

Von meinem iPhone gesendet
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 88)

sine loco, 5. Januar 2019, 10:45 | von Charlemagne

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

EspressoEspresso, FFM

Frankfurt am Main
Das »EspressoEspresso« in der Braubachstraße.

(Schönste Kaffeebar, direkt gegenüber der neuen Altstadt. Früher bin ich für so was immer nach München ins Schumann’s gepilgert, da hatten die Baristas immer so schöne weiße Schürzen an und ich las die »Süddeut­sche«; hier in Frankfurt trägt das Team einen schönen Mix aus Anzug und Streetwear, also elegant urban, eben Frankfurt. Nach Sonnenuntergang einen Aperitif, der die Lektüre der ansonsten etwas staubigen »Frankfurter Allgemeinen« zum Tanzen bringt. Von meinem iPhone gesendet.)
 


Oh, wow

Frankfurt/M., 20. Dezember 2018, 17:57 | von Charlemagne

Joan Didion, diese großartige, unendlich kühle und mittlerweile etwas überstrapazierte amerikanische Autorin, hat uns vor fast 40 Jahren gezeigt, wie man mit wundersamen Zuschriften umgeht, und eigentlich sollte man ihre Antwort als zusätzliche Unterschrift unter das Logo unseres Maulwurfbaus setzen, also

Der Umblätterer
* In der Halbwelt des Feuilletons *
Oh, wow.

Denn genau dieses anerkennende, abwägende, leicht resignierte und letztendlich spottend gönnerhafte, nach Harald Schmidt klingende »oh, wow« schießt mir seit ein paar Jahren beständig durch den Kopf, wenn ich versuche, das zu lesen und zu feiern, was früher das überlebenswichtige und unnachahmliche deutsche Feuilleton war und mich heute nur noch langweilt.

Nach dem Abitur, während andere mit dem Rucksack durch Australien reisen mussten, um sich einen Traum zu erfüllen, habe ich mir als Belohnung für die Zeit bis zum Studienbeginn die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung bestellt, um tagein tagaus auf dem Balkon brütend deren Feuilletons ritualisiert durchzupflügen.

Zur Abkühlung zwischendurch gab es Rainald Goetz’ KLAGE auf der Homepage der deutschen Ausgabe der Vanity Fair, Arne Willander im Rolling Stone und sonntags mein Lieblingsfeuilleton in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bisschen wie beim Fußball kann ich noch heute die Aufstellung meiner damaligen Lieblingsmannschaft runterbeten, häufig habe ich überhaupt erst geschaut, wer über welches Thema schreibt und war schon enttäuscht, wenn es keine neuen Texte von Johanna Adorján, Claudius Seidl, Niklas Maak oder wenigstens Gastbeiträge von Hans Ulrich Gumbrecht oder Christian Kracht im Reiseblatt gab. Am schlimmsten waren die Sonntage, an denen Frank Schirrmacher die erste Seite bespielte, das waren leider häufig zähe Angelegenheiten, da half dann fast gar nichts mehr.

Dann ging’s für mich zum Studium, Zeitung las ich nur noch sonntags, donnerstags gab’s Stuckrad Late Night, Rainald Goetz tauchte erst auf, dann ab, und seit kurzem ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes – YEAH, we’ve stopped living this way.

Und heute? Die Lieblingsautoren leben zum Glück (fast) alle noch, doch die Magie, das Unmittelbare des Feuilletons ist verschwunden. Ab und zu blitzt sie noch mal auf, wenn zum Beispiel Danilo Scholz dieser Zeit in der taz hinterherschreibt oder Max Scharnigg etwas Platz gegeben wird. Doch größtenteils schreiben die Leute (schon wieder? immer noch?) über Ernst Jünger, führen seltsame Interviews oder Ein-Themen-Experten, schreiben irgendwas Blitzgescheites über China und ich sehe die Überschriften, sehe die Autorennamen, die meist öde Bildersprache und denke, ja, superschlau, gelehrt und gelernt, und der eigentliche Text erst, – oh, wow.
 


Margin Call

Düsseldorf, 11. September 2018, 11:56 | von Charlemagne

Seit der Veröffentlichung seines Docufiction-Meisterwerks, »Die Murau Identität«, vor vier Jahren habe ich einen Google Alert für Alexander Schimmelbusch am Laufen.

Nicht nur, weil der Autor mit dem schönen Nachnamen ein so unterhaltsames Buch geschrieben hat. Auch, weil sein Vater, Heinz Schimmelbusch, in den frühen 90er-Jahren als Vorstandsvorsitzender das Frankfurter Unternehmen, für dessen Nachfolger mit neuem Namen und Adresse ich heute arbeite, in finanzielle Schieflage gebracht hat und ich solche Zufälle, als Alternative zu den aktuell grassierenden Rezensionshomestories, ziemlich unterhaltsam finde.

Im Vorfeld der Veröffentlichung von »Hochdeutschland«, seinem jüngsten Roman, musste ich den Google Alert dann aber wieder dichtmachen. Natürlich habe ich das Buch ordnungsgemäß gekauft und an einem verregneten Wochenende durchgelesen, nur war ich diesmal nach der Lektüre eher verwundert als euphorisiert. Nicht, weil der Roman nicht gut wäre. Er war halt einfach für mich keine Neuerscheinung im klassischen Sinne, sondern eher eine Ausarbeitung der bisher von ihm veröffentlichten Texte auf waahr in einem etwas überdrehten Sound, die, verglichen mit den kurzen Texten oder dem perfekt komponierten Bernhard-Schocker, in ausufernden Sätzen daherkommt, denen dann auf halber Strecke die Luft aus den bis zum Bersten vollgepumpten Reifen des immerhin schön benannten Märchenfahrzeugs »Shere Kahn« ausgeht.

Die überall gefeierten Alltagsbeobachtungen aus dem Leben eines Investmentbankers, als klassischer Dreiakter mit Eintritt, Aufstieg und Entfremdung inszeniert? Alles bereits enthalten im großartigen Text »Kindersoldaten des Kapitals«, und das ganz ohne den gerade erwähnten empfunden künstlich aufgeblasenen Leerlauf.

Die schönste Stelle ist für mich daher eine kulinarische Anekdote, nämlich die Entstehungsgeschichte der Spaghetti Carbonara, ganz beiläufig und leise beschrieben als ein »Destillat eines Augenblicks der Weltgeschichte, nämlich der alchemistischen Verbindung der Eipulver- und Bacon-Rationen der GIs mit den Kochkünsten der Italienerinnen im Rom der Nachkriegsjahre« (ähnlich, aber nicht ganz so schön bereits auf Wikipedia formuliert).

Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass der Autor, natürlich absolut schuldlos, an meinem Bias vorbeidichtet. Denn obwohl er beflissen wirklich sämtliche Getränkeoptionen und -klischees durchdekliniert, von high bis low und always over the top, schreibt er nicht einmal in der Romanvariante über Apfelwein!

Auch »Hysteria« habe ich inzwischen gelesen, und es ist übrigens recht speziell geraten.
 


Post von Eckhart

Amsterdam, 22. August 2018, 20:02 | von Charlemagne

Meine früheste Erinnerung an die Halbwelt des Feuilletons, diesen popkulturellen Maulwurfsbau ohne Fluchtwege, ist eine Beauty-Kolumne im SZ-Magazin. Freitags, auf dem Weg zur Schule, hielt mein Papa immer am Bahnhof, um Presserzeugnisse für uns zu kaufen. Für ihn das Handelsblatt, für mich die Süddeutsche Zeitung. Anstatt übertrieben viel Zeit mit dem Streiflicht oder der Seite Drei zu verschwenden, blätterte ich immer sofort das Magazin auf, von hinten nach vorn, vorbei an Axel Hacke, auf der Suche nach neuen Texten von Eckhart Nickel.

Die Texte handelten häufig von relativ obskuren Pflegeprodukten, zum Beispiel von amerikanischen Rasiercremes, englischer Seife oder japanischer Hautcreme, und bedeuteten die Welt für mich. Sie waren nie besonders lang, hatten aber weitreichende Folgen. Da es die meisten Produkte damals nicht im stationären Einzelhandel zu kaufen gab, musste ich sie umständlich bestellen. Das hatte, neben einem chronisch leeren Sparkonto, auch zahlreiche Ausflüge aufs Amt zur Folge, um bunt beschriftete Pakete aus Übersee aus dem Zoll zu befreien.

Gleichzeitig stellten diese Texte mich aber vor eine noch viel größere Frage: Wer ist denn eigentlich dieser Autor, der so wahnsinnig schön über diese vermeintlich so oberflächlichen Produkte schreiben kann, und warum bedeuten sie mir so viel mehr als sämtliche Texte, die ich im langweiligen Deutsch-Leistungskurs bearbeiten muss? Im Internet gab es nur wenige Hinweise, aber immerhin die Möglichkeit, das Magazin DER FREUND zu kontaktieren (pоst@dеrfrеund.cоm), für das er als Chefredakteur mit Sitz in Kathmandu, Nepal, genannt wurde.

Also schrieb ich hin. Eine Ewigkeit hörte ich nichts und las weiter in seinem Buch über Thomas Bernhard, jetzt allerdings nach japanischen Kirschblüten duftend. Dann tauchte plötzlich eines Tages der kleine Briefumschlag unten rechts in der Menüleiste auf, Post aus Nepal. Der aus dieser naiven initialen Kontaktaufnahme entstandene E-Mail-Austausch war zunächst recht sporadisch; doch nach und nach schrieben wir uns immer häufiger, tauschten auf myspace Lieblingslieder aus oder schickten uns unsere YouTube-Lieblingsausschnitte aus Twin Peaks hin und her. Dieser Austausch gipfelte dann während meines Studiums in Bamberg in einem ersten Treffen, wir trafen uns nachmittags auf einen Kaffee und wunderten uns, glaube ich, ein bisschen über unser Gegenüber, er bestimmt mehr als ich, und wahrscheinlich ist das bis heute noch so.

Während er abends dann aus seinem bis heute unveröffentlichten Roman »Die Wespe« vorlas, stolperte gegen Ende der Veranstaltung unverhofft Christian Kracht als Überraschungsgast in den spärlich besetzten Saal, sein Zug aus München hatte Verspätung gehabt. Zu meiner großen Verwunderung wusste keiner der anderen anwesenden Studenten des Seminars zur sogenannten Deutschen Gegenwartsliteratur, in das ich mich anlässlich der Lesung eingeschlichen hatte, wer da gerade in den Raum hereingeschneit war. Noch seltsamer war nur, dass Christian Kracht, zumindest an diesem Abend, sehr genau wusste, wer ich war, nämlich Eckhart Nickels »pen pal«, wie er, typisch höflich verschmitzt und leicht maliziös lächelnd, treffend bemerkte. Eine Brieffreundschaft ohne Briefe sozusagen, ganz lose und unbekümmert, und so ging sie auch immer weiter, nur »Die Wespe« erschien nie.

Bis gestern, da endete das alles ganz unvorhergesehen, da ich, nach mehr als zehn Jahren, zum ersten Mal tatsächlich Post von meinem pen pal im Briefkasten hatte. Er stand dabei nicht einmal als Absender auf dem Umschlag, ich hatte also zunächst noch keine Ahnung von dieser Zäsur, dieser Epochenwende. Die Sendung kam vom Piper Verlag, aus München: brauner Umschlag, mitteldick. Zu meiner großen Überraschung fand ich darin ein Arbeitsexemplar seines neuen Romans, »Hysteria«, und ich freue mich seitdem wie verrückt auf die Lektüre und bin ganz gespannt, ob es auch um Wespen gehen wird.
 


Ein Tisch namens »Fabian« oder Das hässlichste Wort Hessens

Frankfurt/M., 20. Juli 2018, 18:03 | von Charlemagne

Immer, wenn es in Frankfurt so unerträglich heiß wird, dass Apfelwein als Erfrischungsgetränk seinen alternativlosen Höhepunkt erreicht, fährt Jens Becker in den Sommerurlaub und sperrt seine Apfelweinhandlung für zwei bis drei Wochen zu.

Obwohl er das stets Wochen vorher ankündigt, stehe ich in diesem Zeitraum trotzdem zuverlässig und regelmäßig mindestens einmal wie zufällig vor der verlassenen Eingangstür und blicke, halb verzweifelt, halb hoffend, in den dunklen Raum hinein, ohne Chance auf Einlass, der Meister ist immer noch auf Reisen. Gehe ich dann langsam weiter, beschleicht mich das Gefühl, dass der dunkle Raum auch in mich hinein blickt. Vielleicht liegt es am Hausschoppenentzug; vielleicht liegt es aber auch am karogemusterten Tisch, der in der Mitte des dunklen Raumes steht, eine Sonderedition aus der Maison Kitsuné-Serie von e15 namens »Fabian«.

Ein Tisch namens »Fabian«. Was für ein seltsamer Name für einen Tisch, und was für eine seltsame Assoziation, denn plötzlich habe ich ein Bild von Christian Kracht vor Augen, wie er, es war damals zur Hochzeit der sonderbaren »Imperium«-Debatte, in Leipzig bei der Verleihung des Buchpreises steht und ein Buch von Erich Kästner in der Hand hat.

Christian Kracht. Das passt, denn nur ein paar Wochen vorher hat er in seiner Frankfurter Poetikvorlesung den Wunsch geäußert, den »Klang der deutschen Sprache nur durch die Ferne gefiltert wahr[zu]nehmen«, und genau so geht es mir seitdem mit dem hässlichsten Wort Hessens, dem »Äppler«.

Ursprünglich als Kunstwort zur Umsatzsteigerung vom Unternehmen Possmann in den 90er-Jahren eingeführt (siehe hierzu auch die entsprechende Notiz in »Die Grammatik von als und wie« von Frederike Eggs), hat es sich mittlerweile fast flächendeckend in Hessen als umgangssprachliche Bezeichnung für Apfelwein ausgebreitet, und jedes Mal, wenn irgendwo das Wort auftaucht, sträuben sich mir die Nackenhaare und ich verlasse fluchtartig den Ort des Grauens.

Nicht nur, dass das Wort, geschrieben und/oder ausgesprochen, unglaublich dumpf und obszön daherkommt; es ist auch schlichtweg falsch, wie mir es der Wirt der Gaststätte Zu den drei Steubern in der Dreieichstraße, Wolfgang Wagner, vor vielen Jahren einmal in seinem unnachahmlichen Idiom erklärt hat. Nachdem ihm ein Gast mit der Aufschrift »Äppler Crew« auf dem T-Shirt ins Auge gefallen war, schaute er mich kopfschüttelnd an und fragte: »Äppler? Weißt Du, was ein Äppler ist?« Ich verneinte, neugierig. »Ein Äppler ist ein alter, geiler Bock, der versucht, Frauen ungefragt an die Äppel zu fassen, und sonst nichts. Äppler Crew, haha.«

Wie gesagt, dumpf und obszön, dieses hässlichste Wort Hessens.
 


Ohne Titel

Frankfurt/M., 19. Juni 2018, 00:14 | von Charlemagne

Samstags stand ich auf der Konstablerwache in Frankfurt am Main mitten auf dem Erzeugermarkt am Apfelweinstand von Günther Sattler aus dem Odenwald und blickte, übertrieben blumig formuliert, auf das wochenendliche Treiben.

Da Woche um Woche die gleichen Stände ihre Zelte auf dem Markt aufschlagen, sieht man auch Woche um Woche die gleichen Gesichter. Unzählige Wochenmarktbekanntschaften habe ich schon geschlossen, alles Personen, deren Name ich zwar nicht kenne, die mir aber trotzdem schon – in dieser Reihenfolge – ihre Eintracht-Dauerkarte, ein frisch geschmiertes Wurstbrot und, neulich, sogar Pizzabrötchen belegt mit Hackfleisch aus der Tupperbox angeboten haben. Meine Ausflüge auf den Wochenmarkt sind einfach unfassbar aufregend, hehe.

Eigentlich war es auch wieder Zeit, sich zu wundern, was eigentlich der Apfelweinpoet so treibt und wo er bleibt, doch stattdessen sah ich einen anderen Schriftsteller über den Markt laufen, waahristen Joachim Bessing, seineszeichens ehemaliger Quartettspieler und heute ausgesprochen beeindruckend behaarte Erscheinung. Darüber hinaus auch Autor des schönsten deutschsprachigen Buchs, das ich in den letzten Jahren so gelesen habe, »untitled«. Damals nach der Lektüre, ich las das Buch in der Wüste Namibias, flog ich erst mal weiter nach Australien, kaufte den titelstiftenden Duft und setzt mich aber auf kein Fahrrad.

»untitled« also. Fast noch besser aber ist sein Blog auf waahr.de, auf dem man ihm seit gut zwei Jahren dabei zuschauen kann, wie er langsam aber sicher Frankfurter wird, und das haut mich, als Frankfurter Wahlverwandter, natürlich um; diese Parallelität der Initiationsrituale, vom Vogelfutterkauf bei der Samenhandlung Andreas (neben dem Bürstenhaus!) bis hin zum karnivoren Selbstmordversuch beim Apfelwein Wagner – been there, done that, sehr zum Wohle!

Da lief er nun, in Jeansjacke gekleidet und mit Einkaufstüte behangen. Fast hätte ich ihm hinterhergerufen, Herr Bessing, hier!, aber ich weiß gar nicht, was ich dann weiter hätte sagen sollen. Vielleicht hätte ich ihn zum Apfelwein eingeladen und gefragt, was er samstags so auf dem Wochenmarkt kauft, so als neue Wochenmarktbekanntschaft. Seinen Vornamen immerhin kenne ich ja schon. Und dann, Eintracht-Dauerkarte, Wurstbrot, Tupperbox.