Archiv des Themenkreises ›taz‹


Oh, wow

Frankfurt/M., 20. Dezember 2018, 17:57 | von Charlemagne

Joan Didion, diese großartige, unendlich kühle und mittlerweile etwas überstrapazierte amerikanische Autorin, hat uns vor fast 40 Jahren gezeigt, wie man mit wundersamen Zuschriften umgeht, und eigentlich sollte man ihre Antwort als zusätzliche Unterschrift unter das Logo unseres Maulwurfbaus setzen, also

Der Umblätterer
* In der Halbwelt des Feuilletons *
Oh, wow.

Denn genau dieses anerkennende, abwägende, leicht resignierte und letztendlich spottend gönnerhafte, nach Harald Schmidt klingende »oh, wow« schießt mir seit ein paar Jahren beständig durch den Kopf, wenn ich versuche, das zu lesen und zu feiern, was früher das überlebenswichtige und unnachahmliche deutsche Feuilleton war und mich heute nur noch langweilt.

Nach dem Abitur, während andere mit dem Rucksack durch Australien reisen mussten, um sich einen Traum zu erfüllen, habe ich mir als Belohnung für die Zeit bis zum Studienbeginn die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung bestellt, um tagein tagaus auf dem Balkon brütend deren Feuilletons ritualisiert durchzupflügen.

Zur Abkühlung zwischendurch gab es Rainald Goetz’ KLAGE auf der Homepage der deutschen Ausgabe der Vanity Fair, Arne Willander im Rolling Stone und sonntags mein Lieblingsfeuilleton in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bisschen wie beim Fußball kann ich noch heute die Aufstellung meiner damaligen Lieblingsmannschaft runterbeten, häufig habe ich überhaupt erst geschaut, wer über welches Thema schreibt und war schon enttäuscht, wenn es keine neuen Texte von Johanna Adorján, Claudius Seidl, Niklas Maak oder wenigstens Gastbeiträge von Hans Ulrich Gumbrecht oder Christian Kracht im Reiseblatt gab. Am schlimmsten waren die Sonntage, an denen Frank Schirrmacher die erste Seite bespielte, das waren leider häufig zähe Angelegenheiten, da half dann fast gar nichts mehr.

Dann ging’s für mich zum Studium, Zeitung las ich nur noch sonntags, donnerstags gab’s Stuckrad Late Night, Rainald Goetz tauchte erst auf, dann ab, und seit kurzem ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes – YEAH, we’ve stopped living this way.

Und heute? Die Lieblingsautoren leben zum Glück (fast) alle noch, doch die Magie, das Unmittelbare des Feuilletons ist verschwunden. Ab und zu blitzt sie noch mal auf, wenn zum Beispiel Danilo Scholz dieser Zeit in der taz hinterherschreibt oder Max Scharnigg etwas Platz gegeben wird. Doch größtenteils schreiben die Leute (schon wieder? immer noch?) über Ernst Jünger, führen seltsame Interviews oder Ein-Themen-Experten, schreiben irgendwas Blitzgescheites über China und ich sehe die Überschriften, sehe die Autorennamen, die meist öde Bildersprache und denke, ja, superschlau, gelehrt und gelernt, und der eigentliche Text erst, – oh, wow.
 


Die Interviewkrise

Moskau, 29. Juni 2016, 12:09 | von Paco

Gerade finden viele missglückte Interviews statt. Ein paar Beispiele. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung seines Sammelbandes »Distant Reading« hat »Spiegel Online« ein Interview mit Franco Moretti geführt. Der Satz mit dem »aktuellsten heißen Scheiß« klingt wie Bento meets VICE gone awry. Auch inhaltlich ist es etwas dürftig, wenn nämlich Andreas »Fahrstuhl« Bernard den Band in der FAS als »das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist«, zelebriert und im SPON-Interview der technische Stand von vor tausend Jahren abgefeiert wird. Dazu Arne: »Aha. Franco Moretti macht also Named Entity Recognition, Sentiment Analysis und CSV-Dateien mit Locationdata«.

Weiteres Beispiel. Gerade hat im Palais de Tokyo eine Ausstellung mit Fotos von Houellebecq eröffnet. Und der Dichterfotograf erklärt im »Spiegel«-Interview seine Bilder (Ausg. 25/2016, S. 122–127). Das tut richtig dolle weh. Zum Eröffnungsbild der Ausstellung, das »einen dunklen Wolkenhimmel über der Stadt« zeigt, sagt Höllebeck: »Der Himmel hängt voller Versprechen und Gefahren.« Díos mío, Houellebecq ist als Mehrfachbegabung noch peinlicher als James Franco, hugh! (An dieser Stelle noch mal der Hinweis auf das ultimative James-Franco-Debunking im »stern«. Katharina Link, übernehmen Sie!)

Kleine Interviewkrise also. Dazu passt auch der von Olli Schulz in »Fest & Flauschig« 6 vorgebrachte Interviewhass, Zitat (nach ca. 1:01h): »Ich les mir keine Kackinterviews durch, wo [jemand] mal ne witzige Antwort auf ne uninspirierte Frage gibt, weil Interviews sind scheißelangweilig, […]. Meinst du, ich les mir noch ein Benjamin-von-Stuckrad-Barre- oder ein Ronja-von-Rönne-[Interview durch]!«

Daher jetzt Interviewpause, mindestens eine Woche. In der Zwischenzeit als Ersatzleistung: imaginäre Interviews! Jochen Schmidt schrieb vor fast genau zehn Jahren in der »taz«: »Eine Nobelpreisrede von Beckett wäre schlicht undenkbar, genau wie ein Spiegel-Gespräch mit Kafka.« Und das stelle ich mir jetzt vor. Volker Weidermann interviewt den großen Prager Obersekretär im nächsten »Spiegel«: »Herr Kafka, in Ihrem letzten Romanfragment behandeln Sie die Unerreichbarkeit eines Gebäudes, in diesem Fall eines Schlosses.« – Kafka: »Na ja.« Usw. usw.
 


Lyrik gegen Medien!

Berlin, 18. Juli 2014, 09:21 | von Josik

Der Endreim ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Die »Süddeutsche« und andere seriöse Zeitungen kolportieren derzeit ein Gedicht, das u. a. die folgenden Strophen enthält (Schreibweise behutsam verändert):

»FAZ« und »Tagesspiegel«?
Lieber kauf’ ich mir ’nen Igel!

»Taz« und »Rundschau«, ARD?
Hm, Moment, ich sage: Nee!

»Bild« oder »SZ« genehm?
Wie spät *ist* es? Ich muss geh’n!

Der Daumen, der nach unten zeigt,
der trifft bei mir auf Heiterkeit.

Viele andere Medien dürften sich aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Gedicht gar nicht erst erwähnt werden, erheblich düpiert fühlen. Um die Gefühle dieser Medien nicht zu verletzen, wird das Gedicht im folgenden lose weitergereimt.

»Mopo«, »Emma« und »Die Zeit«?
Hört gut zu, ich bin euch leid!

»Isvéstija« und »Kommersánt«?
Haltet einfach mal den Rand!

»Kronen Zeitung«, »Standard«, »Presse«?
Haltet einfach mal die Fresse!

»Tagi«, »Blick« und »NZZ«?
Früher wart ihr einmal phatt!

»Guardian« und »New York Times«?
Ihr vermiest mir voll die rhymes!

»Super Illu«, »Bunte«, »Gala«?
Für euch zahl’ ich nicht einen Taler!

»Börsen-Zeitung«, »Handelsblatt«?
Euch mach’ ich doch locker platt!

»Merkur«, »Lettre«, »Cicero«?
Euch spül’ ich sofort ins Klo!

Auch der Hokuspokus-»Focus«
liegt aus Jokus auf dem Locus!

»Junge Welt« und alte »Welt«?
Widewitt, wie’s euch gefällt!

ORF und ATV?
Euch Wappler mach’ ich jetzt zur Sau!

RTL und auch ProSieben
kann man sonstwohin sich schieben.

Mach’ es wie die Eieruhr:
Zähle die Minuten nur!

Und nun: Schafft zwei, drei, viele weitere Strophen!
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2012

Leipzig, 8. Januar 2013, 04:25 | von Paco

Maulwurf’s in the house again! Heute zum *achten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2012:

Der Goldene Maulwurf

Die Nummer 1 herauszudiskutieren, war dieses Jahr nicht schwer, einhellig fiel die Wahl auf Volker Weidermanns endgültige Erledigung des herumdichtenden Grass.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2012:

1. Volker Weidermann (FAS)
2. Jens-Christian Rabe (SZ)
3. Christian Thielemann u. a. (Zeit)
4. Olivier Guez (FAZ)
5. Ulrich Schmid (NZZ)
6. Mara Delius (Welt)
7. Kathrin Passig (SZ)
8. David Axmann (Wiener Zeitung)
9. Friederike Haupt (FAS)
10. Thomas Winkler (taz)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben, wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen der Jury.

Außerhalb der Top-3 gab es übrigens ziemliche Rangeleien. Handke zum Beispiel konnte letztlich wie so oft nicht genügend Stimmen auf sich vereinen, deshalb müssen wir ihm für den Feuilletonsatz des Jahres (»Ein Wortspiel pro Text ist erlaubt.«) separat gratulieren.

Hinweise auf feuilletonistische Supertexte des laufenden Jahres 2013 bitte an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis nächstes Jahr,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Acht mal acht

Leipzig, 12. April 2012, 13:10 | von Paco

Letzten Sonntag stieg ich also in den ICE, um von Dresden zurück nach Leipzig zu fahren. Ich hatte einen Schokoladenosterhasen und die FAS dabei. Zuerst las ich voller Begeisterung das sehr schöne Inter­view, das Volker Weidermann mit Marcel Reich-Ranicki geführt hat (S. 19). Während ich aber auf die nächste Seite umblätterte, hörte ich plötzlich etwas, das mir die ganze restliche Reise verdarb.

Und zwar saßen in der Reihe links neben mir ein Vater und sein Sohn. Der Junge war mehr oder weniger im Grundschulalter und fragte seinen Vater einfach mal so, wie viel acht mal acht sei. Und der Vater gab ihm freundlich und überzeugend die Antwort:

»Zweiundsechzig.«

Der Junge war zufrieden, er blätterte weiter in seinem Bilderbuch und murmelte leise vor sich hin. Natürlich hatte ich noch mal nachgerech­net, acht mal acht ist vierundsechzig, da war ich mir trotz kurzer Verunsicherung wieder ziemlich sicher. Mit einer Mitreisenden schräg gegenüber gab es einen kurzen Blickkontakt, denn auch sie hatte aufgehorcht und aufgeschaut, als der Vater sein Verbrechen gegen die Mathematik beging, aber dann hatte sie einfach weiter in der »taz« gelesen, als ob nichts geschehen wäre.

Mir dagegen stellte sich nun die Dr.-Dr.-Erlinger-Frage, ob ich den Vater korrigieren sollte, hier vor versammelter Mannschaft im ICE. So was geht natürlich aus verschiedenen guten Gründen eigentlich nicht, niemals, das ist vielleicht das Furchtbarste, was man so machen kann, fremde Eltern fremder Kinder vor einem Haufen fremder Menschen inhaltlich zu korrigieren.

Trotzdem konnte ich mich kaum konzentrieren, als ich dann angestrengt versuchte, weiter in der FAS zu lesen. Während der Schokohase unangetastet auf dem Nebensitz hockte, steigerte ich mich immer weiter in meine Weltrettungsidee hinein. Mittlerweile war eine Stunde verstrichen, ich konnte jetzt unmöglich noch an vorhin anknüpfen, war aber immer überzeugter davon, dass ich es dennoch tun muss, auch wenn es mir absolut zuwider war. Und deshalb freute ich mich wie nie zuvor, als per Durchsage die baldige Ankunft in Leipzig angekündigt wurde.

In diesem Moment hörte ich den Jungen wieder etwas fragen, wieder das Einmaleins betreffend, diesmal ging es ihm um sieben mal neun. »Papi, wie viel ist sieben mal neun?« Und während ich den Vater in Zeitlupe den Mund öffnen sah, hatte ich die FAS zusammengeschlagen, hatte mir den Schokohasen geschnappt, war vom Sitz hochgesprungen und rannte den Gang runter. Ich wollte auf gar keinen Fall auch noch wissen, wie viel sieben mal neun ist.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Interview zu F. C. Delius:
»Wer schreibt denn jetzt über Terrorismus?«

Konstanz, 27. Oktober 2011, 17:50 | von Marcuccio

Die Literaturwissenschaftlerin Constanze Reichardt über den Büchnerpreis für Friedrich Christian Delius, die RAF als literarischen Stoff und den Käseigel in der deutschen Literatur

Der Umblätterer: Erst mal Glückwunsch! Jahrelang musstest du auf Partys erklären, über welchen Schriftsteller du promovierst. Und jetzt ist es ein Büchnerpreisträger, am Samstag ist die Preisverleihung. Du hast kürzlich deine Dissertation über F. C. Delius eingereicht.

Constanze Reichardt: Das hört sich ja fast so an, als hätte ich den Preis bekommen. Ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut und fand es toll, dass sich die Jury für Delius entschieden hat.

Der Umblätterer: Hast du das Medienecho bei der Bekanntgabe verfolgt?

Reichardt: Positiv bewertet hat es eigentlich nur die »Welt«. FAZ und »Süddeutsche« waren sehr verhalten, so mit dem Tenor: Falscher Mann, total langweilig, warum denn jetzt der? Der große Rest hat einfach nur die Pressemitteilung abgeschrieben. Mehr war nicht.

Der Umblätterer: Delius kommt in den Literaturgeschichten von Kritikern wie Volker Weidermann oder Richard Kämmerlings gar nicht vor. Hast du eine Erklärung?

Reichardt: Ich glaube, Delius wird oft unterschätzt, gerade von Kritikern. Die Erklärung, die sie geben, lautet, überspitzt formuliert, dass Delius zwar ein guter Sprachhandwerker, aber ein mittelmäßiger Autor sei. Das heißt, man findet ihn nicht originell, nicht innovativ genug.

Der Umblätterer: Und wie sieht das die Literaturwissenschaft? Es gibt ja nicht gerade viele Forscher, die sich mit F. C. Delius beschäftigt haben, oder?

Reichardt: Es gibt viele verstreute Aufsätze, aber nur einen einzigen Aufsatzband. Zur Dokumentarliteratur gibt es einiges. Und zu jeder Erzählung, zu jedem Roman so ein, zwei, drei Aufsätze. Aber das war’s dann auch schon.

Der Umblätterer: Dann bist du jetzt eine der wenigen Sachverstän­digen der Stunde. Was hast du untersucht und herausgefunden?

Reichardt: Ich habe mich mit dem Deutschen Herbst als politischem Mythos beschäftigt und Delius’ Terrorismus-Trilogie unter der Fragestellung untersucht, welche Aspekte politischer Mythen dort behandelt werden. Delius beschreibt in seinen Texten, welch enorme symbolische Bedeutung die Ereignisse im Herbst 1977 für das Selbstverständnis der Westdeutschen hatten.

Keine eindeutigen Antworten in Sachen RAF

Der Umblätterer: Was bietet Delius’ Trilogie über den Deutschen Herbst, was Sachbücher von Stefan Aust und das Eichinger-Kino nicht bieten?

Reichardt: So einiges. Als literarischer Autor hat Delius ja viel mehr Möglichkeiten, wie er sich der RAF nähern kann. Vor allem erhebt Delius, anders als Aust, nicht den Anspruch des »So ist es gewesen«, sondern fragt vor allem nach dem »So könnte es gewesen sein«, ohne dabei allerdings eine Legendenbildung zu betreiben. Die eindeutige Interpretation der RAF-Geschichte, die im »Baader-Meinhof-Komplex« dargelegt wird, hinterfragt Delius in seinen Texten. Er legt den Schwerpunkt auf andere Aspekte, auf andere Figuren, und er setzt sich vor allem mit der Frage auseinander, warum immer alle eindeutige Antworten haben wollen, wenn es um die RAF geht.

Der Umblätterer: Du hast den Deutschen Herbst zum Anlass genommen, dich mit der Bedeutung politischer Mythen für die modernen Demokratien zu beschäftigen. Wenn ich dich richtig verstehe, stellt Delius das kollektive Gedächtnis, die öffentliche Sichtweise zum Beispiel auf Mogadischu in Frage. Kannst du das an einem Beispiel erläutern?

Reichardt: Die Befreiung der Geiseln in Mogadischu durch die GSG 9 wurde als Sieg der Demokratie über den Terrorismus gedeutet. Die vorherrschende Meinung war, dass man die Feinde der Demokratie, also die RAF, mit demokratischen Mitteln besiegt hätte. Das war ein Einschnitt. Das Ende der Nachkriegszeit. Die öffentliche Sichtweise auf die Ereignisse in Mogadischu ist die Sichtweise der Regierung und der Medien, nicht aber die Sichtweise der Opfer. Die kommen nur am Rande vor, zum einen, wenn man sie, wie den getöteten Flugzeugkapitän Schumann, als Opfer für die Demokratie deuten, also zum Märtyrer machen kann. Und zum anderen, wenn man ihr Schicksal in den Medien ausschlachten kann.

In Delius’ Roman steht dagegen zum ersten Mal die Perspektive des Opfers im Vordergrund. Die Hauptfigur beschreibt in allen Einzelheiten, was ihr während der fünf Tage, in denen sie den Geiselnehmern ausgeliefert ist, passiert. Für sie haben die Ereignisse natürlich keinerlei symbolische Bedeutung, sondern es geht allein darum, die Entführung zu überleben. Das ist eine Perspektive, die im öffentlichen RAF-Diskurs bis heute immer viel zu kurz gekommen ist. Denn der ist von der Sichtweise der Regierung, aber auch der der Täter geprägt.

Der Umblätterer: Warum ist »Ein Held der inneren Sicherheit« (1981) ein Roman über das Herstellen von politischen Mythen – »Myth­making«, wie du es mit einem Begriff von Christopher Flood nennst?

Reichardt: In »Ein Held der inneren Sicherheit« geht es unter anderem darum, wie sich ein Vertreter der nationalsozialistischen Wirtschafts­elite in der Bundesrepublik zurechtfindet, wie er seine Karriere möglichst reibungslos fortsetzen kann. Das tut er, indem er eine strategische Position in einem Wirtschaftsverband einnimmt und dann diesen Verband zu einer Institution macht, die großen Einfluss auf die Deutung der Vergangenheit hat. Zunächst geht es darum, den eigenen Anteil am Funktionieren des NS-Systems zu vertuschen. Sehr bald wird daraus allerdings eine umfassende Umdeutung der Vergangenheit.

Im Roman wird beschrieben, wie die Bundesrepublik nach dem Krieg ihr Selbstbewusstsein zurückgewinnt. Der Text legt den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung. Der schnelle Wiederaufbau, den die Westdeutschen aus eigener Kraft geschafft haben, gefolgt vom Wirtschaftswunder. Darauf sind die Romanfiguren stolz und ignorieren dabei alles, was davor war. Es gibt in dem Text keine Auseinander­setzung mit der Vergangenheit. Im Roman liegt der Schwerpunkt auf der Beschreibung dieses Prozesses: wie diese Sichtweise zu einer allgemein gültigen gemacht wird, also wie ein politischer Mythos konstruiert wird.

Der Dokumentarist als Schriftsteller

Der Umblätterer: Irgendwie ist das ein Werk voller zeitgeschichtlicher Stoffe: Vom »Wunder von Bern« (in »Der Sonntag, an dem ich Welt­meister wurde«, 1994) über die Studentenbewegung (»Amerikahaus und der Tanz um die Frauen«, 1997) und den Terrorismus (Roman­trilogie »Deutscher Herbst«, 1981–1992) bis hin zu DDR-Flüchtlingen (»Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus«, 1995) und Wieder­vereinigung (»Die Birnen von Ribbeck«, 1991). Versteht sich Delius als literarische Bundeszentrale für politische Bildung?

Reichardt: Nein, eher im Gegenteil. Delius beleuchtet diese Stoffe immer von ganz anderen Seiten als öffentliche Diskurse dies tun. Seine Texte hinterfragen oder ergänzen diese. Die Figuren zweifeln allgemein anerkannte Sichtweisen oft an, oder ihre Geschichte macht Probleme sichtbar, zeigt Konflikte und Widersprüche auf. Zum Beispiel in der Erzählung »Die Birnen von Ribbeck«: Kurz nach der Wende erschienen, wird darin unter anderem die Einheitseuphorie kritisiert.

Der Umblätterer: Hat das Label, ein politischer Autor zu sein, FCDs germanistischer Anerkennung geschadet?

Reichardt: Das Label wurde ihm ja von der Literaturkritik angeheftet und zeichnet ein sehr einseitiges Bild von Delius’ Werk, das die Literaturwissenschaft nicht teilt. Wenn auch die Sekundärliteratur zu Delius nicht sehr umfangreich ist, so ist sie doch auf jeden Fall differenziert und hält sich nicht mit Labeln auf. Außerdem verstehe ich nicht ganz, was an der Bezeichnung politischer Autor schädigend sein soll.

Der Umblätterer: Na ja, Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb schreiben in ihrer »Inventur« (2003), dass Delius den »Tod der Literatur« wörtlich genommen habe. Sie lenken den Blick auf seine genuine Form der »Dokumentarsatire, die Fiktion und Fakten vermischt«. Tatsächlich hat er ja CDU-Parteitagsprotokolle oder Siemens-Festschriften parodiert – was ihm auch Prozesse um die Kunstfreiheit eingebracht hat. Wie schätzt du diesen Teil von Delius’ Werk heute ein?

Reichardt: Die Texte waren damals eine innovative Weiterentwicklung der Dokumentarliteratur, und einige der Methoden, die Delius da entwickelt hat, hat er später auch in seinen Romanen verwendet. Aber ich denke auch, dass heute niemand mehr solche Texte schreiben würde. Übrigens, das mit dem Tod der Literatur, da würde ich das Gegenteil behaupten. Die Auseinandersetzung mit dokumentarischem Material hat Delius ja erst zur Literatur hingeführt. Sein erster Roman »Ein Held der inneren Sicherheit« war eine Abgrenzung von der vorgeformten Sprache der Dokumente und eine bewusste Hinwendung zur eigenen, literarischen Sprache.

Das Handbuch zur FAZ-Sprache

Der Umblätterer: Sprachbetrachtungen scheinen ihm überhaupt sehr wichtig zu sein. Er hat ja mal eine Schrift herausgebracht, die sich mit der Sprache der FAZ beschäftigt: »Konservativ in 30 Tagen. Ein Hand- und Wörterbuch Frankfurter Allgemeinplätze« (1988). Ich fand das neulich ganz witzig, als mit Frank Schirrmacher und Lorenz Jäger gleich zwei namhafte Stimmen der FAZ erklärt haben, nicht mehr konservativ zu sein. Klang wie Delius im Rückwärtsgang, und war noch nicht mal ironisch gemeint.

Reichardt: Ja. Gerade aus dieser Schrift kann man sehr gut ableiten, wie Delius arbeitet. Das Sprachkritische ist bei ihm extrem wichtig, von Anfang an kann man in seinem Werk beobachten, wie er sich mit ideologischer Sprache auseinandersetzt. Politische Sprachen, Wirtschaftssprachen, Fachsprachen, die er kritisiert und wo er fragt: Was sind eigentlich die Verkürzungen, die solche Sprachen mit sich bringen? »Konservativ in 30 Tagen« ist so ein Ding. Und auch in seiner Terrorismus-Trilogie geht’s ganz oft um Sprachkritik. Wobei Delius die Sprache – auch in seinen Dokumentarsatiren – so verwendet und montiert, dass sie sich selbst entlarvt.

Alles wartete auf den Wenderoman …

Der Umblätterer: Was denkst du über »Amerikahaus und der Tanz um die Frauen«? Es gilt vielen ja als das Buch über West-Berlin. Die FAS hatte es vor Jahren auf einer Liste mit den zehn prototypischen Berlin-Romanen der Gegenwart, Michael Angele, heute Kulturchef beim »Freitag«, nannte das Buch auf den »Berliner Seiten« der FAZ eine »herrliche Hommage« an das Studentenmilieu, das 1966 erstmals gegen den Vietnamkrieg politisiert.

Reichardt: Ich fand es eigentlich auch ziemlich cool. Und es beschreibt bestimmt sehr gut die Stimmung in West-Berlin Mitte der 60er-Jahre. Vor allem hat es auch biografische Züge. Ein gelungenes Buch, das die Zeit vor 1968 einfängt. Interessant eben, dass und wie Delius bei den Anfängen ansetzt.

Der Umblätterer: Der damalige FAZ-Literaturchef Thomas Steinfeld fand »Amerikahaus« 1997 gar nicht authentisch. Er warf Delius sogar »Verrat an seiner Generation« vor, weil er erst aus der Rückschau, mit 30 Jahren Abstand, über diese Zeit schreibt.

Reichardt: Total daneben. Dann soll er sich mal Sachen von Gerd Koenen ankucken. Oder von Götz Aly. Das sind zwar alles keine literarischen Verarbeitungen. Aber das wäre der eigentliche Verrat an 1968. Das ist wieder so ein typischer Vorwurf der Kritik, die offenbar nicht damit umgehen kann, dass der Delius sich nicht nur dann mit zeitgeschichtlichen Themen beschäftigt, wenn ein entsprechendes Jubiläum ansteht. Sondern er macht das zu eigenwilligen Zeitpunkten, und das stört die Literaturkritik immer ungemein. Der dritte Terrorismusroman kam 1992 raus – und natürlich sagten sofort alle wieder: Wer schreibt denn jetzt einen Roman über den Terrorismus? Wir haben doch die Wende …

Der Umblätterer: Alles wartete auf den Wenderoman …

Reichardt: So wollte bei Erscheinen von »Himmelfahrt eines Staatsfeindes« kurz nach der Wiedervereinigung kaum einer mehr was von Terrorismus hören. In den letzten Jahren sind viele lesenswerte Untersuchungen zur RAF erschienen, wenn man die liest, wird deutlich: Delius hat da viel vorweggenommen.

Er beschäftigt sich in seinen Texten fast immer mit wichtigen historischen Ereignissen der Bundesrepublik, tut dies aber oft zum scheinbar falschen Zeitpunkt. Die Sichtweisen, die in den Texten geboten werden, der andere Blick auf die Ereignisse, die neuen Erkenntnisse, die sie liefern, gehen oft unter.

Beinahe Popliteratur

Der Umblätterer: Noch mal zu »Amerikahaus«. Könnte man diese wunderbare Coming-of-Age-Erzählung im Studentenmilieu nicht auch zur Popliteratur zählen? Sie steckt doch voller Song- und Filmtitel, zitiert Werbeslogans und Zeitungsschlagzeilen, speichert also viel Alltags- und Zeitgeschichte und leistet so lustvolle Arbeit am Archiv, wie es Moritz Baßler als konstitutiv für den deutschen Poproman definiert hat. Insofern verwunderlich, dass dieses 1997 erschienene Buch nie als Popliteratur thematisiert worden ist.

Reichardt: Interessanter Gedanke. Zitate waren schon immer ein wichtiger Bestandteil von Delius’ Werk, allerdings setzt er sie ganz anders ein, als die sogenannten Popliteraten der 90er-Jahre das tun. In der Popliteratur geht es, wenn ich mich richtig erinnere, vor allem um das Sammeln und Auflisten von Bestandteilen der Gegenwartskultur. Das Einstreuen von Song- oder Filmtiteln oder auch von Markennamen dient ja der Verortung der Autorinnen und Autoren, aber auch der Leserinnen und Leser in dieser Gegenwartskultur. Die Auflistung von Bandnamen, zum Beispiel in »Soloalbum« von Stuckrad-Barre, dient ja dazu, bei den Leserinnnen und Lesern ein bestimmtes Lebensgefühl aufzurufen. Wenn die diese Anspielungen nicht verstehen, funktioniert das nicht.

In »Amerikahaus« ist genau das Gegenteil der Fall. Die Hauptfigur, der Student Martin, gibt immer wieder zu, dass er nicht mitreden kann, wenn sich seine Freunde über aktuelle Filme unterhalten. Hier geht es nicht um die »lustvolle Arbeit am Archiv«, sondern eher um eine Kritik an dessen Subjektivität. Und während die Popliteratur vom selbstverständlichen Leben in einer Konsumwelt erzählt, beschreibt »Amerikahaus« diese Konsumwelt als irritierend und störend, als Ablenkung vom »Nachkrieg« (S. 55), in dem sich die Hauptfigur nach eigener Aussage 1966 noch immer befindet, während die meisten Berliner mit Winterschlussverkauf oder der Grünen Woche beschäftigt sind.

Der Käseigel in der deutschen Literatur

Der Umblätterer: Apropos Grüne Woche. Du betreibst neben deinen Delius-Studien auch einen Veganer-Blog. Spielt Essen im Werk von FCD irgendeine besondere Rolle?

Reichardt: Da habe ich noch nie drüber nachgedacht.

Der Umblätterer: Mir ist kurioserweise ein Detail aus »Amerikahaus« in Erinnerung: Der Käseigel! So wie Stuckrad-Barre die Crunchips der 1990er ins literarische Gedächtnis eingespeist hat, so hat FCD den Käseigel unserer Omis und Tanten archiviert: dieses wunderbare kulinarische Dingsymbol der 1960er. Einerseits noch ganz Zeichen für den Überfluss der Fresswelle: Man isst jetzt Käse ohne Brot! Andererseits aber auch schon ein Vorbote der Verfeinerung (S. 103): »die neue Art Käse zu essen – Käse aus Holland: Das muß man gesehen haben, feine Holzstäbchen in Käsewürfel gespießt, die man einfach zum Munde führt, ohne Brot!« Yesss! Und dann gibt es doch auch diese Delius-Denkschrift »Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser« (1984). War er ein früher Vegetarismus-Apologet?

Reichardt: In den beiden von dir genannten Beispielen stehen Lebensmittel, steht Essen vor allem für die Konsum- und Überflussgesellschaft. In »Amerikahaus« wird das Treiben auf der Grünen Woche beschrieben, auf der nach Jahren der Entbehrung, des Hungers, nun endlich wieder geschlemmt werden darf. Und in »Verteidigung der Gemüseesser« geht es ja um den Zusammenhang von Hunger und Wohlstand, um die Industrieländer, die auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben. Dieser kritische Blick auf Lebensmittel wird auf jeden Fall von vielen Veganerinnen und Veganern geteilt.

Der Umblätterer: Ein Satz wie für die taz. Vielen Dank für das Gespräch. Und alles Gute für die Verteidigung deiner Delius-Diss.!
 

Constanze Reichardt hat in Leipzig, Oslo und Göttingen Germanistik, Anglistik und Politikwissenschaft studiert. An der FU Berlin hat sie vor wenigen Wochen ihre Doktorarbeit zur Begutachtung eingereicht. Sie untersucht darin, welche Rolle politische Mythen in den Romanen »Ein Held der inneren Sicherheit«, »Mogadischu Fensterplatz« und »Himmelfahrt eines Staatsfeindes« spielen. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Irmela von der Lühe.

 


Der Seinsüberwurf und die drei Verdoppelungen (Lottchen, Marx und Malick)

Stanford, 21. Juni 2011, 02:30 | von Srifo

Aus dem Schatten des doppelten Lottchens hat Ekkehard Knörer ja im »Freitag« den »doppelten Marx« heraustreten lassen, was als Sequel gut passt, denn 1942 hieß Kästners Drehbuch noch »Das große Geheimnis«. Beide Märxe waren vor kurzem nämlich gleichzeitig im bekannten Ferienheim Berlin zu Besuch. Sie konnten sich erst gar nicht ausstehen und fanden aber dann bei Schokoladenmilch auf irgendeine Weise heraus, dass sie durch die Scheidung ihrer Eltern getrennt wurden.

Was nun das große Geheimnis der Stunde angeht, friemelt Knörer auseinander, muss es so sein, dass obwohl die zwei Märxe »zuneh­mend blaß um die Nase« werden, sie trotzdem »egal ob auf Kopf oder Füßen« hinterlistig und qua Bekanntschaft ihrer Erzeuger (der eine aus Saarlouis, der andere aus Ljubljana) als »Virtuosen der Vernetzung« agieren.

Das sieht auch Uwe Justus Wenzel in der NZZ so. Laut seiner Beobach­tung der marxistischen Szenik gibt es einzig bei der »Tischgenossen­schaft« der Märxe, dieses täuschend einhelligen Zusammenhalts der »Keimzelle eines neuen ›Wir‹«, »allenthalben« eine neue Erkenntnis, nämlich die der Vervielfältigung. Dass es damit dann den »authentischen Marx« gar »nicht zu entdecken gibt«, hat ob der Verdopplungswirren auch Tania Martini in der taz feststellen müssen. Was bleibt, ist gegenseitige Verwechselbarkeit im Ferienlager, bei Schokomilch und Heidesand.

Selbst der alte Marx-Monadist Immanuel Wallerstein, dessen soziologisches »World-System« 1974 wider allen Anschein von nur einer Welt voll dependency sprechen wollte, hat letztens indirekt eingeräumt, dass es nach dem »next-to-last speculative bubble burst« 2008 nun vorbei ist mit dem erstrebten Glanz seiner alten Einheits-Idee. Ein Vervielfachen, »an ever-escalating stretching of the interpretation of Marxism« ist wohl die Lösung bzw. ist »actually a world depression«.

Auch das letzte Ressort der Seinsgelassenheit, ein neuer Film von Terrence Malick, kann da nicht mehr zeigen, wie alles Sein zusammen­hängt – Brad Pitt als Naturstrenge? Die Mutter Jessica Chastain als Urknallgnade? Abermals die falschen Eltern. Das klingt sogar nach einem ›ever-escalating stretching‹ von Malick. »Days of Heaven« (1978) hat jedenfalls mehr Sakralität draufgehabt. Hier könnte man jetzt wieder auf Heidegger referieren. Aber das tun ja die anderen schon. Bloß die »Zeit«-Diagnostik macht es kurz und sagt es der Tischgenossenschaft ins Gesicht: »Malicks Naturgott ist schizophren«.
 


Denis Schleck

Konstanz, 10. April 2011, 17:47 | von Marcuccio

Vorsommer statt Nachsommer (Stifter), und endlich wieder Feuilleton im Freien! Außerdem, zumindest in Süddeutschland, sogar schon Erntezeit fürs Bärlauch-Pesto. Oder lieber erst mal ein Waldmeister-Eis?

»Zum Glück besitze ich eine Eismaschine«, sagt Denis Scheck, gestern in der taz. Und löst auch gleich ein, was er letzten Herbst in der FAS eingefordert hat:

»Wir brauchen mehr Kritik, nicht nur in der Literatur, sondern überall. Ich wünsche mir Anzugkritik, Wurstkritik, Autokritik […].« (FAS vom 26. September 2010, S. 57)

Jetzt also: Die Eissortenkritik

»Waldmeister war als Kind meine Lieblingseissorte«, erzählt uns der Ed von Schleck des Feuilletons und verweist aufs Waldmeister-Standing im Eissortenkanon alt:

»Ich würde sogar sagen, in den sechziger, siebziger Jahren nahm es nach Vanille, Schokolade und Erdbeere den vierten Platz ein. Als Waldmeister-Fan war man damals weniger einsam denn als FDP-Wähler.«

Die Frischdroge Waldmeister im Eis: Sozusagen der deutsche Gastarbeiterbeitrag zur italienischen Erfindung – oder mit Waldmeister-Fürsprech Scheck: »die einzige traditionelle Sorte, die hierzulande erfunden wurde«. Mittlerweile ist sie ja fast ausgestorben:

»Irgendwann kam raus, dass im Waldmeistereis Cumarin enthalten ist. (…) Schlimm, schlimm. Ich glaube, man hätte hundert Kugeln essen müssen, um davon leberkrank zu werden.«

Nichtsdestotrotz: »Anfang der Achtziger wurde Waldmeister als Zusatz im gewerblichen Lebensmittelhandel verboten.« Und damit wären wir wieder bei Schecks Eismaschine:

»Statt Vanille nehme ich einfach Waldmeister und jage das durch mein Gerät. Das Kraut selbst ist ja nicht verboten. Ganz quirlig sieht das aus, wie kleiner Farn und wächst unter Buchen und Eichen.«

Waldmeister. Waldmeister. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. Klingt so wunderbar wie Waldteufel und Waldmüller. Klingt außerdem nach selbst gewittert, eigenhändig gepflückt. Scheck (er muss ja Bücher lesen) hat für sowas natürlich einen »Kräuterhändler«, aber immerhin ein eigenes Maibowlenrezept:

»Schmeckt auch wunderbar, wenn Sie daraus Halbgefrorenes fabrizieren.«

Und das ist das wirklich Sympathische: Dass Scheck an dieser Stelle nicht »Semifreddo« sagt. Zeitschriften wie »Landlust« sollen ja schließlich auch noch ein paar Distinktionsvokabeln zur Hand haben, wenn es demnächst heißt: Waldmeister ist der neue Bärlauch.