Archiv des Themenkreises ›New York Times‹


Lyrik gegen Medien!

Berlin, 18. Juli 2014, 09:21 | von Josik

Der Endreim ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Die »Süddeutsche« und andere seriöse Zeitungen kolportieren derzeit ein Gedicht, das u. a. die folgenden Strophen enthält (Schreibweise behutsam verändert):

»FAZ« und »Tagesspiegel«?
Lieber kauf’ ich mir ’nen Igel!

»Taz« und »Rundschau«, ARD?
Hm, Moment, ich sage: Nee!

»Bild« oder »SZ« genehm?
Wie spät *ist* es? Ich muss geh’n!

Der Daumen, der nach unten zeigt,
der trifft bei mir auf Heiterkeit.

Viele andere Medien dürften sich aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Gedicht gar nicht erst erwähnt werden, erheblich düpiert fühlen. Um die Gefühle dieser Medien nicht zu verletzen, wird das Gedicht im folgenden lose weitergereimt.

»Mopo«, »Emma« und »Die Zeit«?
Hört gut zu, ich bin euch leid!

»Isvéstija« und »Kommersánt«?
Haltet einfach mal den Rand!

»Kronen Zeitung«, »Standard«, »Presse«?
Haltet einfach mal die Fresse!

»Tagi«, »Blick« und »NZZ«?
Früher wart ihr einmal phatt!

»Guardian« und »New York Times«?
Ihr vermiest mir voll die rhymes!

»Super Illu«, »Bunte«, »Gala«?
Für euch zahl’ ich nicht einen Taler!

»Börsen-Zeitung«, »Handelsblatt«?
Euch mach’ ich doch locker platt!

»Merkur«, »Lettre«, »Cicero«?
Euch spül’ ich sofort ins Klo!

Auch der Hokuspokus-»Focus«
liegt aus Jokus auf dem Locus!

»Junge Welt« und alte »Welt«?
Widewitt, wie’s euch gefällt!

ORF und ATV?
Euch Wappler mach’ ich jetzt zur Sau!

RTL und auch ProSieben
kann man sonstwohin sich schieben.

Mach’ es wie die Eieruhr:
Zähle die Minuten nur!

Und nun: Schafft zwei, drei, viele weitere Strophen!
 


Post von Philip Roth

Berlin, 2. Juli 2012, 20:59 | von Josik

Im Jahr 2009 wurde Reich-Ranicki in der Kolumne »Fragen Sie Reich-Ranicki« von Unterschrift unlesbar suggestivgefragt, warum Philip Roth den Nobelpreis bekommen sollte. Im Prinzip die gleiche Frage war Reich-Ranicki aber auch schon 2007 gestellt worden, und als die mehr oder weniger gleiche Frage ihm auch 2008 gestellt wurde, antwortete Reich-Ranicki völlig zu Recht: »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.«

Nun hat Philip Roth den Nobelpreis noch immer nicht erhalten, man sollte aber natürlich gewappnet und informiert sein. Deshalb: Philip-Roth-Hagiografen, aufgepasst! In der Juniausgabe des »Atlantic« ist auf Seite 14 folgender Leserbrief von Philip Roth abgedruckt:

»Joseph O’Neill ist in seinem Artikel über mein Werk ein unglück­licher biografischer Irrtum unterlaufen. Er schreibt, ich hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Diese Aussage ist nicht zutreffend, und mein Lebensweg gibt rein gar nichts her, was diese Aussage stützen könnte.

Nach einer Knie-OP im März 1987, als ich 54 Jahre alt war, bekam ich das Schlafmittel Halcion verschrieben, ein hypnotisches Sedativ aus der Medikamentengruppe der Bendzkodiazepine, das eine ganze Reihe von Nebenwirkungen lähmender Art hervorrufen kann. Man spricht bisweilen auch von der »Halcion-Durchgeknalltheit«. Zu der Zeit, als mir von meinem Orthopäden dieses Medikament für die Nachbehandlung verschrieben wurde, war es in Holland, Deutschland und anderswo aufgrund seiner extremen Nebenwir­kungen, die bis hin zu Selbstmord gehen konnten, bereits vom Markt genommen worden.

Die Nebenwirkung, wie ich selbst sie verspürte, entsprach exakt jener, wie sie klinisch eindeutig definiert und in der medizinischen Literatur erschöpfend dokumentiert ist, sie begann, als ich das Mittel zu nehmen anfing, und sie endete abrupt, als ich es, mit hilfreicher Unterstützung meines Hausarztes, absetzte.

In einem Aufmacher der New York Times aus dem Januar 1992 wurde unter der Überschrift ›Schlaftablettenhersteller vertuschten Daten über die Nebenwirkungen‹ Halcion als ›gefährlicher denn sonstige Schlafmittel‹ bezeichnet und – genau so habe ich es in den drei Monaten erlebt, in denen ich, mir nichts weiter dabei denkend, dieses Mittel einnahm – als ›eher dazu angetan, Symptome wie Amnesie, Paranoia, Depression und Halluzinationen zu verursachen‹.

Philip Roth
New York, N. Y.«

Revenge is sweet, dachten sich da aber die »Atlantic«-Macher. Wenn man nämlich den Leserbrief gelesen hat und dann genau zweimal umblättert, springt einen im Fettdruck das folgende Barack-Obama-Zitat aus einem »Rolling Stone«-Interview an:

»The New Yorker and The Atlantic still do terrific work.«

 


»Ein goldener Moment in der Geschichte
des deutschen Feuilletons«

Stanford, 23. Februar 2011, 02:57 | von Srifo

Kalifornisch unabgeschiedenes Interview mit HANS ULRICH GUMBRECHT: Über deutsche Zeitungen und ihre Einmaligkeit, über Wiederholungen und Hyperbolik, über nächste Projekte, Widmun­gen von Hans Robert Jauß und Männer in grauen Regenmänteln, die noch mal das Matheabitur kontrollieren wollen

In der Februarhitze gehe ich an hastig radelnden Undergrads vorbei zur Pigott Hall, dem Literaturen-Gebäude der Stanford University. An der Ecke zum Circle of Death, einem zur Pausenzeit umrasten Radlerkreisverkehr, hat Hans Ulrich Gumbrecht sein Büro. Es ist 11 AM, ich habe eine Stunde, klopfe, und unter dem blitzenden Licht des Eckfensters plaudern wir los. Apropos Ausleuchtung: Um die Schönheit und die dunklen Geheimnisse der gesprochenen Sprache zu bewahren, wurde das Transkript nicht redigiert.

»Kann ich das in 12.000 Zeichen
erklären?«

Der Umblätterer: Schaut man auf deine Veröffentlichungsliste, Sepp, fragt man sich: Fühlst du da eine gewisse Verantwortung, dich am deutschen geisteswissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen? Das Verhältnis Zeitungsartikel zu Buch hältst du bei circa 20:1, was zurzeit etwa mit dem Faktor 34 zu multiplizieren ist, um auf das Gesamtvolumen zu kommen.

Hans Ulrich Gumbrecht: Nein, ich spüre keine spezifische Verantwortung für das deutsche Feuilleton. Ich denke aber, dass nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität der deutschen Feuilletons im Moment international einmalig ist. Ich würde sagen, die vier, fünf besten deutschen Tageszeitungen plus Wochenzeitungen, also nicht der »Spiegel«, aber die »Zeit«, sind wirklich völlig einmalig. Nicht nur, weil es auf Englisch kein ›Feuilleton‹ gibt.

Ich bin einmal im Jahr zwei Wochen in Paris, und dann kaufe ich mir »Le Monde«, »Figaro«, »Libé«, und das kannst du nicht vergleichen. Ich würde aber nicht nur sagen, dass international alles runtergekommen ist, nein, es ist einfach ein goldener Moment auch in der Geschichte des deutschen Feuilletons. In den Zwanzigerjahren oder so –, oder wenn man sagt, »oh, das war in den Fünfzigern besser«, nein, war es nicht. Es ist unheimlich gut. Was zum Teil damit zu tun hat, dass Journalisten wie Frank Schirrmacher oder Gustav Seibt, die früher automatisch Universität gemacht hätten, dachten, es sei interessanter. Finanziell interessanter, als Lebensform interessanter.

Für mich war es aber nie so ein Plan, dass ich gesagt habe, ich will jetzt das und das machen. Es interessiert mich selbst aus mehreren Gründen. Einer ist sozusagen sportlich, also wie jetzt dieser Jauß-Text für die »Zeit«: Kann ich das in 12.000 Zeichen erklären? Manchmal denke ich, das geht nicht, aber dann versuche ich es und finde es interessant.

Zweitens freut es mich natürlich, dass es mir über diese Medien gelungen ist, nicht nur ein Wissenschaftler zu sein, sondern auch ein öffentlicher Intellektueller. Andreas Kablitz der mich vor einigen Wo­chen bei einem Workshop in Köln vorgestellt hat, sagte drei Sachen: »Er ist ein Romanist, immer noch, er ist ein Philosoph mittlerweile geworden«, auch in dem Sinn, dass in Philosophieseminaren meine Sachen zitiert werden, und drittens, »ein öffentlicher Intellektueller, und das hat in der Germanistik niemand geschafft, und in der Romanistik einer, das war Ernst Robert Curtius«, und das hat mich ziemlich stolz gemacht.

Das heißt, ich mache das nicht für deine Generation, ich mache das für mich. Ich denke, dass ich einer von ein paar war in Deutschland, Hörisch wäre auch so jemand, die eine größere Nähe zwischen dem Feuilleton – und nicht nur Feuilleton, es kann ja auch das »Philosophische Quartett« sein, Sloterdijk sowieso – und den Geisteswissenschaften geschaffen haben. In dem Sinn, dass das wahrscheinlich das Feuilleton nicht besser, aber komplexer gemacht hat. Ich schreibe ja jetzt doch nicht genauso, wie jemand, der eine journalistische Karriere gemacht hat. In der Hinsicht fühle ich keine Verantwortung, es ist ja wirklich im emphatischen Sinn auch nicht mehr mein Land, ich möchte eigentlich mehr hier investieren.

Der Umblätterer: Aber du schreibst ja schon viel, wirklich sehr viel, so viel wie wenige andere, die nicht angestellte Journalisten sind.

Gumbrecht: Ja, richtig, das ist eben der sportliche Ehrgeiz. Irgendjemand hat mal geschrieben, dass ich einer der wichtigsten Stichwortgeber in der deutschen Kultur der Gegenwart wäre, das fand ich etwas hyperbolisch, aber toll. Klar, das interessiert dich, da hast du einen Ehrgeiz, da kommst du in Debatten rein, ich hatte so eine Debatte letztes Jahr gehabt mit Kaube, den ich gern mag, also Kaube meinte, Geisteswissenschaften seien Wissenschaften, und ich denke das nicht, und schon hast du ein Follow-up. Oder meine Sport-Sache, da habe ich nicht irgendeiner Sportredaktion in Deutschland erzählt, »also ihr müsst aber jetzt anders schreiben«, aber die schreiben tatsächlich anders als vor 15 Jahren, and I think I was part of that.

»Würden Sie was für die ›Geisteswissen-
schaften‹ schreiben?«

Der Umblätterer: Das geht schon zur nächsten Frage, die die erste zuspitzt, wenn man sich nämlich die Personen anschaut, die du schon genannt hast, deine intellektuellen Freunde, Karl Heinz Bohrer und Peter Sloterdijk, oder auch Henning Ritter und Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher …

Gumbrecht: Bei Ritter ist es genau umgekehrt.

Der Umblätterer: Du meinst …

Gumbrecht: … umgekehrt, also wenn man der Sohn von Joachim Ritter ist, kann man natürlich keine akademische Karriere haben, Ritter hat bei Verlagen gearbeitet, dann die FAZ-Sache gemacht, großartig gemacht. Und wenn du ihn heute siehst, kann er überall schreiben, er ist einer der großen Intellektuellen im Land, aber Ritter hat mittlerweile auch einen Dr. h. c., und ich denke, mit Recht. Bei Karl Heinz Bohrer ist es ja biografisch gesehen auch ähnlich.

Lomo-Serie, Florian Fuchs und Hans Ulrich Gumbrecht at Stanford

Der Umblätterer: Oder es gibt auch Schüler von dir im Feuilleton. Du hast zwar gesagt, Verantwortung fühlst du nicht so richtig, aber de facto hast du ja inhaltlichen Einfluss. Eben die Sportjournalisten, die jetzt anders schreiben. Stellst du das hinterher fest und sagst, »Ach, die schreiben ja jetzt anders, das wollt ich ja jetzt gar nicht so, ist ja lustig«, oder ist das mit in den Ehrgeiz eingeflossen irgendwann?

Gumbrecht: Ehrgeiz ist ja immer so ein Wort, was ganz furchtbar klingt, aber das kannst du schon schreiben. Um es so zu formulieren, in Interviews werde ich auch immer gefragt, wie ich das akademisch alles so geplant habe. Aber vielleicht bin ich deshalb auch immer in so katastrophischen Situationen, ich bin kein Mensch von langen Planungen, also ich weiß zum Beispiel, dass ich im Sommer dieses Latenzbuch fertig schreibe, und ich weiß, dass ich wahrscheinlich als nächstes Buch eine Diderot-Biografie schreibe, ein großes Buchprojekt, und das hat mit Lebensende, also mit meinen 62 Jahren zu tun. Das sind Bücher, die ich wirklich noch schreiben will, aber ich plane nicht so langfristig.

Ich hätte nicht sagen können, dass ich mich irgendwann entschlossen hab, ich muss jetzt nach Amerika gehen. Martin Seel hat mal geschrieben, es gehört zur agency dazu, die Fähigkeit sich bestimmen zu lassen von Situationen und Gelegenheiten. Und, ja doch, das war Gustav Seibt, den kannte ich, weil er ein Freund von einem Schüler von mir war, und er war Assistent bei Ritter, und der fragte im Auftrag vom Ritter, als die grade angefangen haben mit der Geisteswissenschaften-Seite in der FAZ, »würden Sie was für die ›Geisteswissenschaften‹ schreiben?« Das habe ich natürlich nicht geplant, das meine ich mit keiner Verantwortung.

Klar möchte ich, dass gut geschrieben wird. Ich möchte z. B. bei bestimmten Debatten, dass die eine Seite gewinnt und die andere nicht, aber ich habe keinen Masterplan, was denn mein Beitrag für die Geisteswissenschaften sein sollte. Eine gute Metapher, die Humberto Maturana immer gebraucht hat, ist der Drift vom Segelboot: Ich hab schon immer eine Ahnung, wo ich hin möchte, aber nicht langfristig, und deswegen meine ich, ich folge keiner Verantwortung.

Eine Analogie ist, dass Sportlern ja immer angemutet wird, sie sollten role models sein, aber das ist nicht, warum man Sport macht. Dass dann irgendwelche Sportler role models sein könnten, ist ja schön, und wenn ich einen Einfluss auf eine bestimmte Richtung nehmen kann, die mir sympathisch ist, ist mir das auch Recht, aber ich könnte dir jetzt nicht sagen, welches denn der nächste Schritt wäre, wo ich möchte, dass das deutsche Feuilleton hingeht.

Der Umblätterer: Du warst 2004 bei einem Vierergespräch dabei, mit Frank Schirrmacher, Henning Ritter und Martin Meyer.

Gumbrecht: Genau.

Der Umblätterer: Damals hast du es ähnlich formuliert …

Gumbrecht (nimmt ein schmales Buch von einem Stapel, »Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren?«): Das hast du, oder?

Der Umblätterer: Nee?

Gumbrecht: Ja dann gebe ich dir das jetzt, das ist das Weihnachtsgeschenk des Präsidenten der Uni Osnabrück, das Foto, das da drin ist, ist das FAZ-Foto von dem Vierergespräch.

Der Umblätterer: Ja, ich habe den Artikel hier, da ist das drin.

Gumbrecht: Nee, ist ein anderes Foto, aber selbe Serie, die Uhr ist leider Gottes stehen geblieben, die haben eine sehr elegante Uhr.

»What was he thinking!«

Der Umblätterer: Jedenfalls sagst du da genau dasselbe über dein Interesse, was den Einfluss auf das Feuilleton angeht. Was sich daran anschließt, ist eine Frage nach dem Gegenwind, den es dann gibt. Du hast im »Freitag« gerade etwas über Risikodenker geschrieben, und die Community, die beim »Freitag« immer sehr lebhaft antwortet …

Gumbrecht: Ja, Wahnsinn.

Der Umblätterer: Die meisten dort haben sich über deinen Artikel beschwert und sagen, »Ihnen nehme ich das natürlich nicht ab, Herr Gumbrecht, dass sie Risikodenker sind«. Und in der »Welt« gab es auch eine Antwort …

Gumbrecht: Vom Feuilletonredaktionschef.

Der Umblätterer: … der das ähnlich sah. Würdest du sagen, um es mal so zu formulieren, die kalifornische und die deutsche intellektuelle Lebenswelt können nur im Dissenz zueinander leben? Du hast im Interview mit der »Welt« Anfang November eine Andeutung in diese Richtung gemacht.

Gumbrecht: Du hast wahrscheinlich auch den Artikel in der »Zeit« gelesen von vor drei, vier Jahren, dort heißt es, meine Reputation und mein Talent sei, immer Meinungen zu spalten. Ich sage irgendwas, und dann sind ein paar Leute stark dafür und, wie bei dem Text über riskantes Denken, andere sagen, »Nein, absolut nicht«. Ich kann nicht sagen, dass ich das bewusst mache oder kultiviere, aber ich merke, dass das eine Wirkung ist, die ich habe.

Zum Beispiel kriege ich größtenteils, wie die meisten hier, bei den class reviews close to einer Idealnote von den Studenten. Aber nach einem Seminar, das ich grade gemacht habe, bei dem ich dachte, es war unheimlich gut, sehe die Grafik der Bewertungen und sage, »Was, das ist ja furchtbar!« 60 Prozent der Studenten sagen ganz explizit, das sei das beste Seminar, das sie in Stanford je gemacht haben, und die anderen sagen, »What was he thinking!«.

Ich kultiviere das nicht, aber ich würde sagen, z. B. so eine Sache wie der Jauß-Text, der bald in der »Zeit« kommt, oder die Sache im »Freitag«, dass das mittlerweile zu mir als Produkt gehört. Die Zeitungen wissen, ich schreibe irgendwas zu so einem Thema, und da kriegen sie eine Menge Reaktion, und das ist es natürlich, was ein Medium interessiert. Es ist ja dem »Freitag« Wurst, ob die Leute beistimmen oder nicht.

Den Unterschied zwischen hier und Deutschland kann man gut sehen, wenn man sich z. B. hier die Division of Literatures, Cultures, and Languages (DLCL) in Stanford anschaut, da finde ich es bemerkenswert, wenn man sagt, es sind 40 faculty members, da gibt es junge Persönlichkeiten und a couple of big guys, die alten, Girard und Serres, oder nur Robert Harrison und mich. Wenn das ein deutsches Seminar wäre, wäre es, statt zusammenzuwachsen, schon längst in zwei Teile gespalten, und es gäbe eine Menge Leute, die miteinander nicht können, nicht zusammen in einer Kommission sein könnten usw.

Das finde ich bemerkenswert hier: Du kannst verschiedene Meinungen haben, du kannst beständig drüber streiten, produktiv streiten, but that’s normal. Das ist in Deutschland, finde ich, undenkbar. Und ich überlege immer, warum mir Deutschland oft auf die Nerven geht, und es ist letztlich das, dass in dem Moment, wo man in Deutschland merkt, dass es einen Dissenz gibt, ziehen alle den Schwanz ein oder du kriegst einen Streit.

Ich meine z. B. schon wenn ich etwas sage, was kontrovers ist, heißt das ja nicht, dass ich nicht den guten Grund der anderen Meinung sehe, aber man kann ja auch mal sagen, das ist wahr. Und du siehst ja die Reaktionen z. B. im »Freitag«, also alle sagen wie furchtbar und wie kann ich das sagen. I mean, in the first place I can say that … Aber noch mal zu deiner Frage: Ich würde sagen, was die Leute hier wählen würden, wenn sie das deutsche Spektrum hätten, oder was die Deutschen wählen würden, also our kind of people, wenn sie hier lebten, would not be so different. Die meisten Deutschen würden hier auch Obama wählen und würden sagen, »wäre schön, wenn er noch ein bisschen linker wäre«, irgend sowas. That is not so different.

Die Differenz, die vielleicht, durch die Tatsache, dass ich in Kalifornien bin, in Deutschland provokant ist, ist, dass ich nicht mehr gewöhnt bin und das vielleicht auch kultiviere, in der Hinsicht strategisch zu sein. Es war typisch von deutschen Freunden, hier zu sagen, um Gottes willen, wie werden die Deutschen auf den Jauß-Text reagieren. Well, I’m interested but I really don’t care. Why should I? For Christ’s sake.

»Streitkultur« oder so

Der Umblätterer: Das nächste hat damit gleich zu tun, nämlich mit kalifornischer Abgeschiedenheit. Und zwar schreibst du, ich habe mir da das erste, was du 1989 in der FAZ über Kalifornien schreibst, angekuckt … Und zwar machst du da, vor 22 Jahren, eine Rundreise von Berkeley über Stanford zu Hayden White nach Santa Cruz. Damals gab es noch diesen lustigen Begriff des Post-Poststrukturalismus, was auch immer der war oder ist, und du sagst, was Hayden White dir damals davon erzählte, würde in Deutschland immer noch als neokonservativ disqualifiziert werden.

Letztlich konterkarierst du beide Positionen – Kalifornien und Deutschland – und schreibst, »Aber im Gegensatz zu den deutschen Apologeten der Aufklärungstradition« – hast du die grade wieder als deutsche Haltung zitiert, wäre die Frage – »hält White grade nicht an dem Universalanspruch des Postulats fest, daß Wissenschaft ›politisch‹ und überhaupt (ernste) ›Wissenschaft‹ zu sein habe. Man könnte sich fragen, ob dieser Verzicht [auf den Post-Poststrukturalismus] in Deutschland eine Folge jener intellektuellen Abgeschiedenheit ist, die – allerdings unter amerikanischen Bedingungen – in Santa Cruz gerade zu dem umgekehrten Ergebnis, nämlich der Inflation des politischen Anspruchs geführt hat.« Die Frage ist also die nach der jeweils spezifischen intellektuellen Abgeschiedenheit in Deutschland und in Kalifornien, besteht die noch?

Gumbrecht: Das ist komplex, das finde ich interessant, weil ich das jetzt nicht mehr so sehe wie damals. (überlegt) Ob sich das wirklich geändert hat oder ob ich mehr kapiert habe über die Umstände hier, ist schwer zu sagen, einen Unterschied sehe ich weiterhin in der schon erwähnten Diskussionskultur hier. Die finde ich hier in Stanford positiv, und die ist nicht überall so, an der Cornell University, NY, ist es wirklich nicht so. Wenn das hier funktioniert, dann, habe ich den Eindruck, funktioniert das, weil sich die Leute als citizens verstehen. Bis in eine discussion sind sie citizens, also nicht, dass du was beitragen musst zu den USA, eher in einem Aufklärungssinn, wenn man will. Wie überhaupt in diesem Land, wenn es gut klappt, diese Aufklärungstradition …

Der Umblätterer: Eine gemeinsinnliche Stimme?

Gumbrecht: Ja so, you meet, like, a town hall meeting, das bedeutet, Leute haben verschiedene Meinungen und man schaut, was rauskommt. Wenn hier in einer Kommission ein Lehrstuhl besetzt wird, dann wird nicht geheim abgestimmt und die Minderheit letztendlich unterdrückt, damit man eine einhellige Meinung nach außen hin abgeben kann, sondern es wird in die Fakultät gegeben zur Diskussion. Denn der Agent, der die Empfehlung an die Universitätsleitung gibt, ist die Fakultät, verkörpert durch die Dekanin. Und da sagt man immer, why should we be unanimous, wenn es mehrere Kandidaten gibt und keiner der Teilnehmer der Kommission findet im schlimmsten Fall keinen von beiden unmöglich, gibt man die Präferenzen heraus. Und dann wird in der Fakultät diskutiert und jeder akzeptiert dann die Meinung, das ist eben ein demokratischer Prozess. Das ist die Illustration von citizenship in meinem Sinn.

Im Gegensatz dazu, und das würde ich für die große Differenz halten, meine Kollegen in Deutschland, die untereinander diskutieren, finde ich, diskutieren nicht als citizens, obwohl sie es immer sagen, oder es heißt dann »Streitkultur« oder so. Sondern sie diskutieren immer als Wissenschaftler. Weil dieser Wissenschaftsbegriff so stark ist, dass man eigentlich Recht haben sollte am Ende. Zum Beispiel wenn befreundete deutsche Professoren mir sagen, dass sie nicht verstehen können, dass ich Paul de Man nicht mag. Dann ist das immer so: »Du bist doch intelligent, du müsstest doch de Man mögen.« Oder: »Am Ende eines Tages wirst du einsehen, dass de Man …«

Der Umblätterer: Also schon noch die »Apologeten der Aufklärungstradition«, die wirken deiner Ansicht nach immer noch?

Gumbrecht: Na gut, ich hab des jetzt deswegen nicht verwendet, weil ich eigentlich, wie ich die Aufklärung verstehen würde, voraussetze, dass andere Leute andere Meinungen haben. Ich meine, im schlimmsten Fall sozusagen, muss man eben abstimmen, es gibt eine Mehrheitsmeinung und die gewinnt dann. Aber es könnte ja auch sein, dass ich, wenn eine Diskussion gut läuft, dass sich was anderes ergibt.

Wenn ich sehe, dass 60% meiner Kollegen, 70%, jemanden wollen, den ich nicht wollte, dann würde ich nicht sagen, die Meinung der Kommission muss dominieren, weil ich meine, das ist jetzt einmal so festgelegt, dass die Fakultät als Kollektiv den Vorschlag an den Dekan macht, verstehst du. Da würde ich aber nicht sagen, »Ja, aber eigentlich haben sie Unrecht gehabt«, sondern da würde ich sagen, ich habe eine Meinung gehabt, die sich als exzentrischer herausgestellt hat, als ich dachte. Ich kann argumentieren, warum ich sie hab, ja, so wie ich ja auch nicht erwarte, dass ein konservativer Bekannter von mir mich eines Tages überzeugt, dass George W. Bush wirklich der beste Präsident war.

Der Umblätterer: Diese Selbstevidenz der Wahrheit.

Gumbrecht: Ja.

Der Umblätterer: Dann eine ganz praktische Frage: Ich weiß, dass du viele Kontakte hast zu Journalisten, steuern diese Kontakte auch deinen Zeitungskonsum? Liest du im Internet? Hier in der Bibliothek kommen die Sachen ja immer sieben Tage später an. Wie läuft das mit deiner Feuilletonlektüre?

Gumbrecht: Nein, also ich lese nur jeden Tag den Sport in der »New York Times«, das stimmt wirklich, das ist nicht nur eine Stilisierung. Wenn ich an einem Morgen keine Zeit habe, dann lese ich ihn hier im Büro. Und falls du das als Jux mit reinschreiben willst: Ich war in der 1. Klasse Volksschule unheimlich schlecht, und das war das Jahr, als Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat, und meine Eltern sagten: »Wenn du jetzt lesen kannst, dann kannst du immer Sport lesen.« Und da habe ich angefangen, über Fritz Walter in der »Würzburger Mainpost« zu lesen.

Also den Sport lese ich regelmäßig. Zum Beispiel fahre ich deswegen in Deutschland immer 1. und nicht 2. Klasse im Zug, weil es da for free FAZ, »Süddeutsche« und »Welt« gibt. Und wenn ich Zeit hab, ich mein ich find das sehr angenehm zum Lesen, aber ich verfolge das nicht, weil ich auch denke, nothing happens if I don’t know. Außer wenn mir jetzt jemand sagt, da ist was Interessantes, vor allem, wenn mir jemand sagt, da hat jemand auf dich reagiert. (lacht) Oder so, wie du mir letztens wegen deines Umblätterer-Artikels die Philosophie-Ausgabe der »Zeit« kopiert hast, das finde ich interessant. Auch wieder von der Idee her, dass die akademische Welt, also die Geisteswissenschaften, näher an das Feuilleton gerückt sind und die »Zeit« so ein Thema macht über Philosophie. Das möchte ich dann gerne lesen. Aber jetzt nicht, weil ich denke, ich muss informiert sein, das interessiert mich wirklich. Aber sonst verfolge ich nichts regelmäßig außer Sport.

»I had but one idea in my life.«

Der Umblätterer: Noch eine letzte Frage zu deiner Feuilletontätigkeit. Und zwar, weil du so viel schreibst, so viele Interviews gibst. Allein schon, wenn man nur sieht, was aus den letzten zehn Jahren im Internet zu finden ist. Da sind ja ganz oft Sachen bei, die sich wiederholen. Was sagst du dazu, stört dich das im Nachhinein?

Gumbrecht: Du meinst, dass ich immer dasselbe sage?

Der Umblätterer: Diese Stilisierung, um die es gerade ging, und gleichzeitig diese Präsenz, die du hast. Zum Beispiel diese Sportgeschichte, die du erwähnt hast, die würde man mindestens zehnmal finden. Bist du da irritiert?

Gumbrecht: Nö, also, erst mal würde ich meinen, bin ich vergleichsweise nicht so schlecht. Ich kann schon ein paar Sachen relativ kompetent. Und das würde ich rein als eine Marktsache sehen. Das mit dem Sportthema ist wahrscheinlich deswegen so, weil es relativ neu ist, so über Sport zu reden. Bredekamp hat das mal in der NZZ in einer Rezension über das Sportbuch geschrieben. Das fand ich natürlich toll von Bredekamp, »so hat noch niemand über Sport geschrieben«, ganz positiv und hyperbolisch gemeint, aber du könntest das ja auch deskriptiv meinen, so über Sport zu reden. Das letzte, was ich zu dem Thema gemacht habe, läuft grade, mit der FIFA und dem DFB im Vorlauf für die Frauenfußball-WM. Ich hab ein ganz langes Interview gegeben, warum ich Frauenfußball heute ästhetisch schöner finde. Um das zu erklären, muss ich ein paar Sachen wieder erklären, die in einem Buch stehen. Wie sollte ich nicht?

I can for example claim and am proud of it, ich hab im Leben noch kein Seminar zweimal gehalten, es gab auch keins mit noch mal demselben Titel. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn ich, sagen wir mal, in einem Lyrikseminar nicht Sachen sage, die ich schon gemacht habe. How could I? I get your point, und das ist mir immer etwas peinlich, das ist vielleicht eine gute Antwort, man muss sich aber dran gewöhnen.

Und es ist wichtig, dass das völlig counterproductive ist, wenn man das nicht macht. Denn mich freut es z. B., dass der DFB und grade die Frauen darauf aufmerksam geworden sind, wenn ich da jetzt den Punkt gut machen will und erklären will, warum es Gründe gibt, Frauenfußball heute ästhetisch besser zu finden, muss ich bestimmte Sachen erklären. Und wenn ich die nicht erkläre, weil ich denke, das gibt es ja schon irgendwo, verstehst du, es gibt da so eine gewisse Arroganz, man erklärt das dann nicht mehr. Ich sehe sowas auch bei Kollegen, »das hab ich ja schon in dem Artikel von 1993 geschrieben« oder so, und das geht einfach nicht.

Der Umblätterer: Das klingt ähnlich wie deine Kritik an der Wahrheitsliebe, dieser Drang zur Originalität der Wahrheit: Nur einmal ist man origineller Denker und darf es sein und dann ist die Idee bereits abgetreten.

Gumbrecht: Ich habe, kenne und verstehe den Ehrgeiz. Hayden White hat mal gesagt, das habe ich in »Unsere breite Gegenwart« zitiert, und es gefällt mir unheimlich: »I had but one idea in my life, but hey, most people had none.« Ich würde sagen, das mit der Präsenzsache, that I can claim. There is something that’s made a difference, and that’s associated with me. Ich möchte also nicht mein Leben damit beschließen, dass ich nur noch Präsenz mache, und ich möchte auch nicht dauernd sagen, »Stimmung, ja, das hat mit Präsenz zu tun«. I mean, I can show the genealogy, aber es ist nicht das 27. Präsenzbuch, was ich gemacht habe. Oder »Unsere breite Gegenwart« oder jetzt das Latenzbuch, klar, es ist eine Sequenz, aber ich hab einen Ehrgeiz, dass das schon etwas anderes ist, insofern verstehe ich diesen Druck. Aber ich denke immer, vorauszusetzen, dass alles, was du irgendwo gesagt oder publiziert hast, ja irgendwie available ist und deswegen nicht mehr gesagt werden muss, das funktioniert nicht.

Der Umblätterer: Für einen Feuilletonisten allemal.

Gumbrecht: Ich will noch eine Sache sagen, das ist ein großes Problem bei Dissertationen, weil Leute oft glauben, was sie schon mal gesagt haben oder was schon irgendwo steht, da muss man da nur eine Fußnote machen. Das ist nicht immer gut, du musst manchmal Dinge noch mal schreiben. Dann kann man sagen, also für alles weitere siehe da und da. Aber bei zwei von drei Dissertationen gibt es einen Punkt, wo ich sage, nein, also hier musst du zwei Seiten einfügen, weil ich weiß, was du sagen willst, aber das Argument ist nicht rund, wenn das da nicht steht.

Der Umblätterer: Noch ein paar kurze Fragen.

Gumbrecht: Okay.

Der Umblätterer: Schnellschussfragen.

Gumbrecht: Gut, so was mache ich gern.

Der Umblätterer: Ein Kolloquium mit deinen fünf Wunschgästen – wo und wer?

Gumbrecht: Fünf Wunschgäste … (Es klopft.) Ja?

(Adrian Daub, Assistant Professor of German, der nächste Bürobesucher, kommt herein.)

Gumbrecht: Ein Interview, we are almost in the final stretch. Du kannst dich gern beteiligen. Die Frage war, ein Kolloquium mit fünf Leuten, die ich einladen würde.

Der Umblätterer: Wo und wer.

Gumbrecht: Also, im Humanities Center hier im Sommer, wenn nichts los ist. Wen möchte ich einladen, also Sloterdijk immer, der ist im Kolloquium sehr, sehr gut. Dann vielleicht Harold Bloom, dann noch Martha Nußbaum, ich möchte einladen Adrian Daub und dich.

Adrian Daub: Ich komm auf jeden Fall. (Auf dem Tonband Gelächter.)

Der Umblätterer: Ich will Euch nicht aufhalten.

Gumbrecht: Nein nein, komm, mach, es ist ja Schnellschuss.

Der Umblätterer: Es gäbe auch noch eine ganze Seite mit …

Gumbrecht: Mach kurz Schnellschüsse.

Der Umblätterer: Die nächste hat mit dem Tisch, an dem wir sitzen, zu tun, bzw. mit dem, was auf ihm steht: Dr Pepper oder Coke?

Gumbrecht: Ja, das hat sich geändert, normalerweise Diet Dr Pepper, das ist richtig, in recent for some reason I like Zero Coke, ich bin im Moment in so einer Schnellphase, jetzt habe ich gern das mit Lime, hier, Coke Light Lime.

Adrian Daub: Das überrascht mich jetzt auch ein bisschen.

Gumbrecht: Ja ja, eigentlich Dr Pepper, ich meine, man mag das weiter, ich weiß nicht, eine Übergangsphase.

Der Umblätterer: Du hast einen Jeep Wrangler ’87, richtig?

Gumbrecht: Nee, ’89.

Der Umblätterer: Hast du den gekauft, als du hier angekommen bist?

Gumbrecht: Nee, nicht gleich, da hatte ich kein Geld.

Der Umblätterer: Dann geht die Frage nicht, dann überspringen wir die.

Gumbrecht: Du willst wissen, ob das wirklich wahr ist, dass das aus der Erinnerung an die GIs war, die Väter von meinen Klassenkameraden in der Volksschule waren.

Der Umblätterer: Wahrscheinlich will ich das wissen, ja.

Gumbrecht: Ja, das ist richtig. Unmittelbar als wir ankamen, habe ich kein Geld gehabt.

Der Umblätterer: Dein Anathema?

Gumbrecht: Also ein Thema, über das man überhaupt nicht reden soll? (überlegt) Na ja, da haben wir schon vorhin drüber geredet, wie soll man die Geisteswissenschaften in Zukunft verändern, sozusagen, programmatisch. Das ist okay im Sinn dieses Drifts, dass man nur reagieren kann auf das, was passiert, aber so ein »Das sollen sie eines Tages werden«, das bitte nicht.

»Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan
je gewesen.«

Der Umblätterer: Welches der Memorabilia in deinem Büro hast du hier, weil du dachtest, du vergisst vielleicht seine Herkunft und nicht das, was es darstellt oder abbildet.

Gumbrecht: Ja, das ist die Todesanzeige von meinem Mathematiklehrer. Weil, das war immer ganz furchtbar, ich hab mir immer gedacht, dass ich saudumm bin, weil, ich meine, in Mathematik konnte ich nur gut sein, wenn ich auswendig gelernt habe vor den Klassenarbeiten in Bayern. Der hat ganze lange gebraucht, bis er gestorben ist, hatte auch den Namen Wohlleben, und jetzt ist hier die Todesanzeige von Herrn Wohlleben.

Der Umblätterer: (Blick zur Pinnwand.)

Gumbrecht: Das ist nicht nur, aber auch ein memento mori, aber auch ein Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch nicht so schlau bin, wenn ich da auf Herrn Wohlleben kucke. Ich hatte wirklich immer einen Albtraum. Ich kann, weil ich so wenig schlafe wahrscheinlich, mich nie an Träume erinnern.

Aber an einen Traum kann ich mich immer erinnern, und der hat damit zu tun, dass ich dann ein ganz glorreiches Matheabitur geschrieben habe. Aber ich habe mir das selber nie zugetraut und die Geschichte ist, ich kann sie kurz erzählen. Also, ich sitze hier, und es kommen so Männer mit grauen Regenmänteln rein und sagen (bayrischer Akzent): »Guten Tag, Herr Professor, wir sind vom bayrischen Kulturministerium und wollten Sie noch mal aufsuchen, denn bevor die Abiturarbeiten von 1966 geshreddet«, wie heißt das auf Deutsch, vernichtet, »vernichtet werden, wolln mia no ma senn, es ist nämlich Zweifel aufgekommen, ob das mit rechten Dingen zugegangen ist mit ihrem Mathematikabitur.«

Und dann haben sie hier das Matheabitur von 1966, und ich sitze hier und komme zunehmend ins Schwitzen, und nach vier Stunden kommen die zurück und sagen: »Ja, gar nix, das ham wir uns gedacht. Würden sie jetzt bitte mit uns zum Präsidenten kommen, weil Sie sind nicht nur kein Professor mehr, Sie sind auch kein Doktor, und Sie haben nicht einmal ein Abitur.« Im besten Fall wache ich dann auf, im schlimmeren Fall wache ich auf, wenn ich bei Hennessy [dem Präsidenten von Stanford] bin, im schlimmsten Fall wache ich auf, wenn ich Ricky [seine Frau] anrufen und ihr erzählen muss, »that’s it«.

Der Umblätterer: Okay, und die letzte Frage: Welche ist die zurzeit in deinem Kopf präsenteste Widmung in einem deiner Bücher, an dich oder nicht an dich.

Gumbrecht (überlegt murmelnd).

Der Umblätterer: Weil ich weiß, die sind alle voller Widmungen, die hier stehen.

Gumbrecht: Ich kann dir das sagen, wenn du die wahre Antwort willst, weil ich grade über Jauß etwas schreibe, und da habe ich natürlich meine ganzen Jauß-Bücher hervorgeholt, und der hat mit seiner Ameisenschrift, die klein aber lesbar war, eine Widmung geschrieben, und ich hätte nicht gedacht, dass das so schlecht ist. In »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik«, da steht drin, »Für Isa und Hans Uuhlrich …«, langgezogenes U, hat er immer gesagt, der konnte Sepp nicht sagen, weil er irgendwie … »Für Isa …«, Isa war meine erste Freundin, die war Psychiaterin, »Für Isa und Hans Uuhlrich, da hermeneutisch gleichermaßen betroffen – von Ihrem Hans«. Und diese Kombination von first name und Sie und »Isa und Hans Uuhlrich«, und dieses »da hermeneutisch gleichermaßen betroffen«, weil er kapiert, dass der Psychiater auch was mit Hermeneutik zu tun hat, das fand ich sowas von … Das geht mir also leider nicht aus dem Kopf. Ich würde das gern shredden. Ich seh das auch vor mir, da hat er immer dann Hans Robert, und dann so ein ganz langes ›J‹ … na ja, ich muss das, glaube ich, aus dem Buch rausreißen.

Der Umblätterer: Okay, das war’s.

Gumbrecht: Die anderen in meinem Kopf sind jetzt auch alles Jauß-Widmungen. Zur Habilitation hab ich ein klar von ihm schon gelesenes Exemplar des zweiten Bandes von Max Frischs Tagebuch bekommen. »Zum schönen Ereignis vom 20. Juni 19…«, wann war das, »19…74«, den hatte er also schon gelesen gehabt. Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan je gewesen. Okay. (Seine Sekretärin Margaret kommt herein, mit Papieren.) Okay, okay.

Okay, okay. Ich gehe ins Freie, um das Eckrund von Pigott Hall herum, quer über den Circle of Death und zu meinem zweiten Morgenkaffee.
 


Listen-Archäologie (Teil 7):
Der Medienkonsum des Norbert Bisky

Konstanz, 18. Februar 2011, 18:04 | von Marcuccio

Im DRadio-Programmheft für Februar 2011 gibt es auf der vorletzten Seite (S. 91) ein Kurzinterview mit Norbert Bisky. Letzte Frage: »Welche Medien nutzen Sie sonst noch?« – Antwort:

»NPR Berlin,
Artforum,
Flash Art,
Texte zur Kunst,
nytimes.com,
bild.de,
spiegel online,
Monopol,
Die Zeit,
art,
stern,
Kunstforum International,
QVC,
El País,
L’Officiel Hommes,
taz und FAZ
und im Moment gerade ganz viel Herta Müller und Pasolini.«

(in dieser Reihenfolge, Zeilenumbrüche stammen von mir)
 


Unser Mann in New York: »It’s vild here!«

Lyon, 22. Februar 2010, 14:02 | von Charlemagne

Habe nach dem Mittagsschlaf, inspiriert durch David Wagners gerade bei Twitter stattfindenden Umzug, ein paar alte Ausgaben der »New York Review of Books« durchgearbeitet und bin dort auf einen lange vergessenen Aufsatz von Zadie Smith gestoßen, »Speaking in Tongues«. Wie immer bei Zadie Smith: sehr gut, im Ton wie im Inhalt usw. usf., aber besonders interessant war folgende Stelle, die sich am Obama-Wahlabend abspielt:

»I was at a lovely New York party, full of lovely people, almost all of whom were white, liberal, highly educated, and celebrating with one happy voice as the states turned blue. Just as they called Iowa my phone rang and a strident German voice said: ›Zadie! Come to Harlem! It’s vild here. I’m in za middle of a crazy Reggae bar – it’s so vonderful! Vy not come now!‹

I mention he was German only so we don’t run away with the idea that flexibility comes only to the beige, or gay, or otherwise marginalized. Flexibility is a choice, always open to all of us. (He was a writer, however. Make of that what you will.)«

Den Namen dieses deutschen Autors erwähnt Zadie Smith nicht. Ich hatte aber heute morgen ein bisschen in »Klage« geblättert und war beim Eintrag vom 19. April 2007 hängen geblieben.

Rainald Goetz hat diesen Eintrag mit »Holzfällen« überschrieben und also von Bernhard gehandelt sowie von einem fragenden Daniel Kehlmann, »der mit seinen praktisch textfreien Büchern die gehobene Angestelltenkultur vertritt«. Wie auch immer, in diesem Zusammen­hang fiel mir eine Interviewstelle wieder ein, siehe den »Spiegel« Nr. 46/2008, S. 175:

SPIEGEL: Herr Kehlmann, Sie sind extra nach New York geflogen. Wie haben Sie die Wahlnacht erlebt?

Kehlmann: Zunächst bei einer privaten Party auf der Upper East Side, dann auf einer großen Wahlparty in einem Lokal in Harlem. Es war überwältigend, in diesem Moment in Harlem zu sein, wirklich überwältigend. Das war ja nicht nur ein Augenblick, es dehnte sich über Stunden.

Soweit diese kleine Synopse zwischendurch, und egal, ob es nun vild oder vonderful oder einfach nur überwältigend war, eigentlich sollte man eine andere Stelle dieses kurzen Interviews genauer durchkauen, aber dazu hätte ich länger schlafen müssen.
 


Die menschliche Seite der Supply-Side Economics

Lyon, 21. Februar 2010, 15:26 | von Charlemagne

Mein Lieblingsbäcker hier in Lyon begrüßt mich immer als »Monsieur Charlemagne«, wegen Akzent und Brotwahl. Ab und zu legt er mir eine Handvoll Chouquettes mit in den Beutel und fragt so strahlend, wie nur Franzosen strahlen können, ob »tout va bien?«, und das passt dann gar nicht dazu, dass er mich an Nouriel Roubini erinnert.

In der Zwischenzeit hatte nämlich jenseits des Atlantiks eine bestimm­te Form der Berichterstattung, der Finanzkrisenjournalismus, eine vorreitende Rolle eingenommen. Im Unterschied zum klassischen Journalismus aus dem Wirtschaftsressort, geprägt durch so trockene wie besserwisserische Publikationen wie das »Wall Street Journal«, »Barron’s«, »Forbes« und uninspirierte Artikel, die zum zehnten Mal erklären, wie sich eine Handvoll Credit Default Swaps, kurz CDS, in eine Collateralized Debt Obligation, kurz CDO, verpacken lassen, spielt der Finanzkrisenjournalismus nun auch stets auf die, uargh, »menschliche Komponente« an.

Und lässt sich dabei nicht durch Fakten davon abhalten, wunderbarste Stücke am Rande der Fiktion zu schreiben, um das Thema doch irgend­wie interessant zu machen. Deutlich wurde das zum ersten Mal, als das »New York Times Magazine« ein Portrait über den Finanzkrisen­vorausseher Nouriel Roubini, ominös »Dr. Doom« betitelt, brachte und ihn wie folgt beschrieb:

»With a dour manner and an aura of gloom about him, Roubini gives the impression of being permanently pained, as if the burden of what he knows is almost too much for him to bear. He rarely smiles, and when he does, his face, topped by an unruly mop of brown hair, contorts into something more closely resembling a grimace.«

Nun wird als »Dr. Doom« eigentlich Marc Faber bezeichnet, der den »Gloom Boom & Doom Report« verfasst, ein großer Mahner und Warner auf dem Finanzgebiet, der seit ein paar Jahrzehnten vor allem dafür bekannt ist, immer schnell den Untergang des Amerikanischen Imperi­ums auszurufen und die Börse im Keller zu sehen, bevor die überhaupt weiß, wo sie hin will.

Faber ist ein bisschen der Cowboy unter den großen Investoren, früher gern mit Pferdeschwanz und heute immer noch mit heftigem Schweizer Akzent auf Bloomberg zu sehen. Was seine Vorhersagen angeht erin­nert er einen allerdings eher an »The Boy Who Cried Wolf«, und wer prinzipiell jedes Jahr einen Börsencrash voraussagt (siehe Roubini), hat halt irgendwann mal recht, lässt sich bestimmt auch mit Regres­sionsanalyse nachweisen, hehe.

Aber egal, die Beschreibung von Nouriel Roubini rechtfertigt ja sehr deutlich, dass auch seine Benennung als »Dr. Doom« in Ordnung geht. So sind also Ökonomen? The »dismal science« scheint ja wirklich aufs Gemüt zu schlagen. Überhaupt, nicht schlecht für jemanden der, so »Gawker«,

»(…) draws a cosmopolitan crowd to the frequent parties at his Tribeca loft – an apartment with walls indented with plaster vulvas, incidentally.«

Moment mal. Was hängt da an der Wand? Das Schöne am Finanzkri­senjournalismus ist ja, dass man von fast allen Akteuren, vor allem Wunderkind Andrew Ross Sorkin, immer sofort Antworten auf Anfragen erhält, das neue Berichterstattungsmodel arbeitet nämlich immer; Roubini also zur Klarstellung, via Facebook:

»I work very very hard and I also enjoy life. My home is also partially a cultural salon where I host book parties, debate and election night events, independent film screnings [sic!], live music nights, theater/performance acts, fashion shows, dinner parties and even plain old fashioned dance parties.

I have this professional Dr Doom nickname but I am quite a cheerful person with a few close friends and eclectic group of friends who, like most New Yorkers, are members of the creative class. The innovations of lawyers and bankers can be as creative as those of visual or performing artists, at times too creative you may say given the current financial meltdown. So I live life to its fullest. To paraphrase Seinfeld; anything wrong with that?« (zitiert nach Gawker)

Auch wenn mein Lyoner Bäcker mich an Roubini erinnert: Er hat braune Locken und keinen »mop«. Ob er »Seinfeld« kennt: keine Ahnung. Und was er an seiner Wand hängen hat, will ich wirklich nicht wissen.


In der Frick Collection:
Wie von Neo Rauch, nur in gut

New York, 4. November 2008, 00:05 | von Dique

Bevor wir ins Theater zu den »39 Steps« gehen, sehen wir uns nach dem Frühstück noch die Frick Collection an, welche stark an die Wallace Collection in London erinnert und, wie ich später bei Wikipedia lese, wurde Henry Clay Frick, der die Kunstwerke zusammengetragen hat, in der Tat von einem Besuch in selbiger Sammlung zu seiner eigenen Kunstvilla inspiriert.

Auch die Themenwahl ist ähnlich, es gibt da einen Fragonard-Saal, viele dieser schönen pompösen englischen Portraits von Gainsborough, Lawrence und Reynolds, ein paar schöne Turners und gleich 3 Gemälde von Vermeer. Aber eben kaum Religiöses oder Militärisches, Themen, die auch der Marquis von Hertford nicht in seiner Sammlung haben wollte.

San Andreas erwähnte bereits das Thomas-More-Portrait von Holbein, welches das Publikum mitunter geschlossen auf die Knie fallen lässt, und gleich gegenüber hängt das vielleicht spektakulärste Werk der Sammlung, der »St. Francis« von Giovanni Bellini. Die New York Times schrieb dazu im Oktober 1915, kurz nachdem Frick es für $250.000 gekauft hatte [PDF]:

When the painting was shown in the Old Masters‘ Exhibition at Burlington House the London critics greeted it with enthusiasm. Sir Sidney Colvin said of it: »It is perhaps the most important page of imaginative landscape painting produced in Italy in the late fifteenth century, and, moreover, is wholly original and exceptional in its treatment of the theme.«

And original it is, in warmem gelblichem Ton, der heilige Franz steht aufrecht vor seiner Höhle, die ausnahmsweise hell und wohnlich erscheint und vor der sich ein eingezäunter Steingarten befindet, ein imposanter Esel steht auf der Wiese und man sieht sogar eine Schnur für die Türklingel. Im Hintergrund, gar nicht weit weg, ist die Stadt, und über den Himmel ziehen Kumuluswolken, farblich sieht es von weitem sehr modern aus, wie von Neo Rauch, nur in gut, und das um 1480.

Die gelbe Sonne spendet spätherbstliche Wärme, doch wir müssen ins dunkle Theater, »The 39 Steps«, wie erwähnt. In der Pause gehe ich zum Restroom, vor dem sich eine Schlange aufreiht. Vor mir ein freundlicher Herr im McCain-Outfit, graue Hose, marineblauer Blazer, und der sagt zu mir, in breitem amerikanischen Englisch: »It’s like a poker game!« – »Like a poker game?« – »Full house, waiting for a flush!«

Naja, zumindest das Stück war hilarious, aber das wissen wir ja schon von San Andreas. Wir gehen dann doch noch mal zum Central Park und stehen am Jackie Kennedy Onassis Reservoir und schauen aufs Wasser. Neben uns spricht irgendein Jogger mit zwei Frauen. Er verabschiedet sich gerade und ruft den beiden im Weggehen hinterher: »And please, if you possibly can, vote for Obama!«

Und wir waren noch immer nicht im Metropolitan Museum of Art …


Babylon, BBQ und ein Éclair

New York, 2. November 2008, 05:07 | von Dique

Ankunft JFK. Fast eine Stunde an der Passkontrolle, Lektüre »Persian Fire« von Tom Holland:

»Immigrants, whether slaves and exiles or mercenaries and merchants, thronged the streets of Babylon – history’s first truly multicultural city. Even after the loss of her independence to Cyrus, she had remained the Near East’s supreme melting-pot, her streets filled with a thousand different tongues, the roaring of exotic animals and the flashing of strange birds …«

Dann endlich mit dem AirTrain nach Howard Beach und von dort mit der Metro nach Manhattan, dort treffe ich San Andreas an 42nd Street Ecke 8th Avenue. Gleich weiter in die Pharmacy auf der anderen Straßenseite, um mit Paracetamol versetzten Hustensaft gegen die anklingende Erkältung zu kaufen. Leider gibt es mein bevorzugtes All-in-One von Beechams nicht und ich beginne mich mit einem vergleichbaren Produkt zu kurieren.

Wir gehen dann ins Daisy May’s zum Abendessen, laut dem Zagat (den schleppt San Andreas tatsächlich mit sich rum) das beste BBQ in New York. Sehr einfacher Order-at-the-Counter-Laden, Pappteller und Plastikbesteck, und wir unterhalten uns über »The Graduate«, weil uns das Besteck daran erinnert, wie Ben (Dustin Hoffmann) vom Mann seiner zukünftigen Affäre, Mrs. Robinson, zur Seite genommen wird und dieser zu ihm sagt: »I want to say one word to you. Just one word.« Und nachdem Ben versichert hat, dass er zuhört, sagt er: »Plastics.«

Es gibt dann Ribs, Beef Brisket und vier Side Dishes (Sweet Potato Mash, Creamy Spinach, Dirty Cajun Rice und Corn with Cheese). Die Ribs sind in der Tat ausgezeichnet, das Brisket kommt unerwartet in sehr kleinen Stücken, und wir fragen uns, ob wir vielleicht falsch bestellt haben.

In der New York Times schrieb neulich Holland Cotter in seinem Artikel »A Banquet of World Art, 30 Years in the Making« über den scheidenden Met-Kurator Philippe de Montebello und eine Ausstellung von 300 Werken, die unter seiner Ägide eingekauft wurden, 300 von 84,000(!), die er in dieser Zeit absegnete:

»The 300 objects in the show represent a tiny fraction, and a madly eclectic one. Chinese scrolls, Greek vessels, Oceanic effigies and an 18th-century American pickle holder share the spotlight, with no object privileged as better – grander, rarer, prettier – than any other. This is a wonder-cabinet situation, an exercise in proprietorial pride, an unabashed, if surprisingly low-key, display of fabulousness.«

Darauf freuen wir uns dann morgen, jetzt noch schnell irgendwo in der Nähe auf Kaffee und Éclair und ab ins Bett.


Die 30 besten US-Serien 2007/08, Platz 10:
John Adams (Miniserie, HBO)

Barcelona, 8. August 2008, 06:49 | von Paco

(Übersicht: Alle 30 besprochenen Serien. – Vorwort: Besuch im Serienland.)

HBO ist mit den 7 Folgen dieser Miniserie eine eindrucksvolle Erzählung des rechtsstaatlichen Gründungsmythos der Vereinigten Staaten gelungen. Mit dem Porträt des zweiten Präsidenten John Adams haben sich die Autoren gleich die ersten 50 Jahre des neuen Staates aufgebürdet, und trotz der teilweisen (aber bei solchen Jahresspannen natürlich üblichen) Ahistorizität ist diese Geschichtsstunde gelungen.

Gleich zu Anfang wird die puritanische Redlichkeit von Adams effektvoll unterstrichen: Nach dem Boston Massacre 1770 verteidigt er die englischen Mördersoldaten – eine undankbare Aufgabe, mit der er aber demonstrieren will, dass das bald gegründete Amerika ein Land von Recht und Ordnung sein müsse.

Paul Giamatti gibt seinen John Adams als Pragmatiker, der etwa mit dem savoir vivre der Franzosen nichts anzufangen weiß (die »New York Times« findet übrigens, er sehe aus wie Shrek, hehe). Auf einem Bankett mit potenziellen europäischen Geldgebern muss er etwa von Benjamin Franklin dahingehend zurechtgewiesen werden, dass er nicht gleich zur geschäftlichen Sache kommt. Am Ende der 5. Folge wird er jedenfalls Präsident (1797), nach einem knappen Sieg über Jefferson, dem er dann bei der nächsten Wahl (1801) aber weichen muss.

Obwohl die historische Vorlage viele essenzielle Gerichtsszenen mit sich bringt, denen bei der Verfilmung nicht immer das Staubige ganz genommen werden konnte, gibt es auch viele schöne Einzelszenen, etwa die Audienz beim englischen König George III. in Folge 4: Der King kuckt erst ganz böse und meint, er sei der letzte gewesen, der einer Unabhängigkeit der U. S. positiv gegenübergestanden habe. Man befürchtet schon das Schlimmste – eine prickelnde Szene, bei der George dann aber ganz realpolitisch vermerkt, dass er trotzdem der erste gewesen sei, der die Freundschaft des neuen Landes suchen wollte.

Am bedeutendsten an der Serie sind freilich die aktuellen Lesarten, die sie bietet. So will Adams die jungen USA nach der so genannten »XYZ-Affäre« (1798) aus einem Krieg mit Frankreich heraushalten (Folge 6). Dem entspricht auch die Botschaft im Vorspann von Folge 7: »War is never inevitable.«

Viele Artikel in US-Medien zeugen davon, dass »John Adams« gerade im Jahr der Präsidentschaftswahl ein hochrelevantes Fernsehereignis gewesen ist. Die Miniserie wurde für die Verleihung der Emmy Awards im September denn auch mit 23 Nominierungen bedacht.


Die NYT, der NYRB, das TLS, der LRB

Leipzig, 23. April 2008, 14:08 | von Paco

Sapperlot noch mal, jetzt ist uns doch etwas durch die Lappen gegangen. Und zwar:

Michael Hofmann: »Die Literaturkritik sitzt huckepack und sagt, wo’s lang geht«. Zwischen Ruhm, Spott und Bescheidenheit: Vier Charakterphysiognomien der angelsächsischen Literaturkritik. (Aus dem Engl. von Axel Monte.) In: Süddeutsche Zeitung, 22. 12. 2007, S. 16. (vgl. Perlentaucher, Original hier als PDF)

Definitiv Top-10-Kaliber, jetzt eben apokryphe Schrift zu unserem Feuilleton-Reader für 2007.

Der in der S-Zeitung ganzseitige Text basiert auf einem Vortrag, den Michael Hofmann im November auf der Tagung »LitCrit« gehalten hat. Eberhard Falcke von der »Zeit« empfand ihn damals als »erhebendes Intermezzo«. Es geht darin um die 4 Leitsterne der weltweiten Literaturkritik, hier 13 Stichpunkte:

New York Times (NYT)

Seinen ersten Auftrag für einen NYT-Artikel ereilt Hofmann als »unergründlicher Gandenerweis aus der Welt der Götter«.

Zum Ansehen, zur Breitenwirkung der NYT: »Wer eine Besprechung in der NYT bekommt, und sei es ein Verriss, der hat es in gewisser Hinsicht geschafft.«

Zur Rezeption: Auch eine nicht besonders negative Kritik kann einem den rezensierten Autor oder dessen Freunde auf den Hals hetzen, wenn sie in der NYT erscheint, Hofmann bringt als Beispiel seinen Review eines Bandes von Donald Justice (»Note 2 plus«).

Die US-Verhältnisse sind also in Maßen vergleichbar mit dem Hörisch/Müller-Battle, ganz anders als in England, denn dort, »wo ich viel mehr und weitaus bissiger geschrieben habe, ist mir so etwas nie passiert, (…). Man reagiert dort nicht auf Rezensionen«.

New York Review of Books (NYRB)

Ein anglophiles Blatt: »wenn ich es in die Hände bekomme, mache ich mir den Spaß, nachzuzählen, wie viele Beiträge von Autoren von diesseits des Großen Teiches stammen, es sind immer um die fünfzig Prozent«.

»Abgesehen von ihrer Ostküstenvorliebe für (fast) alles Britische bleibt die NYRB für mich durch Umständlichkeit und Pedanterie gekennzeichnet. Dort erscheinen die einzigen Rezensionen, die regelmäßig mit Fußnoten aufwarten.«

Daher habe Hofmann auch nie für die geschrieben, denn ein abgeliefertes Manuskript kam mal mit einer Armada von Annotationen zurück, »ärgerlichen und einfältigen kleinen Fragen und Einwänden«: »Das Ding sah aus, als sei es tätowiert worden.«

Times Literary Supplement (TLS)

»Das TLS, das jede Woche vierzig bis fünfzig Seiten mit Rezensionen und Artikeln über Bücher füllen muss, ist für junge Autoren noch immer ein Geschenk des Himmels, auch wenn das Meiste heutzutage von Professoren verfasst wird«.

»Es ist meines Wissens die einzige englischsprachige Zeitschrift, die alle paar Monate ein oder zwei Seiten für Originaltexte in anderen europäischen Sprachen, zumindest den größeren, reserviert: Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch.«

London Review of Books (LRB)

Sei im Gegensatz zur NYRB weniger umfangreich bei sowieso kürzeren Artikeln und »weniger aufgeblasen« als diese.

»Unter den Genannten ist es die einzige Zeitschrift, von der ich mir tatsächlich vorstellen kann, sie von vorne bis hinten durchzulesen; von der ich sagen kann, dass jede Ausgabe mit etwas Lesenswertem aufwartet, mit Beiträgen, an die man sich noch Jahre später erinnert«.

»Wenn ich mich beim TLS zu Hause gefühlt habe, dann hege ich für die LRB patriotische Gefühle. Sie ist eine kleine literarische Republik.«

Zum Stil: Die LRB liefere »einen Text, der Wissen voraussetzt, aber auch Nichtwissen respektiert; der gleichermaßen Leser, Nicht-Leser und (…) Autoren anspricht, der zugleich unterhält (immer wichtig in England!) und bildet«.