Archiv des Themenkreises ›NZZ‹


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2021

München, 11. Januar 2022, 06:00 | von Josik

Wer hätte das gedacht, nach einer langjährigen Pause verleihen wir heute zum *dreizehnten* Mal seit 2005 den Goldenen Maulwurf, für den Feuilleton­jahrgang 2021:

Der 13. Goldene Maulwurf

Wie jedes Jahr war die Konkurrenz so stark wie seit Jahren nicht. Das deutschsprachige Feuilleton des gerade abgelaufenen Jahres 2021 war wieder voller Geistesblitze und Bramarbasse, es war voller Sturm und – auch nicht zu vergessen – voller Drang und es regnete herrlichste Artikel. Apropos Feuilleton und apropos deutschsprachig – wie schrieb Diedrich Diederichsen im Septemberheft des natürlich nicht mit dem »Münchner Merkur« zu verwechselnden Berliner »Merkur«:

»Anders als in den meisten Kulturen der Welt sind es nicht soziale Medien, universitäre Debatten oder offen politisch geführte Auseinandersetzungen, die das Medium der Deutschsprachigen und ihrer Streits ausmachen. Es ist das, was nur noch in ihrer Kultur einen hohen Wert und gesellschaftlichen Einfluss hat, das Feuilleton. In diesem haben bestimmte Männer das Sagen, die gern im Genre des Machtworts etwas zurechtrücken.«

Dieser letzte Satz stimmt wahrscheinlich, obwohl wir ihn natürlich für falsch halten. Aber dass Feuilleton, wie Diederichsen schreibt, ein Medium ist, wenigstens das ist zweifellos richtig. – – –

So oder so ähnlich klangen viele Jahre lang die Vorworte zum Goldenen Maulwurf. Der Golden Mole war ein Preis für die angeblich™ besten Feuilletontexte des Jahres, der immer am zweiten Januardienstag verliehen wurde, damals, als es noch Leute gab, die (nicht als Investoren, sondern am Kiosk) Zeitungen gekauft haben. Ja, und es ist nun über ein halbes Jahrzehnt her, dass wir zum ersten Mal zum letzten Mal den Goldenen Maulwurf verliehen haben. Und tatsächlich ist der Goldene Maulwurf Geschichte. Allerdings war es unabdingbar herauszufinden, welche Schreiberlinge diesen Preis gewonnen hätten, wenn es ihn noch gäbe.

Und daher sind jetzt alle extremst herzlich eingeladen, auf die Gewinnerlinge des Goldenen Maulwurfs 2021 zu klicken:

1. Clemens Setz (SZ)
2. Marlene Streeruwitz (Standard) / Benedict Neff (NZZ)
3. Fabian Wolff (Time) / Maxim Biller (Zeit)
4. Jérôme Buske (Jungle World)
5. Mareike Nieberding (SZ-Magazin)
6. Elfriede Jelinek (junge Welt) / Peter Handke (FAZ)
7. Gregor Dotzauer (Tagesspiegel)
8. Michael Maar/Sebastian Hammelehle/Claudia Voigt (Spiegel)
9. Erik Zielke (nd)
10. Peter Richter (SZ)

Besonders interessant ist ja, dass das Feuilleton des Jahres 2021 vor allem auch ein Feuilleton der Literat*innen war. Daraus kann man schließen, dass das Feuilleton und die Literatur mittlerweile die genau gleiche gesamtgesellschaft­liche Bedeutung haben, zwar nicht unbedingt im Diederichsen’schen Sinne, aber doch in irgendeinem anderen.

Übrigens war die Auswahl dieses Mal außerordentlich schwierig, da auf der Longlist einundfünfzig (51) Texte standen: Mit anderen Worten, nie zuvor war unsere Longlist so long.

So long,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 

p.s. Diese ist die regulär 13. Ausgabe des Goldenen Maulwurfs. Die 12. Aus­gabe, unsere Preisverleihung für das Feuilletonjahr 2016, wurde leider Anfang Januar 2017 aus Zeitgründen gekippt. Wir haben die Ergebnisse aber (allerdings ohne Laudationes) im Oktober 2021 nachgereicht. Da die 2016er Preisverleihung nun gleichzeitig stattgefunden und nicht stattgefunden hat, wird sie von uns intern als Schrödingers Maulwurf bezeichnet. Na jedenfalls herzlichen Glückwunsch, Danilo Scholz, der demgemäß unser 12. Preisträger ist.

p.p.s. Die ausgebliebenen Preisverleihungen für die Jahre 2017 bis 2020 sind so zu erklären, dass wir eine längere Feuilletonpause eingelegt haben.

 


Lyrik gegen Medien!

Berlin, 18. Juli 2014, 09:21 | von Josik

Der Endreim ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Die »Süddeutsche« und andere seriöse Zeitungen kolportieren derzeit ein Gedicht, das u. a. die folgenden Strophen enthält (Schreibweise behutsam verändert):

»FAZ« und »Tagesspiegel«?
Lieber kauf’ ich mir ’nen Igel!

»Taz« und »Rundschau«, ARD?
Hm, Moment, ich sage: Nee!

»Bild« oder »SZ« genehm?
Wie spät *ist* es? Ich muss geh’n!

Der Daumen, der nach unten zeigt,
der trifft bei mir auf Heiterkeit.

Viele andere Medien dürften sich aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Gedicht gar nicht erst erwähnt werden, erheblich düpiert fühlen. Um die Gefühle dieser Medien nicht zu verletzen, wird das Gedicht im folgenden lose weitergereimt.

»Mopo«, »Emma« und »Die Zeit«?
Hört gut zu, ich bin euch leid!

»Isvéstija« und »Kommersánt«?
Haltet einfach mal den Rand!

»Kronen Zeitung«, »Standard«, »Presse«?
Haltet einfach mal die Fresse!

»Tagi«, »Blick« und »NZZ«?
Früher wart ihr einmal phatt!

»Guardian« und »New York Times«?
Ihr vermiest mir voll die rhymes!

»Super Illu«, »Bunte«, »Gala«?
Für euch zahl’ ich nicht einen Taler!

»Börsen-Zeitung«, »Handelsblatt«?
Euch mach’ ich doch locker platt!

»Merkur«, »Lettre«, »Cicero«?
Euch spül’ ich sofort ins Klo!

Auch der Hokuspokus-»Focus«
liegt aus Jokus auf dem Locus!

»Junge Welt« und alte »Welt«?
Widewitt, wie’s euch gefällt!

ORF und ATV?
Euch Wappler mach’ ich jetzt zur Sau!

RTL und auch ProSieben
kann man sonstwohin sich schieben.

Mach’ es wie die Eieruhr:
Zähle die Minuten nur!

Und nun: Schafft zwei, drei, viele weitere Strophen!
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (1/2014)

Leipzig, 2. Januar 2014, 13:14 | von Paco

Helgoland

1. »In Noworossisk steht seit knapp zehn Jahren das weltweit einzige Leonid-Breschnew-Denkmal.« (NZZ)

2. Huhu? Doch, die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen sind jetzt vorbei!

3. Als nächstes steht hier am Dienstag, dem 14. Januar 2014, die feierliche Bekanntgabe der zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2013 an. Zum *neunten Mal* wird dann unsere wundersame Siegtrophäe vergeben, der Goldene Maulwurf für den besten Kulturberichterstattungs- und -verarbeitungsartikel! (Ergebnisse vom letzten Jahr hier.)

4. JProgressBar: Die Longlist wurde mittlerweile sondiert, das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque tagt, die Wahl läuft.

5. Bis zur feierlichen Bekanntgabe erscheinen hier aber noch ein paar andere Texte. Wir sind sozusagen grad frisch vom 30C3 zurück und kucken jetzt mal, was inzwischen alles an raddatzfreiem Material eingelaufen ist.

6. »Wenn Günter Brus schreibt, Camus habe einen ›Pestseller‹ verfasst, ironisiert er das sogleich.« (Die Presse)

7. »Der bisher kaum bekannte Autor David Vogel wird gerne in einem Atemzug mit Arthur Schnitzler genannt.« (noch mal Die Presse!)

8. »(…) der sympathische Bio-Metzger Wilhelm Hehe – das ›Hehe‹ ist zugleich Signum seiner Lachfreudigkeit auf seinen Wursttüten –, (…)« (FAZ)

9. Und nun: Der Sprung ins Dunkle!
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2012

Leipzig, 8. Januar 2013, 04:25 | von Paco

Maulwurf’s in the house again! Heute zum *achten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2012:

Der Goldene Maulwurf

Die Nummer 1 herauszudiskutieren, war dieses Jahr nicht schwer, einhellig fiel die Wahl auf Volker Weidermanns endgültige Erledigung des herumdichtenden Grass.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2012:

1. Volker Weidermann (FAS)
2. Jens-Christian Rabe (SZ)
3. Christian Thielemann u. a. (Zeit)
4. Olivier Guez (FAZ)
5. Ulrich Schmid (NZZ)
6. Mara Delius (Welt)
7. Kathrin Passig (SZ)
8. David Axmann (Wiener Zeitung)
9. Friederike Haupt (FAS)
10. Thomas Winkler (taz)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben, wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen der Jury.

Außerhalb der Top-3 gab es übrigens ziemliche Rangeleien. Handke zum Beispiel konnte letztlich wie so oft nicht genügend Stimmen auf sich vereinen, deshalb müssen wir ihm für den Feuilletonsatz des Jahres (»Ein Wortspiel pro Text ist erlaubt.«) separat gratulieren.

Hinweise auf feuilletonistische Supertexte des laufenden Jahres 2013 bitte an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis nächstes Jahr,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Handke-Landschaften in Karlsruhe:
Kling, Chaville, klingelingeling

Konstanz, 4. Dezember 2012, 19:00 | von Marcuccio

Die Feuilletons hatten sich zum Soundcheck verabredet:

Tilman Krause (Welt): »Diese Bilder muss man hören.«

Andreas Kilb (FAS): »Er hat der Landschaft einen Klang gegeben.«

Volker Bauermeister (Badische Zeitung): »Selbst Ziegen sieht er tanzen.«

Willibald Sauerländer (SZ): »… in einer behutsamen, man möchte sagen kammermusikalischen Ausstellung.«

Heute zog dann sogar noch die NZZ nach und berichtet über Camille Corot »mit seinen klangvoll nachhallenden Landschaften«.

Karlsruhe zeigt ja gerade die erste Retrospektive hierzulande. Ich war in der Ausstellung und habe außer zwei vollverkabelten Rentnern im Audioguide-Synchronrundgang jetzt eher wenig Sound im Wortsinn erlebt. Die Hörstation mit den Melodien von Gluck war nämlich dauerbesetzt, wahrscheinlich weil schon zu viele Kritiker geschrieben haben: »intensiv schaut man wohl nur, wenn man sich gleichzeitig dem Hören hingibt«.

Hörverhindert schlug ich mich dann auf die Seite von Sauerländer (SZ): »Corot hat die Stille, den Frieden, die Einsamkeit der französischen Provinzlandschaft entdeckt«. Das klang für mich plötzlich nur noch nach Peter Handke, zumal ein Corot-Bild »La Petite Chaville« heißt: Chaville neben Corots Heimat Ville-d’Avray war 1825 petite.

Sigrid Löffler gab mal zu Protokoll, Handke lebe vor den Toren von Paris ja wirklich »so bukolisch, wie es sich Handke-Verächter zur Bestätigung ihrer hämischsten Ressentiments nur vorstellen können« (vgl. ihre Rezension zur »Niemandsbucht« 1994). Ja, wie konsequent, dass in der Gegend der Corot-Bäume und Bäche heute Handkes »Felsenbienen« summen. Und mit Handkes Blick auf »Birken, die sich als erstes belaubt haben«, landet man unweigerlich bei der Frage, die Andreas Kilb vor diesem Corot-Bild stellt: »Wer weiß, wovon die Waldwege träumen?«

Es kann kulturtopografisch nur eine Antwort geben: Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Hiesige Pilze soll er sammeln. Vor dem Lärm der Laubbläser-Nachbarn soll er hierher fliehen. Davon träumen die Waldwege bei Corot. Die Karlsruher Ausstellung ist so gesehen auch ein grandioser Versuch über den stillen Ort.
 


Was ist nur aus der NZZ geworden!

Berlin, 21. April 2012, 15:46 | von Josik

Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem auch nicht das allerwinzigste Druckfehlerchen sich einschleichen darf, dann sind es natürlich Anagramme, da ja andernfalls der ganze Witz krepiert. Vorgestern hat die NZZ in einer kurzen und sehr launigen Sammelrezension einen ganzen Haufen Anagramme zitiert bzw. gelobt:

Barry Heck / Harry Beck und Hyde Park Corner / Prerecord Hanky sind tatsächlich sehr lustig, Lichtenrade / Hitler Dance ist unfassbar großartig, Europa anagrammiert / an Ego-Primärtrauma ist eine Spitzenleistung und Le marquis de Sade / démasqua le désir ist wirklich der absolute Hammer. Sogar Charlottenburg / Burg Rattenloch ist, obwohl die Burg unverändert bleibt, noch sehr originell.

Bei Lancester Gate / Castrate Angel aber gehen die Schwierigkeiten schon los. Offensichtlich lassen die Abschreibequalitäten der NZZ hier zu wünschen übrig: Aus Lancester Gate könnte logischerweise allenfalls Castrate Engel werden, aber zum Glück heißt es ja im Original: Lancaster Gate.

Gleich einen ganzen Zacken problematischer wird es nun bei diesem Anagramm, so wie die NZZ es zitiert: La gravitation universelle / La vitale régnant sur la vie. Man sieht auf den ersten Blick, dass in La gravitation universelle nur drei Mal der Buchstabe A vorkommt, hingegen in La vitale régnant sur la vie vier Mal. Hier wird also einfach ein A eingeschmuggelt, wo doch eigentlich noch die Buchstaben I und O übrigbleiben. Selbstverständlich hätte das Anagramm zu lauten: Loi vitale régnant sur la vie.

Geradezu hanebüchen wird es nun bei dem folgenden Anagramm: Französische Strasse / Nazi-Ressortchef. Ok, es ist klar, wie das Anagramm eigentlich gebaut wurde: Der Umlaut Ö wurde in OE umgewandelt und Strasse wurde abgekürzt zu Str. Das freilich ergibt das katastrophale Resultat: Franzoesische Str. / Nazi-Ressortchef. Auch hier sieht man natürlich auf den ersten Blick: In Franzoesische Str. kommt der Buchstabe S drei Mal vor, in Nazi-Ressortchef nur zwei Mal. Das korrekte Anagramm müsste also im Plural stehen: Nazi-Ressortchefs.

Zuerst dachte ich, dass die NZZ es hier einfach nur verabsäumt hat, ruchlosen Anagrammschwindlern das Handwerk zu legen. Aber der Fehler ist abermals bei der NZZ selbst zu suchen, wie ein Blick ins Original zeigt.

Ach, ach! Als ich vor Jahren die NZZ noch abonniert hatte, habe ich einmal irgendwo gelesen, dass dort 17 festangestellte Korrekturleser inklusive eines Anagrammredakteurs arbeiten. Wo ist dieser Mensch heute? Wo war hier der, hehe: Ressortchef? Mir ist auch völlig schleierhaft, wie die NZZ-Leserschaft nach diesem himmelschreienden Anagrammskandal so gelassen in ihren Alltagsgeschäften fortfahren kann, als wäre nichts gewesen.
 


»Nicht Martin — Robert Walser!« Ein Nachruf auf Jochen Greven

Konstanz, 7. April 2012, 14:45 | von Marcuccio

Was für ein blinder Fleck der Wikipedia: Zur Ehre eines Eintrags kam er erst postum. Am 2. April startete die enzyklopädische Ad-hoc-Inventarisierung von Jochen Greven. Noch vor wenigen Wochen musste, wer für 2012 seinen 80. Geburtstag auf dem Schirm hatte, den Libelle-Verleger Ekkehard Faude nach dem genauen Datum fragen.

Eigentlich wollte ich ihn noch für ein Porträt treffen, den neben bzw. nach Carl Seelig wohl wichtigsten Menschen für die andauernde Wiederentdeckung von Robert Walser: Jochen Greven schrieb nicht nur die erste deutschsprachige Dissertation über Walser; »praktisch im Alleingang« (Reto Sorg) gab er auch das Gesamtwerk heraus. Zunächst in 12 Bänden für den Genfer Kossodo-Verlag, später dann »Sämtliche Werke in Einzelausgaben« für den Suhrkamp-Verlag.

Wie Greven dabei Seelig und die Seinen überwand, überwinden muss­te, das gehört zu den Lehrstücken der Literaturbetriebsgeschichte, die man nachlesen kann, und zwar in dem Buch, das der Libelle-Verlag zu Walsers 125. Geburtstag veröffentlicht hat: »Robert Walser. Ein Außenseiter wird zum Klassiker«. Es ist Grevens eigentliches Vermächtnis, das Begleitschreiben zu seinem editorischen Lebenswerk.

Lauter unerhörte Begegnungen

»Sie haben ja«, so Greven darin in einem fingierten Brief an den Schriftsteller, »noch gelebt, als da in einer westdeutschen Stadt ein unbedarfter junger Mann, nur weil er irgendein Thema für seine Dissertation suchte, sich unvorsichtigerweise mit Ihren Werken zu beschäftigen begann.«

Die westdeutsche Stadt war Köln, und der Doktorvater hieß Wilhelm Emrich. Der Clou: Weder er noch sein Schützling hatten zu dem Zeitpunkt je ein Buch von Robert Walser gelesen.

Tatsächlich fängt »die Robert-Walser-Story« nicht nur mit dieser unerhörten Begebenheit an. Greven, der früh geheiratet und schon als Student eine ganze Familie zu ernähren hatte, war vor und neben seiner Walser-Herausgeberschaft: Handlungsreisender für Schokoladenformen. Sein Schwieger-Großvater besaß eine solche Fabrik und – keine Ahnung, ob damals auch gerade große Hohlkörperzeit, sprich Ostern war. Es begab sich jedenfalls, dass Greven im Frühjahr 1956 als Vertreter zu Maestrani nach St. Gallen fuhr. Von da wäre es den sprichwörtlichen Katzensprung hinauf nach Herisau gewesen. Noch Jahrzehnte später malt Greven sich aus, was passiert wäre und ist dankbar, dass es nicht zum »Alptraum einer persönlichen Begegnung« gekommen ist.

Ziemlich fies auch Grevens erstes Treffen mit Carl Seelig 1957 in Zürich (diesmal am Rande einer Vertreterreise zu Lindt & Sprüngli). Wer die »Wanderungen mit Robert Walser« kennt, könnte meinen, Seelig sei der Altruismus in Person gewesen. Was ja finanziell stimmt; nur wie Seelig sich über Walsers Tod hinaus als dessen Vormund begriff, das hat fast possenhafte Züge. Bei Greven erfährt man auch, wie systematisch Seelig jede Anwandlung einer Besuchsidee abgeblockt hat. Unter anderem bedeutete er Walser-Fans wie Theodor Heuss, Joseph Breitbach und Hermann Hesse, bloß nicht nach Herisau zu fahren. Wenn es nach Seelig gegangen wäre, hätte nach ihm auch niemand mehr über Walser geforscht. Sein Andenken sollte das maßgebliche bleiben. Dann kam Seelig unter die Straßenbahnräder und doch alles anders.

Unerhört, welche Arbeitsbedingungen der von der Carl-Seelig-Stiftung als Walser-Herausgeber eher geduldete als bevollmächtigte Greven zu akzeptieren hatte: Einblick in die Walser-Autografen wurde ihm nur stundenweise gewährt, und bitteschön während der Öffnungszeiten der Anwaltskanzlei von Dr. Elio Fröhlich, dem Walser-Nachlassverwalter (in seiner Funktion als Präsident der Stiftung, die bis heute sämtliche Rechte an Walsers Werken hält) in der Zürcher Bahnhofstrasse. Greven war sogar extra an den Bodensee gezogen, damit er kostengünstig nach Zürich pendeln konnte. Personenfreizügigkeit war noch genauso wenig erfunden wie ein simpler Kopierer. Greven musste Manuskript um Manuskript erbeten. Kein Wunder, dass das Jahre später doch noch ein Ventil brauchte.

Die Walser-»Chitti«

Chitti? Ja, Berndeutsch für gewollten Streit. Zoff, Boom, Bang. Es war, pünktlich zu Walsers 100. Geburtstag, die Literaturbetriebsfehde des Jahres 1978. Action-Feuilleton zwischen Jochen Greven und Elio Fröhlich. Ausgelöst wurde die Walser-Chitti durch ein indiskretes Typokript, in dem Greven sich den geballten Frust von der Seele schrieb, dass man nach Abschluss der Werkausgabe nicht ihn mit der Entzifferung der Mikrogramme betraut hatte, sondern die nächste Generation: »Robert Walsers Sachwalter«, heute im DLA Marbach verwahrt, war ein Rachepapier: »Ich vervielfältigte […] und verschickte es […] an rund fünfzig mir mehr oder weniger gut bekannte Literatur­redakteure, Kritiker, Germanisten, Schriftsteller, Buchhändler […].«

Editionspsychologen (jawohl: Psychologen!) werden in Grevens Erinnerungen indes mancherlei Anschauungsmaterial finden, warum Philologen, die mit literarischen Nachlässen befasst sind, zu so etwas fähig sind. Die unsexy Melange aus entbehrungsreicher Editionsarbeit und seltsamen Schikanen im Sozialgefüge literarischer Nachlassverwalter und selbstherrlicher Stiftungen scheint solche Abrechnungen manchmal geradezu zu provozieren.

Wirklich ungnädig blieb Greven nur in einem Punkt: der Tatsache, dass Walser zwar Suhrkamp-Klassiker war, aber dort nie mehr als ein Paperback-Autor wurde.

Und wo Peter Richter gerade eine Bresche für die Ironie geschlagen hat: Robert Walsers Poetik, »für Erzernsthafte ein wenig komisch« auszusehen, gehört da unbedingt dazu – Greven hat ihm schon 1960 »totale Ironie« bescheinigt und später erläutert:

»Viele Elemente dieses Sprachtheaters sind uns inzwischen längst geläufig, sie gehören zum Alltagsstil unsrer Feuilletons, zum Konversationston der Gebildeten – anders könnten wir gar nicht mehr miteinander kommunizieren, so kommt es uns vor; die Komplexität unserer Bewusstseinswelten braucht diese doppelten und dreifachen Böden des Ausdrucks, und sie braucht nicht zuletzt auch das Moment an humaner Skepsis, das dabei mitschwingt. Danke also, Herr Walser, für Ihr Entdecken, Ausprobieren, Einüben!«

Schönere Komplimente eines Herausgebers kann es nicht geben. Greven selbst wäre nachzurufen, dass ihm durchaus gelungen ist, was er zeitlebens als seine Mission ansah (sinngemäß): Leute dazu zu bringen, bei Walser nicht mehr nur einen zu denken, sondern vielleicht sogar mit Nachdruck zu sagen: »Robert, und nicht Martin!«

Vgl. auch die Nachrufe von Susan Bernofsky und Manfred Bosch.
 


Ein Interview mit dem Interviewmüller

Konstanz, 21. Februar 2012, 13:04 | von Marcuccio

Moritz von Uslar gegen Jahresende in der »Zeit« (Nr. 50/2011): »Warum habe ich den Interviewer André Müller nie interviewt?«

Vor gut einem Jahr, am 10. April 2011, ist der Interviewmüller gestorben. »Interviewkünstler« haben ihn die Nachrufe genannt. Interviews mit dem Interviewer gibt es kaum, und in Uslars Frage schwingt mit, was für ein kulturhistorisches Versäumnis das ist.

Einige wenige gibt es immerhin doch (Claudia von Arx für NZZ Folio 1997 und, besonders toll, das Videointerview mit amadelio von 2007). Und Volker Weidermann hat ihn zum Gespräch getroffen und dieses dann im Januar 2011 für die FAS beschrieben.

Beim Entstauben der Bücherregale habe ich nun in einem Handbuch für Journalisten noch ein weiteres leibhaftiges Interview mit André Müller entdeckt, geführt von Michael Haller im Februar 1990. [*] Ein Werk­stattgespräch mit hervorragendem Material für Zitatdatenbanken.

Haller fragt Müller sinngemäß: Warum eigentlich Interviews, und nur Interviews?

Das habe, wie so typisch bei den Großen, banalere Gründe als man denkt. Interviews seien einfach das gegen Redigiermaßnahmen am besten gefeite Genre gewesen. Müller:

»Ich hatte mit anderen journalistischen Formen überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich ein Feature schrieb, für den ›stern‹ zum Beispiel, dann wurde mir der Text in der Redaktion umgeschrieben. Mich ärgerte das.«

Für die Spezialisierung auf Interviews sprach aber nicht nur das Redigierungsgebaren, sondern auch die Einkommensfrage. Müller:

»Ich begriff, dass dies eine Form ist, mit der ich rasch auf einen großen Umfang komme. Das wirkt sich im Honorar aus. Einen ähnlich langen Text selbst zu erarbeiten, kostet viel Anstrengung.«

Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel

Auf Hallers Frage, wie das eigentlich mit dem Warm-up in Interviews vonstatten gehe, hat Müller eine aparte Anekdote zu Ernst Jünger parat:

»Sie wissen ja, wenn man jemanden interviewt und der macht zu Beginn des Gesprächs ein paar Witze, dann lacht man als Interviewer einfach mit, ob man diese nun lustig findet oder nicht. Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel. Ganz zu Beginn habe ich ein, zwei Mal mitgelacht. Doch er hat sein Lachen, als meines einsetzte, abrupt beendet. Ich verstand: Er verbittet sich jede Solidarisierung, jede Annäherung. Das war ein sehr schönes Erlebnis für mich.«

Irgendwann geht es dann darum, dass die besten Interviews die sind, bei denen Interviewer und Interviewter in stiller Übereinkunft wissen, dass sie Leser bedienen müssen und sich die Bälle deswegen ruhig ein bisschen zuspielen:

»Thomas Bernhard sagte mal zu mir: ›Es ist wurscht, was Sie schreiben; schreiben Sie, wie Sie es haben wollen.‹«

Daraufhin stellt Haller die (heute muss man sie so nennen) Tom-Kummer-Frage: »Erfinden Sie im Spiel auch Dialoge – oder müssen die sich real ereignet haben?« Müller:

»Ich habe mich mal als Theaterstückeschreiber versucht, es aber dann bleiben lassen: ich kann keine Dialoge erfinden. Ich benötige das tatsächlich stattgefundene Gespräch.«

Haller spricht Müller daraufhin auf das Interview »mit Ihrer eigenen Mutter« an (»Die Zeit« Nr. 40/1989): »Die Frau, ungebildet und offenbar Alkoholikerin, war betrunken, gelegentlich flossen Tränen. Doch die Sprache, die Sie Ihrer Mutter in den Mund legen, ist ungeheuer prägnant, von literarischer Qualität. Der Text hat Tiefe, die ein Interview eigentlich nicht erreicht.«

Woraufhin Müller zugibt, dass das Gespräch in diesem Fall »nur den Stoff für den Text« geliefert habe:

»Ja, ich habe ihn gestaltet wie ein Stück Literatur, mit Spannungsbögen, mit Dehnungen und Verkürzungen. Es sind meine Formulierungen.«

Vom Stoff sprach und spricht ja auch Kummer immer gern, wenn er sinngemäß sagt, er habe nur den Stoff geliefert, den die Medien von ihm wollten. Die feinen Unterschiede zwischen einer Müllermutter-Interviewmontage und der ins Interviewformat gegossenen Hollywood-Fanfiction eines Tom Kummer hätte man von der Journalistik und/oder Literaturwissenschaft aber schon noch mal gerne aufgearbeitet.


[*] Das ganze Interview: »Nein, ich habe kein Schamgefühl«. Ein Gespräch mit dem hauptberuflichen Interviewer André Müller über seine besondere Art, Gespräche zu führen. In: Michael Haller: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. München: Ölschläger 1991. Alle Zitate aus der 2. Auflage, Konstanz: UVK 1997, S. 419–429.
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 67)

sine loco, 14. Januar 2012, 11:20 | von Dique

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Frauenhuber, völlig unbedeutendes Touri-Foto, sry

Wien
Das »Café Frauenhuber« in der Himmelpfortgasse.

(Ich komme gerade aus dem Café Frauenhuber, wo vor ca. einer halben Stunde ein Engländer den vorbeilaufenden Ober fragte, ob es denn hier auch internationale Zeitungen zu lesen gebe. Natürlich, sagte der Ober, haben wir internationale Zeitungen: die »Süddeutsche« und die NZZ! Und er zeigte mit dem Daumen rückwärts in Richtung des Zeitungsstapels.)
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque