Archiv des Themenkreises ›Freitag‹


15 Stunden M.M.M.:
Medienkonsum zwischen Montréal und Moskau

Moskau, 19. August 2017, 15:05 | von Paco

Nun bin ich wieder zu Hause, von Tür zu Tür in 15 Stunden, da war genug Zeit, um zwischen einigen Powernaps verschiedenste Medien zu konsumieren.

Im 747er-Bus vom Hotel Bonaventure zum Aéroport Montréal-Trudeau las ich schnell noch den »Spiegel« Nr. 32 zu Ende, wofür in den beiden Wochen davor keine Zeit gewesen war. Check-in und Sicherheitskontrolle reichten dann genau, um die Sommersnippets von »Fest & Flauschig« zu hören, sind ja nicht so viele und jedes nur ein paar Minuten lang.

Kleiner Jumpcut ins Innere des Lufthansafliegers, wo vor dem Start ein Steward lieblos versucht, die FAZ und SZ vom Freitag zu verteilen, aber in ausgeklapptem Zustand riesenhafte Printprodukte will ja niemand mehr wirklich haben, niemand außer mir. Die FAZ war dann in 30 Minuten ausgelesen, Harald Schmidt war darin von Timo Frasch zum 60. gelobhudelt worden, mit einem Seitenhieb gegen Böhmermann und dessen angeblich nur »drittklassigen« Stand-up-Qualitäten, hehe.

Doch nun richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den vor mir schwebenden Monitor mit den Medienangeboten der Lufthansa, und als erstes sah ich dort die ziemlich gute Krausser-Verfilmung »Einsamkeit und Sex und Mitleid«, Regie: Lars Montag, ein tiefer sexualkundlicher Blick in unsere breite Gegenwart, thematisch gespickt mit den typischen Krausser-Obsessionen. Nach einem Jahrzehnt extremer Krausser-Müdigkeit kam das eigentlich wieder mal ganz gut. Die Kamera hat mich ein wenig an »Finsterworld« erinnert mit ihrem Interesse an urdeutschen Dingen, einfach mal draufhalten auf das blau-plüschige Interieur eines ICE!

Als nächstes holte ich die letzten beiden »Twin Peaks«-Folgen nach, 3×13 und 3×14, und empfand dabei wieder das große, große Glück, dass es diese neue »Twin Peaks«-Staffel gibt: »Coffee for the great Dougie Jones!«

Dann war der »Spiegel« Nr. 33/2017 dran, denn bei der Zwischenlandung in Frankfurt würde schon die neue Ausgabe erhältlich sein, also sollte die alte noch verarztet sein, bevor der Atlantik überquert war. Und … done! Doch wie nun weiter, vielleicht noch ein Film? Ich entschied mich für »Guardians of the Galaxy Vol. 2« und habe es nicht bereut.

In Frankfurt dann der angekündigte »Spiegel«-Kauf, Nr. 34/2017, für €4,90! Ich las als erstes das Interview mit Frauke Petry und Kurbjuweits Hommage an Lobo Antunes und dessen Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann, schön sind da auch die Abschnitte zum periphrastischen Infinitiv. Nun jedoch widmete ich mich endlich voller Lesedrang dem Stück über den Flughafenmoloch BER: »Made in Germany«. Und na ja, »BER«, das ultimative Airportdesaster – will man nach einem halben Jahrzehnt voller lahmer BER-Witze (pars pro toto »Der Postillon«: »Neue Zeitform Futur III eingeführt, um Gespräche über Flughafen BER zu ermöglichen«) wirklich noch was darüber lesen? Aber ja und unbedingt, und zwar wenn es im »Spiegel« steht »und mit 20 Seiten so lang ist wie kaum eine SPIEGEL-Geschichte zuvor«.

Bitte lest alle diesen Artikel, er ist supergut, auch wenn ich eine widersprüchliche Stelle gefunden habe, die mich sicher noch lange beschäftigen wird. Und zwar steht in der Hausmitteilung auf Seite 9, dass die »Spiegel«-Leute »sieben Monate lang für ihre Recherchen benötigten«, und dann habe aber laut Seite 66 »[e]in Team von SPIEGEL-Redakteuren […] acht Monate lang recherchiert«. Was stimmt nun? Sieben oder acht?

Hoch über Weißrussland war der neuste »Spiegel« schließlich ausgelesen, aber ich hatte noch die Season-Premiere-Folge der fünften und letzten Staffel von »Episodes« im Gepäck, und die schaute ich auch noch an, sehr gut, wie immer, Tamsin Greig, Stephen Mangan und Matt »How you doin’?« LeBlanc. In einem offenen Browserfenster wartete auch noch das Interview, das Michele d’Angelo vom »Freitag« mit Ellen Kositza geführt hat, und ich war jedenfalls dermaßen im Leserausch, dass ich auch noch alle anderen geöffneten Browserfenster runterlas, meist Artikel von »heise online« und »Ars Technica«, die da seit Wochen herumlagen.

Aber noch mal zum »Spiegel«. Alle sagen ja immer: Der Spiegel, Der Spiegel. Wer lese den denn noch. Der habe doch an Bedeutung usw. verloren. Aber ich sage euch: Ich lese den noch, und habe seit schätzungsweise 2004 keine einzige Ausgabe verpasst. Ich wäre auch bereit, mich dazu einmal interviewen zu lassen, um über meine Gefühle beim wöchentlichen Lesen dieses herrlichen alten Wurschtblattes zu sprechen, denn es ist schon immer wieder eine hübsche Achterbahnfahrt, Motion Sickness inklusive, aber man muss doch den »Spiegel« lesen, denke ich immer, und ich bin damit auch nicht ganz allein, wenn ihr mal an Diques unfassbare »Spiegel«-Eloge denkt, die seinen gerade erschienenen Feuilletonband »Abenteuer im Kaffeehaus« beschließt: Diese Eloge ist, natürlich unter gänzlich anderen Voraussetzungen, der würdige Nachfolger von Enzensbergers »Die Sprache des Spiegel«, und Zeit wurde es, denn das Enzensberger-Ding ist ja schon 1957 erschienen, aber wie auch immer, ich bin jetzt wieder zu Hause in Moskau und sah grad vor ein paar Minuten noch, wie unten in der Metro Kurskaja, beim Übergang zur blauen Linie, wie dort ein Mitarbeiter in Monteurskluft ein wuchtiges Reliefbild mit dem Stationsnamen putzte, doch nun, Jetlag und so, werde ich eine Runde schlafen, »sieben, acht / gute Nacht«.
 


Jakob Augsteins Baukasten

Berlin, 11. Juni 2015, 13:03 | von Josik

 
(Artikelupdate um 20:36 Uhr, siehe unten.)
 

Für die Workshopteilnehmer und sowieso auch für die Fans veröffentlichen wir heute unser A2-Poster A1-Poster »Jakob Augsteins Baukasten« (PDF, 166 kB; gesetzt mit LaTeX, Quellcode auf Anfrage):

Jakob Augsteins Baukasten (Poster, Vorschau)

Wir setzen damit auch die entsprechende Berichterstattung fort, die bisher so verlief:

Wir mussten für das Poster zuletzt von A3- auf A2-Format A1-Format umschwenken, denn es sind zwei drei neue Texte dazugekommen, die Augsteins Baukastenprinzip noch mal neu illustrieren. Die wie immer wertungsfreie Analyse hat dann auch gleich einige Dinge zutage gefördert. Nehmen wir mal das Wort »Beleidung« (statt »Beleidigung«) im Vorwort zum gerade erschienenen Schirrmacher-Sammelband »Ungeheuerliche Neuigkeiten«. Dieser Tippfehler könnte eventuell anzeigen, dass Augstein nicht einfach copy&paste mit seinen alten Texten macht, sondern die Sachen offenbar tatsächlich alle noch mal neu auf Grundlage vorhandener Fixierungen seiner Gedanken zusammenstellt, und das ist doch schon mal interessant.

Aber gut, hier noch mal die genauen Quellenangaben zu den sechs sieben der Analyse zugrunde liegenden Augstein-Texten:

  • Jakob Augstein: Ein Mann ohne Komplex. In: Die Zeit, 2. 3. 2006, S. 59. [link]
  • Jakob Augstein: Frank Schirrmacher – Der Aufreger. In: Stephan Weichert / Christian Zabel (Hrsg.): Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt. Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 324–330. [link]
  • Jakob Augstein: Mein Hirn gehört mir. In: Welt am Sonntag, 7. 2. 2010, S. 55. [link]
  • Jakob Augstein: Wir töten, was wir lieben. In: der Freitag, 16. 8. 2012, S. 3. [link]
  • Jakob Augstein: »Es gibt keinen anderen wie ihn«. In: Der Spiegel, 16. 6. 2014, S. 114–115. [link]
  • Jakob Augstein: Vorwort. In: Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Herausgegeben von Jakob Augstein. München: Blessing Verlag 2015, S. 9–14. [link]
  • Jakob Augstein: Alpha und Ende. In: Der Spiegel, 6. 6. 2015, S. 17. [link]

Soderla, nach dem Ende unserer Raddatz-Berichterstattung nun also auch endlich das Ende unserer Augstein-Berichterstattung, macht’s gut.

 
<Update when="20:36 Uhr">
Siehe da, wir haben grad beim Zitatecheck noch weitere Legoteilchen gefunden, nämlich in Augsteins Schirrmacher-Artikel aus der »Welt am Sonntag« vom 7. Februar 2010. Es ist für uns etwas peinlich, dass uns das jetzt erst auffällt, denn wir hatten diesen Text damals, anlässlich der Verleihung des 6. Goldenen Maulwurfs, zu einem der Top-Ten-Artikel des Feuilletonjahres 2010 gekürt, und der Artikel ist ja auch nach wie vor sehr gut zu lesen. Jedenfalls, wir mussten in unser Poster nun eine weitere Spalte einziehen und das Format noch mal, von A2 auf A1, vergrößern. Das PDF ist also nun aktualisiert.
</Update>
 


Zur FAS vom 21. September 2014:
Besuch in der Redaktion!

Berlin, 26. September 2014, 19:07 | von Paco

Wir saßen oben in der Kantine vom Deutschlandradio Kultur am Hans-Rosenthal-Platz, es gab einmal Pommes Weltkrieg für alle (Ketchup, Mayo, Senf) und Göttke sagte, dass ihr schlecht werde vom SZ lesen. Also jetzt nicht schlecht wegen der Inhalte oder Schreibe, sondern wegen der kleinen Schrift und dem geringen Durchschuss, das ergebe so Moiré-Effekte beim Draufkucken und davon werde ihr eben schlecht und deshalb lese sie wieder mehr FAZ im Besonderen und die FAS im Speziellen.

Diese Einzelmeinung ließen wir alle nicht unkommentiert und sprachen dann doch auch weiter über die SZ und da jetzt auch über Nico Fried, denn der schreibt doch super Sachen in letzter Zeit und wahrscheinlich auch schon davor, und Montúfar meinte, er wolle bald einen schwärmerischen Aufsatz über Nico Fried verfassen, und darauf müssen wir nun eben warten.

Eigentlich wollte ich aber etwas anderes erzählen. Nämlich ich war am Wochenende auf eine Hochzeit in Weimar eingeladen, Weimar-Blankenese sozusagen, und in der Zubringerregionalbahn hatte nun wiederum ich mal wieder zwei Stunden Zeit, das FAS-Feuilleton als integralen Gesamttext komplett zu textminen. Wobei ich in dieser Bahn aus Platzgründen neben einer stark tätowierten Internetbloggerin sitzen musste, die auf ihrem 18"-Laptop Blogeinträge las, die sie für den Offlinegebrauch gespeichert hatte und nun einzeln in den Firefox reinlud. Die nicht geladenen Grafiken und JavaScripte erzeugten diese typischen Fehlerartefakte, bei deren Anblick man sofort erschrickt, weil man denkt, dass plötzlich das Internet wieder abgeschafft wurde, und ich musste aber auch aus beruflichen Gründen ständig wieder heimlich auf ihren Screen lugen und versuchte dabei, ihre verschiedenen Special Interests zu erraten.

Nach einer Weile schlug ich dann doch lieber vorsichtig die FAS auf. Das ging trotz der Kleinraumbüroatmosphäre ganz gut und dann ging es auch für mich los. Und passenderweise wurden Josik und ich gerade für diese Woche in die Berliner Mittelstraße eingeladen, um bei der FAS Blattkritik zu üben, also umkreiste ich auch Stellen mit einem Stift, den mir die Internetbloggerin dankenswerterweise auslieh. Inzwischen schaute sie auch rüber zu mir und freute sich so über die Bilder in der FAS, dass ich ihr am Ende die Zeitung einfach komplett und inklusive meiner weiträumigen Anstreichungen da ließ. Die maßgeblichen Stellen hatten sich sowieso in mein Hirn gebrannt.

Tigersprung von 99423 Weimar nach 10117 Berlin und in die Mittelstraße 2–4. Am Fahrstuhl, mit dem man dort nach oben und später wieder nach unten fährt, erwartete uns Volker Weidermann. Und das ist das Schöne, dass man gleich zum Beispiel begeistert über die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Rudolf und Marie Luise Borchardt reden kann. Dies ist ein guter Ort, dachte ich sofort, im selben Tonfall dachte ich das, wie Joachim Gauck einmal sagte: »Dies ist ein gutes Deutschland.«

Und so ging es weiter, zumindest am Anfang der Redaktionssitzung. Claudius Seidl äußerte sich angenehm aufgebracht zur angeblich letzten Raddatz-Kolumne in der »Literarischen Welt« und verriet uns dann noch die geheimen Entstehungsbedingungen der »Suada« (vgl. »Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.«), die natürlich wieder in der aufkommenden Buchmessenbeilage erscheinen wird. Dann lachten wir mit Cord Riechelmann über eine Stelle aus der Wochenzeitung »der Freitag«, über die wir bald noch Näheres berichten werden. Und dann wurden wir gebeten, Blattkritik zu üben, und da Claudius Seidl ein Exemplar des aktuellen Feuilletons via Volker Weidermann und Harald Staun zu mir spielte, war ich nun dran, und das klang ungefähr so:

Okay, der Opener, Helene Hegemann über »Romeo & Julia« am Hamburger Thalia Theater mit der boah-ey-Überschrift: »Warum haut mich dieser Abend so um?« Als Nächstes schreibt die Hegemannfrau wahrscheinlich für heftig.co, aber das soll gar nicht kritisch gemeint sein, denn das liest sich trotzdem schön weg, und wenn die Textstelle kommt »Fortsetzung auf Seite 42«, dann liest man sofort am angegebenen Ort weiter!

Auf Feuilletonseite 2 hier dann also Harald Stauns Interview mit diesen vier ost-west-südlichen Schriftstellern: mit Junot Díaz, Pankaj Mishra, Priya Basil und Dinaw Mengestu, von denen Ersterer den längsten Wikipedia-Artikel hat. Es geht in dem Zehn-Augen-Gespräch ja um den Westen, meinen und deinen Westen, um den problematischen Ruf dieser kapitalistischen Himmelsrichtung, na ja, aber super.

Dann nächste Seite Andreas Kilb über Christian Petzolds »Phoenix«, super. Und Volker Weidermann über Botho Strauß‘ neuen Hundertseiter »Herkunft«, in dem es so offen um dessen Vater zu gehen scheint, dass man sich wie ein »Leser-Stalker« vorkomme, super. Und Antonia Baum über Celo & Abdi, ähnlich angelegt wie neulich Olli Schulz‘ Besuch bei Haftbefehl, aber in der poetischen Ausführung viel besser als Schulz.

(Antonia Baum hat auch mal eine Reportage gemacht: »Der Kampf gegen Paco«, deswegen wollte ich mit meinem Lob vorsichtig sein, konnte dann aber nicht mehr an mich halten.)

Weiter, Boris Pofallas Bericht von der Berlin Art Week, genau so muss so was klingen, das konkrete Ungefähre so eines Rundgangs summt an jeder Stelle aus dem Text, super. Und ich hab dann sogar die Anzeigen-Sonderveröffentlichung mitgelesen, wo hier ein Interview drin ist über Selfpublishing, mit Wolfgang Tischer, den ich noch von ganz früher kenne, Neunziger, Mailingliste Netzliteratur. Oh, hab ich da gedacht, aha. Dann hier Julia Enckes Interview mit Ulrich Raulff über die Siebziger, und alles, was Raulff da so gesagt hat, hat sich aufs Schönste mit all dem vermischt, was ich während der letzten 15 oder so Jahre noch so alles von Raulff gelesen und gehört habe.

Dann Cord Riechelmanns Text über die jüngsten Bewegtbilder von Michel Houellebecq, wo ja der schöne Satz drinsteht: »In Frankreich hat man einfach mehr Erfahrungen im Umgang mit den derangierten Körpern von Intellektuellen.«

(Und ich erwähnte noch das Tom-Schilling-Interview von Julia Schaaf, das aber im Ressort »Leben« stattgefunden hat. Jedenfalls lässt dort der bekannte Schauspieler seinem Hass auf Comics jeglicher Art freien Lauf, was auch sofort eine DPA-Meldung nach sich zog, super.)

Und jedenfalls lobten und affirmierten wir, wie es der Grundsatz des Umblätterers immer gewesen ist, und dann waren wir fertig und alle konsterniert. Das war wahrscheinlich keine Blattkritik, sondern eine Blattaffirmation.

Und wo Danilo Scholz neulich in Sachen FAS schrieb: »Der Sommer ist vorbei, das tut dem Feuilleton gut«, da müssen wir natürlich widersprechen, denn wie der Umblätterer ja seit Jahren nachweist, ist das deutschsprachige Feuilleton immer genau gleich gut. Aber das half jetzt hier niemandem weiter, und die Ödön-von-Horváth’sche Stille, die da eintrat, wurde dankenswerterweise irgendwann durchbrochen, als Johanna Adorján souverän das Thema wechselte und Josik fragte, ob er aus dem Kosovo stammt (was ich selbst seit langem vermute).

Und da wir anlässlich der Fernsehprogrammseite nach Stefan Niggemeier gefragt hatten, wurde uns noch angeboten, ihm etwas auszurichten, was wir aber sofort und unmissverständlich ablehnten. »Richten Sie bitte Stefan Niggemeier nichts aus!« Das sollte wie die Sympathiebekundung klingen, als die sie gemeint war, denn wieso sollte man jemanden, den man so gut findet, mit ausgerichteten Nachrichten nerven wollen. Es kam aber möglicherweise sehr falsch rüber.

Also, um das alles mal zusammenzufassen: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zu einer FAS-Redaktionssitzung eingeladen werden.
 


Neues von Jakob Augsteins Schirrmacher-Porträt

Berlin, 7. September 2014, 18:15 | von Josik

Hm, jetzt ist Jakob Augstein bzw. »der Freitag« unserer Bitte immer noch nicht nachgekommen, machen wir also weiter.

Zwar schwirrt Augsteins Schirrmacher-Porträt mittlerweile wieder im Google-Cache herum und so offenbart sich also der ganze Dilettantismus dieser Löschaktion bei freitag.de aufs Neue. Aber wir würden wirklich gern mal erklärt bekommen, wie die Arbeitsabläufe bei einem oh-so-netzaffinen Medium sein müssen, damit so was 1.) passiert und 2.) dann noch in dieser denkbar dilettantischsten Weise weitergeht.

Und es geht weiter.

Solange also Augsteins Schirrmacher-Porträt nicht wieder auf freitag.de zu lesen ist, sehen wir uns genötigt, die Mitglieder der »Freitag«-Community und andere Leute weiterhin mit Jakob Augsteins bewährter Schirrmacher-Porträtierkunst vertraut zu machen – oder doch wenigstens mit jenen Stellen, die ein übereifriger Deletionist nicht so mühelos sperren kann. Hier also schon mal zwei neue Passagen:

*

»Immer mal wieder drängt sich Schirrmacher der öffentlichen Debatte auf, treibt sie in seine Richtung. Das war so, als er im Jahr 2000 auf sechs Seiten den Quellcode der DNS in seinem Feuilleton abdruckte, als unlesbaren Text des Lebens, vollkommen sinnlos und unendlich bedeutungsvoll. Ein dramatischer und anarchischer Akt […].«

(Jakob Augstein: Frank Schirrmacher – Der Aufreger.
In: Stephan Weichert / Christian Zabel (Hg.):
Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im
Porträt. Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 325)

»Als er auf sechs Seiten seines Feuilletons einen Teil der DNA-Sequenz abdruckte, da war das damals zugleich vollkommen sinnlos und unendlich bedeutungsvoll. Ein dramatischer und anarchischer Akt.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Das vorige Buch hatte das Altern der Gesellschaft behandelt und war das zweiterfolgreichste Sachbuch des Jahres 2004 […]. Im Erscheinungsjahr 2004 des Methusalem-Buches war er allen Ernstes fünfmal der ›Gewinner des Tages‹ der Bild-Zeitung […]. In der Bild-zeitungstauglich gemachten Kurzfassung seines Methusalem-Buches hatte er geschrieben: ›Wie oft berichten Menschen von der Plötzlichkeit, mit der das Alter sie wach rüttelt. Ungläubig schlägt man die Augen auf – und plötzlich ist man alt!‹ Das ist keine zufällige Formulierung […]. ›Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt‹ – der Kafka-Bewunderer Schirrmacher hat in seinen Texten mehr als einmal diesen berühmten ersten Satz aus der Verwandlung zitiert. Am Grund liegt da das problematisch gewordene Selbstbewusstsein.«

(Jakob Augstein: Frank Schirrmacher – Der Aufreger.
In: Stephan Weichert / Christian Zabel (Hg.):
Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im
Porträt. Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 325–329)

»›Das Methusalem-Komplott‹, sein erster Bestseller, war im Jahr 2004 der zweitbestverkaufte Sachbuchtitel […]. Im Erscheinungsjahr des ›Methusalem-Komplotts‹ war er fünfmal der ›Gewinner des Tages‹ der Bild-Zeitung […]. Im Jahr 2004 schrieb er in der Bild-Zeitungs-tauglich gemachten Kurzfassung seines ›Methusalem‹-Buches: ›Wie oft berichten Menschen von der Plötzlichkeit, mit der das Alter sie wachrüttelt. Ungläubig schlägt man die Augen auf – und plötzlich ist man alt!‹ Das ist für Schirrmacher, der über den Schriftsteller Franz Kafka promoviert hatte, keine zufällige Formulierung. Kafkas ›Verwandlung‹ beginnt mit den Worten: ›Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.‹ Hier ist es wieder, Schirrmachers Thema […], das problematisch gewordene Selbstbewusstsein […].«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 114f.)


 


Auf einmal

St. Petersburg, 25. Juni 2014, 22:04 | von Paco

Ach, Mann. Also okay. Der interessante Jakob-Augstein-Artikel »Wir töten, was wir lieben« war knapp zwei Jahre lang online. Doch auf einmal, in den Morgenstunden des vergangenen Freitags, hat ihn jemand von der Website freitag.de genommen (im Google-Cache wurde er mittlerweile auch überschrieben). Am selben Tag kurz davor hatten wir hier im Umblätterer die besten Stellen daraus zitiert, die zufällig mit denen des offiziellen Nachrufs des Print-»Spiegels« von letzter Woche mehr oder weniger übereinstimmten.

Irgendwo anders im Netz wurde Augstein daraufhin ein Eigenplagiat vorgeworfen. Davon distanzieren wir uns sehr, erstens, weil wir den Begriff des Eigenplagiats letztlich für unsinnig halten, und zweitens, weil in diesem Fall allein der Print-»Spiegel« und niemand anderes entscheiden muss, ob er so was haben will. Ansonsten ist diese Diskussion eigentlich vollkommen uninteressant. Eigentlich. Denn was hinwiederum dann doch sehr interessant ist: Die sofortige Sperrung des Artikels auf freitag.de, die sieht nun wirklich nach dilettantischem Spurenverwischen aus.

Dabei war es übrigens so, dass direkt nach Schirrmachers immer noch unfassbarem Tod auf der freitag.de-Startseite gestanden hat: »Frank Schirrmacher ist gestern im Alter von 54 Jahren gestorben«, um dann mit der Aufforderung fortzufahren: »Aus diesem Anlass lesen Sie noch einmal das Porträt, das Jakob Augstein im Jahr 2012 über den FAZ-Herausgeber schrieb« (vgl. Facebook – bitte wenigstens diesen Teaser im Netz lassen, danke!). Eben jenes Porträt, das dann kurze Zeit später von der Website verschwand. Noch mal durchgelesen hatte sich dieses Porträt beim »Freitag« aber anscheinend auch keiner mehr, stand dort doch wahrhaftig der Satz drin: »Thomas Steinfeld wird von nun an immer der Schirrmacher-Mörder sein.« Autsch.

Trotzdem ist Augsteins Text nach wie vor interessant zu lesen, und nun fragen wir so wie einst Robinson Crusoe seinen Inselkumpanen: »FREITAG, where is your Netzkompetenz?« Um dann fortzufahren: »Wir wollen unseren Text zurück!« Diese Adresse soll nie wieder ins Leere zeigen! Zur Erinnerung für die Verantwortlichen, es handelt sich um diesen Text:

Teaser Freitag

So. Normalerweise interessieren uns Follow-up-Diskussionen nicht, weil der Umblätterer ein Retail Store ist, der Texte unter Ausschluss sämtlicher Garantien an Endverbraucher vermittelt. Aber nachdem hier jetzt Dutzende Leute immer wieder verbissen nachfragen, wo der Augstein-Text hin ist, kommt diesmal ausnahmsweise doch was nach, und außerdem wollen wir ja ebenfalls den Text zurück.

Und ab jetzt gilt wieder: Ceci n’est pas un Medienblog.
 


Vor- und Nachruf auf Frank Schirrmacher

Berlin, 20. Juni 2014, 07:00 | von Josik

»Der Großteil der Journalisten des deutschen Gegenwarts­feuilletons hat Schirrmachers Weg gekreuzt, zum Besseren oder zum Schlechteren. Schaudernd erzählen sich noch heute die, die dabei waren, von der großen Feuilletonisten-Wanderung, die im Jahr 2001 zwischen SZ und FAZ stattfand«.

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Man muss sich klarmachen, dass trotz seines jungen Alters der Großteil der Journalisten des deutschen Gegenwarts­feuilletons Schirrmachers Weg gekreuzt hat, und diese Begegnungen hatten oft Folgen, zum Besseren oder zum Schlechteren. Legendär ist ja die große Feuilletonisten-Wanderung, die im Jahr 2001 zwischen den Kulturressorts der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen stattfand.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Über Schirrmachers Schlüssel-Ego Christian Meier heißt es in dem Buch: ›Er führte seine Zeitung wie ein Bankier einen Hedgefonds, als spekulatives Geschäft. Dauernd passierte etwas, das zu keinem vorhersehbaren Verlauf, zu keinem Skript passte.‹ Das ist eine schöne und böse Beschreibung. Der Wille zur Denunziation ist unübersehbar. Aber, warum nicht – Schirrmacher als Themen-Kapitalist, einer, der auf die Akkumulation von Fantasie setzt, ein Spekulant der Ideen und Entwürfe, der in seiner Anlagestrategie auch mal über die Leichen der braven Kultur-Leute in den Redaktionen geht, die sich ihre Ideen mühsam vom Munde absparen müssen, dessen Rendite aber das beste Feuilleton des Landes ist.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Über Schirrmachers Buch-Ego Christian Meier heißt es in dem Roman: ›Er führte seine Zeitung wie ein Bankier einen Hedgefonds, als spekulatives Geschäft.‹ Das war eine schöne und böse Beschreibung: Schirrmacher, der Themen-Kapitalist, der auf die Akkumulation von Fantasie setzt, ein Spekulant der Ideen, der in seiner Anlagestrategie auch über die Leichen der braven Kultur-Leute geht, die sich ihre Ideen mühsam vom Munde absparen müssen, dessen Rendite aber das beste Feuilleton des Landes ist.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts hat er sich selber und uns allen ein Programm für die kommenden Jahre geschrieben: ›Fast wöchentlich werden wir von technologischen und wissenschaftlichen Innovationen überrascht wie kaum eine Generation zuvor, und Europa schweigt. … Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen. … Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten an dem Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.‹«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Im Jahr 2000 legte Schirrmacher sich und uns allen das Programm für die kommenden Jahre fest: ›Fast wöchentlich werden wir von technologischen und wissenschaftlichen Innovationen überrascht wie kaum eine Generation zuvor, und Europa schweigt. (…) Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen. (…) Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten an dem Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.‹«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Schirrmacher schreibt: ›Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.‹ Und dann schreibt Sahra Wagenknecht ihre vielleicht besten, sicher aber einflussreichsten Texte über Europa und die Finanzen in der FAZ – nicht im Neuen Deutschland und nicht auf der Netzseite der Linkspartei (und auch nicht im Freitag).«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Nach der großen Finanzkrise, die eine Vertrauenskrise des Kapitalismus war, stellte er fest: ›Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.‹ Und dann druckte er die vielleicht besten Texte der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht über Europa und die Finanzen in der FAZ ab.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Ein ›großartiges intellektuelles Spielzeug‹ hat Schirrmacher das Feuilleton einmal genannt. Wie sehr müssen ihn all jene dafür hassen, die das Spielen vor langer Zeit verlernt haben.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Schirrmacher nannte das Feuilleton einmal ein ›großartiges intellektuelles Spielzeug‹. Und wie sehr hassten ihn all jene dafür, die das Spielen vor langer Zeit verlernt haben!«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Der Mächtige, der es jung an die Spitze geschafft hat und für dessen Aufstieg das Nietzsche-Wort galt: ›Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige, – das verzeiht mir keine Stufe.‹«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Für den Mächtigen, der es jung an die Spitze geschafft hatte, galt das Nietzsche-Wort: ›Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige – das verzeiht mir keine Stufe.‹«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Wer sich hierzulande gleichzeitig mit Philosophie, Technologie, Soziologie, Epistomologie und Heuristik befasst, arbeitet vermutlich eher in der Redaktion der Sendung mit der Maus als am Elitezentrum einer deutschen Universität oder in der Redaktion eines Feuilletons.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Wer sich gleichzeitig mit Philosophie, Technologie, Soziologie und Heuristik befasst, arbeitet eher in der Redaktion der ›Sendung mit der Maus‹ als in der Redaktion einer großen Zeitung.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 114)

 


Helmut Lottmann

Göttingen, 10. Dezember 2012, 13:52 | von Josik

Als ich neulich bei Lanz zu Gast war, genauer gesagt bei Cron & Lanz in der Weender Straße, und voller Begeisterung im »Freitag« herumlas und dann plötzlich auf diese wunderbare Rezension von Helmut Lethens Buch »Suche nach dem Handorakel« stieß, marschierte ich nach beendigter Rezensionslektüre sofort nach quasi nebenan in die berühmte altehrwürdige Buchhandlung Deuerlich, die allerdings ein paar Tage zuvor in eine Hugendubel-Filiale umgewandelt worden war, und fragte nach dem Lethen-Buch, das dort aber nicht vorrätig war, weswegen ich also wieder hinauseilte und spontan beschloss, vor Ort nach dem Lethen’schen Handorakel zu fragen, ein paar Straßen weiter, direkt in dem Verlag, in welchem es erschienen ist, so dass ich also Richtung Geiststraße lief, dort bei Wallstein einfach mal klingelte, prompt summte der Türsummer, niemand stellte irgendwelche Fragen durch die Gegensprechanlage, ich hurtete also die Treppe hinauf, vorbei an einem riesigen Schild, auf dem, wenn ich das richtig gesehen habe, lauter outgesourcte Göttinger Augenärzte verzeichnet sind, und fragte dann freundlichst nach dem Lethen’schen Handorakel, ich sei durch die wunderherrliche Rezension im »Freitag« auf dieses Buch aufmerksam geworden, hätte es aber bei Deuerlich bzw. Hugendubel nicht auftreiben können und würde es sehr gerne kaufen, und keine halbe Stunde später war ich schon wieder zuhause und las drauflos und schrieb mir einen Satz nach dem anderen heraus, weil ich es gar nicht fassen konnte, wie man in einem so schmalen Band so wunder­sam leichtfüßig die jahrzehntelange Geschichte von Leuten, die mal links waren, Revue passieren lassen kann, Lethen schreibt ja gleich eingangs, dass er dieses Buch in nur zwei Wochen verfasst habe, irgendwo an der Ostsee, er bibliografiert im Vorwort seine kompletten zwei Bücherkoffer, die er an die Ostsee mitgenommen habe, doch wie stockte mir der Atem als ich in dieser Bücherliste zwischen den größten Namen der Theorie-, Kultur- und Geistesgeschichte, zwischen Theodor W. Adorno und Jakob von Uexküll, zwischen Walter Benjamin, Hans Blumenberg, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Gerd Koenen, Reinhart Koselleck, Siegfried Kracauer und Helmuth Plessner plötzlich auch auf diese Angabe stieß:

»Joachim Lottmann, Hundert Tage Alkohol, Wien 2012.« (S. 9)

Es ist dies die wohl unerwartetste Joachim-Lottmann-Erwähnung in der Geschichte der Menschheit!

Sie erscheint mir inzwischen aber eigentlich ganz konsequent, denn Sätze wie die folgenden könnten ja auch von Lottmann sein, tatsäch­lich aber stammen sie samt und sonders aus dem Lethen’schen Handorakel:

»[A]ls ich ihn im Oktober 1989, auf der Bettkante des Hotels Sussex in San Francisco sitzend, nachdem ich in der Sendung Good Morning America vom Fall der Mauer erfahren hatte, anrief, um ihm zur prognostischen Kraft seiner stereotypen Nervsätze zu gratulieren, keuchte er, atemlos wie alle, ›Wahnsinn‹«. (S. 32)

Und so geht es immer weiter im Lottmann-Sound, oder wie man in Zukunft wohl sagen muss, im Lethen-Sound:

»Mutter kam atemlos ins Hotel: Die Haut der schwarzen GIs färbe gar nicht auf deren Unterwäsche ab!« (S. 102)

»300 Zuhörer hielten den Atem an; das war virtuos. Stille im Saal – 1961!« (S. 54)

»[D]er Mensch ist von Natur aus künstlich! Großes Aufatmen.« (S. 117)

Eine Lethen-Szene, die eigentlich ebenfalls eine Lottmann-Szene ist:

»Die Darstellung des Sechstagekriegs in der BILD-Zeitung erzeugte eine Wende zu einer antiisraelischen Haltung, die uns – atemlos und ungläubig vor dem Kiosk die Schlagzeilen beratend – überrascht hat.« (S. 17)

Noch faszinierender:

»Wir gewöhnten uns an den Jansenismus beim Espresso« (S. 126).

Oder:

»Die Geographiestudenten trugen ausnahmslos Knickerbockerhosen.« (S. 53)

Doch dass in diesem Traktat nicht nur funky Knickerbockerhosen geschildert werden, ersieht man aus der folgenden, natürlich ebenfalls lottmannartigen Personenbeschreibung:

»Karl Pestalozzi, der berühmte, baumlange, kluge und milde Mann, aber immer in Hochwasserhosen« (S. 99).

Am allerallerbesten, hammermäßigsten und wohl auch zeitgemäßesten und aktuellsten ist aber natürlich diese unübertrefflich grandiose Darstellung:

»Nun herrschte atemlose Stille. Der Beamte des Verfassungsschutzes kannte die komplexe Systemtheorie von Niklas Luhmann.« (S. 19)

 


Mit Siegfried Kracauer zu Rudolf Steiner

Konstanz, 9. April 2012, 23:36 | von Marcuccio

Nein, Kracauerfeuilleton muss nicht immer in Berlin spielen, obwohl das Stück »Friedrichsstraße 90« neulich im »Freitag« schon sehr hübsch war – und Straßenfeuilleton zurzeit ganz generell groß in Mode ist: vgl. die Torstraße in der FAS, den Durchschnitt im aktuellen »KulturSPIEGEL« …

Unser Osterspaziergang führte ins Vitra Design Museum nach Weil am Rhein. Die aktuelle Ausstellung »Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags« läuft noch bis Anfang Mai, tourt bereits seit 2010 durch die Lande – ist also in den aktuellen Feuilletons längst durch. Ein Grund mehr, der Arroganz der Gegenwart mit einer gut abgehangenen »Frankfurter Zeitung« beizukommen:

»Die Kosmogonie Steiners hier im einzelnen zu entfalten, erübrigt sich – umso eher, als trotz seiner genauen Bescheibung des Stufenpfades niemand außer ihm selber bisher in die übersinnlichen Bereiche eingedrungen ist. Immerhin mag erwähnt sein, daß er kraft seines Hellsehens von einem vor zwölftausend Jahren untergegangenem Kulturvolk zu berichten wußte, das in Luftfahrzeugen dicht über die Erde gefahren sei, und die Existenz zweier Jesusknaben behauptete, über die er mancherlei Mitteilung machte.«

Das schreibt Siegfried Kracauer in der FZ vom 18. April 1925. Soviel Spott in einem frischen Nachruf muss man sich erst mal trauen, wobei frisch heißt, dass Steiner am 30. März 1925 starb und Kracauers Nachruf erst knapp drei Wochen später erschien. Dabei war die FZ aber schon eine Tageszeitung, nennen wir es also ein retardierendes Moment in den Roaring Twenties.

In der Ausstellung

Der Stuttgarter Stuhl erinnert – nur rein namenstechnisch – irgendwie an den Ulmer Hocker. Der wiederum bringt uns über einen pindarischen Sprung zur Hollywoodschaukel und auf die Idee, dass es eigentlich mal höchste Zeit für eine rein onomastisch motivierte Sitzmöbelschau wäre. Ikea macht es im Grunde ja vor.

Biomorphe Formen in der ganzen Ausstellung. Ein bierbäuchiger Familienvater erklärt seinen asketischen Töchtern anthrosophisch. Sel isch halt, wenn d’Architekte koan rechte Winkel mäh machet. Oder so ähnlich. Und wir lernen Neues aus der Anstalt: Das frühere WDR-Signet von Paul Schatz war hochgradig eurythmisch: 19 Uhr 15: ein Senderlogo bei seiner eigenen Bewegungstherapie, sensationell.

An der Bushaltestelle

Wir überlegen kurz, zum großen Goethe-Osterei weiterzufahren (bei Kracauer 1925 nur der »verbrannte Tempel zu Dornach, dessen Wiedererrichtung jetzt droht«), halten uns dann aber lieber extralange an der Vitra-Design-Bushaltestelle (Jasper Morrison, 2006) auf. Die hat nämlich einen Teppich aus Teer, so weich wie Moos, noch nie haben wir einen so angenehmen Straßenbelag erlebt. Ist das jetzt das Osternest für unsere Füße? Eine Fußreflexzonenmassage, weil der Bus Verspätung hat? Auf jeden Fall ein astreines Stück Tiefbau, hebt die Schwerkraft jeder Warteminute auf.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2011

Leipzig, 9. Januar 2012, 00:20 | von Paco

Maulwurf popping up!Nur schnell die übliche kurze Ankündigung: Der Maulwurf steht wieder vor der Tür. In ca. 24 Stun­den kürt Der Umblätterer zum siebten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2011). Und um gleich mal den BVB-Torwart Roman Weidenfeller zu zitieren: Die deutschsprachigen Feuilletonisten »have a grandios Saison gespielt«, auch 2011 wieder, und zwar alle.

Schon bis zum Frühjahr war ja mehr passiert als in so manchem Jahrzehnt der vorhergehenden Jahrhunderthälfte zusammen­genommen. Und es gab dementsprechende feuilletonistische Fort­setzungsgeschichten. Die meisten Ereignisse wurden auch von den anderen Ressorts abgedeckt, aber richtig in seinem Element war das Feuilleton bei den Telenovelas um Guttenbergs Doktorarbeit und die sympathische Beltracchi-Fälscherbande mit ihrer zusammengefakten »Sammlung Jägers«.

Eine weitere feuilletonistische Großtat war die Idee der FAZ, Hans Ulrich Gumbrecht ein eigenes Blog zu geben, »Digital/Pausen«, und es ist eigentlich ein eigenes Subfeuilleton, ein intellektueller Playground mit einer markanten Themenwahl und einmaligem analytischem Durchstich. Zwischendurch gab es am 9. Oktober noch die »Jahrhun­dert-FAS« mit superster Staatstrojaner-Coverage – die Ausgabe war sofort vergriffen, die entsprechenden Seiten 41–47 gab es dann aber schnell als PDF zum Download (zu diesem Feuilletonevent gehört unbedingt auch der »Alternativlos«-Podcast Nr. 20 vom 23. Oktober).

In der SZ, der NZZ, der TAZ, der WELT, dem SPIEGEL, der ZEIT und im FREITAG standen natürlich auch wieder die unfassbarsten Sachen drin. Die Idee des Goldenen Maulwurfs ist ja, die noch nie falsifizierte Großartigkeit eines Feuilletonjahres in den zehn angeblich™ besten Artikeln zusammenzufassen. Das ist bei einer Longlist von diesmal 51 Artikelvorschlägen eigentlich zu knapp, aber wir werden es wieder hinkriegen. Dazu dann morgen mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005   (#1 Stephan Maus/SZ)
2006   (#1 Mariusz Szczygieł/DIE PRESSE)
2007   (#1 Renate Meinhof/SZ)
2008   (#1 Iris Radisch/DIE ZEIT)
2009   (#1 Maxim Biller/FAS)
2010   (#1 Christopher Schmidt/SZ)
2011   (#1 ???/???)

Am Dienstag im Morgengrauen dann also die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2011. Hier.

Bis gleich,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 
(Bild: Wikimedia Commons)