Best of Feuilleton 2011

Der Goldene Maulwurf

Der Goldene Maulwurf 2011
Die 10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres
*7. Jahrgang*

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(Vorwort und Kommentare hier.)

Inhalt: Tor in Fukushima, Die Linke, Schriftbild, Opernpublikum, Zettel’s Traum, Martin Walser, Cranach-Bäuche, Kurt Scheel, Frankfurter Rund­schau, Guttenberg

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1. Marcus Jauer

Dioxin! (Webtitel: Tor in Fukushima!) In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 4. 2011. S. 40.

Die genialste Überschrift des Jahres! Wobei sie in der gedruckten Zeitung noch ganz anders lautete. Erst im Netz hieß es dann »Tor in Fukushima!« und hallte damit durch das gesamte weitere Feuilleton­jahr bis auf den heutigen Tag. Aber auch der zugehörige Text ist eine absolute Glanzleistung. Nach der parodistischen Vorarbeit in der FAZ vom 5. März 2011 (S. 42), in der Marcus Jauer zusammen mit Markus Wolff unter der Überschrift »Als war man dabei« einige »große Momente der Weltgeschichte: jetzt im Live-Ticker« nacherzählte (Christi Geburt, Entdeckung Amerikas, Reformation usw.), wird er jetzt grundsätzlich. Es geht um die Frage, warum wir uns momentan alle durch die ständigen Tickermeldungen immer neu in Alarmstellung versetzen lassen. Dazu setzt Jauer ein trianguläres Narrativ in Gang: 1. Er befördert den ehemaligen Stasi-Oberstleutnant Wolfgang Röhlig (verantwortlich für die Auswertung westlicher Massenmedien) fiktiverweise in die Jetztzeit. 2. Er gibt eine Chronologie der Ereignisse der letzten vier Wochen (Dioxin, Atom, Libyen, Guttenberg, Wester­welle). 3. Er vergleicht die ständigen Live-Meldungen mit den samstäglichen Bundesligakonferenzen im Radio. Insgesamt also ein überraschend aufwendiger Textaufbau. Ganz kurz noch Jauers Fazit: Anders als in der Stasizentrale zeitigen heutige Nachrichtenalarme keine Konsequenzen mehr, weil sofortiges Handeln »inzwischen ohnehin nur die wenigsten Dinge löst«. Statt Anschlusskommunikation ergehen wir uns, wahrscheinlich anthropologisch bedingt, in einer »Lust am Alarm«, denn es kommt dann ja auch tatsächlich immer gleich eine neue grelle Meldung, und wir hier machen da keine Ausnahme, denn schon kommt jetzt Platz 2 unserer diesjährigen Feuilleton-Top-Ten:

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2. Frank Schirrmacher

»Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14. 8. 2011. S. 17.

Der aufsehenerregendste Artikel des Jahres! Schon durch die Setzung: Frank Schirrmacher, Sonntags-FAZ, Aufmacher des Feuilletons, und dann diese Überschrift. Zwar ist sie nur in Anführungszeichen gesetzt und damit als Zitat des erzkonservativen britischen Journalisten Charles Moore erkennbar. Der Überraschungseffekt, den dessen Artikel drei Wochen vor Schirrmacher im »Daily Telegraph« gehabt hatte, wiederholt sich aber nun in der FAS. Denn Schirrmacher macht sich das Überschriftenzitat schon zu eigen: »Ehrlich gestanden: Wer könnte ihm widersprechen?« Wegen der »Mann beißt Hund«-Rhetorik der Über­schrift hatte der Text natürlich Sensationscharakter und wurde schnell populär. (Michael Angele im »Freitag«: »In die an sich unbedeutende Historie des Feuilletons könnte der 14. August 2011 als wichtige Zäsur eingehen.«) Allerdings weckte er auch falsche Erwartungen: Ebenso wenig wie Moore der Labour-Partei das Wort geredet hat, hat sich Schirrmacher für eine rot-rote Koalition im Bund ausgesprochen oder Ähnliches. Ihm geht es um das Bürgertum und den Missbrauch bürgerlicher Werte und Schlagworte durch den Neoliberalismus und die Finanzmarktökonomie. Er versucht zu verstehen, wie lebenslange Gewissheiten plötzlich zweifelhaft werden, und bändigt sein Erstaunen gekonnt à la Wittgenstein (»Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden.«). Schirrmachers Text ist auch kritisiert worden (»edel gestylter Kulturpessimismus«), aber gegen den von ihm ausgerufenen bürgerlichen »Selbstverständigungspro­zess« ist ja eigentlich nicht viel einzuwenden. Schon weil die Regierung nicht in der Lage ist, etwas derartiges in Gang zu setzen, ganz zu schweigen vom Staatsoberhaupt: »Ein Bundespräsident aus dem bürgerlichen Lager, von dem man sich ständig fragt, warum er unbedingt Bundespräsident werden wollte, schweigt zur größten Krise Europas, als glaube er selbst schon nicht mehr an die Rede, die er dann halten muss.«

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3. Roland Reuß

Die Mitarbeit des Schriftbildes am Sinn. In: Neue Zürcher Zeitung, 3. 2. 2011. S. 17.

Herrlich, ein Luxusproblem wird verhandelt! Der Kleist- und Kafka-Herausgeber Roland Reuß ist in diesem Jahr auch wieder durch seine DFG-Kritik in der FAZ hervorgetreten, aber der bessere Feuilletontext war eindeutig seine Satzspiegel-Apotheose in der NZZ. Das sei zwar »kein Snobismus«, wenn er sich über »Blocksatz ohne Silbentrennung« und Minutenzeichen anstelle von Apostrophen echauffiert, aber irgendwie ist es das auf die schönste Weise natürlich doch. Reuß bespielt mit seinem Text ein kulturkonservatives Genre: die Gegen­propaganda zu all den Abgesängen auf das ordentlich gesetzte Buch. Dabei borgt er sich von Valéry den Begriff von der »vollkommenen Lesemaschine« Buch und stellt gegen den Trend der um sich greifen­den Digitalisierungen noch mal fest, dass das Buch immer noch das beste Medium zum Verstehen und Lernen von Inhalten sei. Dagegen müsse das Gehirn beim Ablesen von Bildschirmen wegen der im Vergleich zum Buch niedrigeren Auflösung ständig »einen technischen Mangel kompensieren«, was zu unerbittlichem Aufmerksamkeitsverlust führe. Es gibt allerdings für die »Häufigkeit von unbemerkten Tippfehlern in digitaler Kommunikation oder auf Webseiten« sicher gewichtigere andere Gründe. Genauso gut könnte man gegen das Buch wettern, weil man dort die Seiten regelmäßig mitten im Wort oder Satz umblättern muss, was ja den Zusammenhang zerreißt und ebenfalls zusätzliche Aufmerksamkeit kostet. (Dann lieber scrollen, hehe.) Ansonsten war der Text von Reuß, der plötzlich einfach so in der NZZ stand, wirklich ein unerwartetes Ereignis. Und auch wenn der Editionsphilologe keine Einwände im Sinne der Pragmatik zulässt, ist ihm natürlich in allen Punkten Recht zu geben, denn er hat dann einfach doch die Ästhetik auf seiner Seite.

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4. Judith Liere

Vernarrt in die Inszenierung. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. 6. 2011. Bayern-Ausgabe, S. 38.

Beschreibungen von Museums-, Theater- oder hier eben Opern­publikum: Stundenlang könnten wir so was lesen. Dieses Genre der Kultursoziologie ist auch eigentlich ein Selbstläufer, aber Judith Liere hat anlässlich der Münchner Opernfestspiele ein paar besonders schöne Anekdoten aufgeschrieben. Und es wird wieder deutlich, wie sehr sich die Distinguierungsversuche einzelner Besuchergruppen oft gleichzeitig in so sympathischen wie gruseligen Wesenszügen offenbaren. Liere hat außerhalb und innerhalb des Nationaltheaters, der Spielstätte der Bayerischen Staatsoper, neben Kommentaren auch ein paar Codes gesammelt. Dazu gehört zum Beispiel »das still­schweigende Abkommen, dass man seine Ankunftszeit gefälligst nach seiner Sitzposition auszurichten habe, damit nicht Gäste, die weiter außen sitzen, dauernd aufstehen müssen«. Am besten sind aber wie immer die Zitate. Da wundert sich dann jemand darüber, dass der »Rosenkavalier« knapp fünf Stunden dauert (»das wusste ich gar nicht«). Jemand anderes zeigt sich in »Aida« beim ersten Auftritt erstaunt: »Der singt ja Italienisch!« Angstvoll hofft eine Frau: »Na, nicht schon wieder Nackerte«. In der Pause erklingt irgendwo der Satz: »So eine wunderbare Inszenierung, so konventionell!« Ein Mann kauft Netrebko-Postkarten. Und beim Schlussapplaus dekliniert ein Herr im 1. Rang ordentlich durch: »Bravo, Brava, Bravi, je nachdem, ob sich gerade Solist, Solistin oder Ensemble verbeugen«. Wie gesagt, stundenlang könnten wir so was lesen.

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5. Ulrich Stock

Zettel’s Traums Leser. In: Die Zeit 6, 3. 2. 2011. S. 47.

Im Oktober 2010 ist nach zehn Jahren Editionsarbeit eine gesetzte Ausgabe des ebenso dreispaltigen wie eineinhalbtausendseitigen Großromans »Zettel’s Traum« erschienen. Und jetzt die Frage: »Wer kauft sich den 298 Euro teuren schier unlesbaren Riesenroman des Exzentrikers und Sprachartisten Arno Schmidt?« Auf der Suche nach einer Antwort hat sich Ulrich Stock eine schöne Überschrift mit herrlicher Genitivinflation ausgedacht und passend dazu vier Ham­burger Hausbesuche durchgeführt, und zwar bei: einem Physik­professor, einem Arno-Schmidt-Liebespaar, einem Schullehrer und Lesegruppenteilnehmer sowie einem Vorstand der HSH Nordbank. Diese Taktik ist auch aus der Not geboren, denn Stock selbst hat das Buch gar nicht gekauft (»Aber der Wunsch war da!«). Dabei ist es eine generell gute Idee, mal nicht ein Buch zu rezensieren, sondern dessen Leser. Neben ein paar wenigen Schmidt-Zitaten gibt es also vor allem Anekdoten. Die Stichprobe bei der Fangemeinde, angesiedelt zwischen »Schmidtianern und Schmidtioten«, bringt Street-Cred-Sätze wie diesen zutage: »Zettel’s Traum habe er (der Physikprofessor) zweimal gelesen, ›zuletzt vor fünf Jahren‹.« Und beim Buchkauf in Eimsbüttel habe es keine passenden Tüten für den Buchklotz gegeben, da habe es der Lesekreisteilnehmer auf den Schultern nach Hause getragen »wie einen Ghettoblaster«.

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6. Tilman Krause

Na, wenn schon. In: Die Welt, 9. 7. 2011. Die literarische Welt, S. 1.

Schon wieder ein neuer Romanschinken von Martin Walser (diesmal heißt er »Muttersohn«). Und da ihn eine normale Rezension in diesem Fall wahrscheinlich zu Tode gelangweilt hätte, nimmt Tilman Krause das Buch lediglich zum Anlass, um lieber einen großartigen Grund­satztext über das oft irrationale Missverhältnis zwischen literarischem Ruhm und literarischer Qualität zu schreiben. Sein Paradebeispiel ist neben Victor Hugo lustigerweise noch ein anderer Autor: »Ernst Jünger war ein schreiberisch mäßig begabter Autodidakt (…). Peter de Mendelssohn, Peter Wapnewski und viele andere sind (…) nicht müde geworden, den ›Herrenreiter-Tiefsinn‹ des erklärten ›Waldgängers‹ auf Plattitüden und schiefe Metaphern zurückzuführen, die eigentlich, wie Martin Gregor-Dellin einmal bemerkte, nur in französischer Überset­zung einigen rhetorischen Glanz gewinnen.« Geschadet habe das Jünger und seinem Status als »Übervater der deutschen Literatur« aber eben nicht. Und bei Walser sei es ähnlich. Schon in der Gruppe 47 stand er »im Grunde nie im Fokus. Er schwamm so mit«. Walser arbeite inzwischen eigentlich nur noch als Instanz (schöne Berufsbezeich­nung), er ist kein Schriftsteller, »der die künstlerischen Debatten befeuernde Werke schreibt«. Der Clou auch hier: Es macht nichts. Krause stellt ein paar Regeln für den Ruhm auf, die wichtigste: durchhalten und »unablässig Buch um Buch von sich geben und das Jahrzehnte lang«. Und so wird Walser im Wechsel mit Günter Grass (je nachdem, wer gerade sein neuestes Werk draußen hat) als National­dichter wahrgenommen. »Im Grunde kann er jetzt schreiben, was er will. Und tut’s ja auch.«

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7. Samuel Herzog

In der Bauchwerkstatt. In: Neue Zürcher Zeitung, 16. 4. 2011.

Eigentlich wird eine Cranach-Ausstellung im Pariser Musée du Luxem­bourg besprochen. Aber noch eigentlicher geht es um ein Detail der Malkunst von Cranach (dem Älteren): »Keiner hat Bäuche gemalt wie er.« Samuel Herzog ist ein Meister der aparten Abschweifung, und genau deshalb muss man seine Berichte über Kunstausstellungen immer lesen, auch wenn einen die ausgestellten Künstler und Werke gar nicht interessieren. Im gegebenen Fall beginnt er autobiografisch mit seinen frühen Besuchen im Kunstmuseum Basel, wo ihn die erotischen Bauchansätze der Göttinnen im Cranach’schen »Paris-Urteil« während der Pubertät sehr beschäftigt haben. Es folgen weitere Erlebnisse mit Bäuchen, und es wird ein bisschen kanniba­listisch: Waschbrettbäuche erinnerten den Autor stets sehr an Kalbsbraten, und so sah er »in der Folge bei jedem Sixpack nur noch eins: das Rosmarinzweiglein fehlte«. Die Pariser Schau nun handelt eigentlich von »Cranach et son temps«, aber die anderen ausge­stellten Zeitgenossen können nicht mal ansatzweise mithalten in der Bauchmalerei, deswegen folgt Herzog nach einigen Basisinformationen lieber wieder seinem Special Interest. Er hat uns aber nicht umsonst damit bekannt gemacht. Bei den stets gleichen spitzigen Frauen­gesichtern, die Cranach und seine Werkstattkollegen immer so gemalt haben, ist die Bauchexegese eventuell sogar von Nutzen: »Vielleicht erkennt man halt doch mehr von der Individualität dieser Damen, wenn man ihnen auf die Bäuche starrt anstatt ins Gesicht.« Herzogs Bauch­begeisterung steigert sich bis zum Ende des Textes derart, dass er auch das recht enge Musée du Luxembourg als »eine Art Verdauungs­organ« wahrnimmt, aus dem man »erst im Mastdarm des Bookshops« wieder halbwegs heraus ist.

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8. Kathrin Passig

Marzipankartoffel aus Stahl. In: die tageszeitung, 10. 12. 2011. S. 21.

Zum Abtritt der beiden »Merkur«-Herausgeber erwartet man eigentlich einen Würdigungstext im Ärmelschonertonfall der Encyclopædia Britannica. Aber es geht auch anders, als Homestory mit Indiskretions­potenzial. In Kurt Scheels Badezimmer in Berlin-Charlottenburg gibt es also japanische Morgenmäntel und akkurat angeordnete Maniküre­werkzeuge. Kathrin Passig, selbst Autorin des »Merkur«, gilt diese Aufgeräumtheit als utopisches Gegenbild zu ihrer eigenen Lebenswelt, den Provisorien der digitalen Bohème: »Ach, das könnte schön sein! Suhrkamp-Klassiker bis ganz zum Ende lesen! Gründliches europäi­sches Denken!« Im Folgenden geht es um die »Marzipankartoffel­haftigkeit« des Porträtierten, die Wiglaf Droste konstatiert hat, nachdem Scheel zusammen mit dem »Merkur«-Mitherausgeber Karl Heinz Bohrer seine martialischen Gedanken zum 11. September geäußert hatte. Passig erweitert diese »Marzipan«-Beobachtung um den Faktor »Stahl«, siehe Überschrift. Für Scheel sei nämlich quasi jeder Tag Judgment Day: »Das habe ich herausgefunden, indem ich einen Myers-Briggs-Persönlich­keitstest gemacht und mir dabei vorgestellt habe, ich sei Kurt Scheel.« Den Grund für seine negative Urteilskraft macht Passig an diesem Umstand fest: »Dreißig Jahre lang täglich sieben Zeitungen zu lesen, das kann auch dem Friedlichsten schlechte Laune machen.« Eine exzellente Antonomasie hat sie auch noch aufgetrieben (»der John Wayne der deutschen Publizistik«), und falls jetzt doch noch jemand fragen sollte, antworten wir mit Kathrin Passig: »Nein, nicht der Münchner Merkur

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9. Ina Hartwig

Ihr Charme, ihr Drama. In: der Freitag 15, 14. 4. 2011. S. 13.

Die Texte von Ina Hartwig waren immer ein Grund, warum man zusätzlich zu den anderen Zeitungen auch die »Frankfurter Rund­schau« lesen musste. Hartwig war dort von 1997 bis 2009 Litera­turredakteurin und hat jetzt einen etwas sehr nostalgischen Abgesang auf ihren alten Arbeitgeber geschrieben. Denn 2011 war auch das Jahr, in dem die einstige FR zur gefühlten Regionalausgabe der »Berliner Zeitung« wurde. Der überregionale Teil inklusive Feuilleton kommt jetzt komplett aus der DuMont-Redaktionsgemeinschaft in Berlin – der Perlentaucher hat für seine täglichen Feuilleton-Recaps auch längst die Doppelrubrik »Frankfurter Rundschau / Berliner Zeitung« eingeführt. Aber zurück zur Nostalgie: Als Hartwig 1997 von Berlin nach Frankfurt kam, musste sie u. a. den hessischen Dialekt und ein Rohrpostsystem verkraften sowie eine Riege aus drei Männern, die im Feuilleton darauf achtete, dass alles so blieb, wie es ist, die politische Einstellung, das ästhetische Denken. Feuilletonistische Kulturkämpfe entbrannten zwischen den angestammten Redakteuren Wolfram Schütte, Hans-Klaus Jungheinrich und Peter Iden und den Neuzugängen, die eher an der Postmoderne als in Kritischer Theorie geschult waren. Das Generationenupdate hat aber trotzdem irgendwie funktioniert, und man gönnte sich dann gemeinsam den Luxus, essayistische Texte mit 20.000 Zeichen Länge in der Zeitung zu platzieren. Hartwigs »Nachruf« beginnt mit zwei viel zu umständlichen Absätzen zu den architektonischen Gegebenheiten rund um das alte Verlagsgebäude in der Frankfurter Innenstadt und vermittelt damit auch noch mal sehr gut, wie es sich damals angefühlt hat, die FR zu lesen.

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10. Jürgen Kaube

Vgl. auch Guttenberg 2009. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 2. 2011. S. 27.

Aus der überbordenden Berichterstattung um Guttenbergs plagiierte Doktorarbeit stach ein Artikel von Jürgen Kaube heraus, der sich mit vier Argumentationsmustern der Guttenberg-Verteidiger beschäftigt. Der Text ist mitten im Auge des Shitstorms erschienen, zehn Tage vor dem Rücktritt des Dissertanten von allen Ämtern. Der Artikel ist demnach beim jetzigen Wiederlesen nicht mehr auf dem neuesten Stand, das gilt auch für diesen schönen und damals aktuellen Befund, mit dem Kaube die hohe Plagiatsdichte umschreibt: »Die längste Lesestrecke, auf der sich bislang kein Plagiat fand, sind die Seiten 39 bis 44.« Kurz darauf wurde auch die Plagiatsfreiheit dieser fünf, sechs (von insgesamt 475) Seiten falsifiziert, aber das macht das Zitat im Nachhinein ja fast noch besser. Herausragend wird Kaubes Artikel aber erst durch die besonnene Kompromisslosigkeit, mit der die Argumente der Pro-Guttenberg-Fraktion prägnant widerlegt werden, etwa die rhetorische Frage, »ob es denn nichts Wichtigeres gibt als Fußnoten­schwindel und akademische Unehrlichkeit. Selbstverständlich gibt es Wichtigeres. Es gibt auch Wichtigeres als Steuerhinterziehung, Fahren im angetrunkenen Zustand, das Heraustelefonieren von Lustmädchen aus Untersuchungsgefängnissen durch Ministerpräsidenten, Vulgarität und was nicht noch alles.«

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[ veröffentlicht am 10. 1. 2012 ]