Das Kinojahr 2013

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(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)

 
»Gravity« (Alfonso Cuarón) Seit »Jurassic Park« habe es keinen technisch beeindruckenderen Film gegeben, schrieben sie. Der Film sei eine körperliche Erfahrung, ein schwereloses Ballett, ein schweißtreibender Alptraum. Die Absolutheit, die feindliche Leere, auch der Zauber des Alls werden so eindringlich vermittelt, dass Kubrick seine Freude gehabt hätte. Ein Kinowunder sei das, der Film des Jahres und laut James Cameron sogar »the best space film ever done«. Und ja, stimmt alles. Best Bit: Die erste Einstellung: 13 Minuten, kein Schnitt.

»De rouille et d’os« (Jacques Audiard) Film, von dem man erst später feststellt, wie sehr sie einen doch beeindruckt haben. Wie schon dem Knastdrama »Un prophète« verleiht Audiards furchtloser Erzählstil dieser Liebesgeschichte einen völlig unsentimentalen Realismus. Der Film erpresst sich nicht unser Mitleid – Empathie kriegt er aber unmerklich doch, während wir diese spröden Charaktere schwierige Leben leben sehen und ihre Einstellungen kennen lernen – zu sich selbst, zu ihrem eigenen Körper und zueinander. Best Bit: Stéphanies Versöhnung mit dem Orca.

»Inside Llewin Davis« (Ethan Coen, Joel Coen) Einer jener Coen-Filme, in denen das Schicksal redlichen Männern übel mitspielt, aber noch melancholischer als, sagen wir, »A Serious Man«. Inspiriert von der Biografie der Folklegende Dave Van Bronk verfolgt die Geschichte den Titelhelden (sensationell: Oscar Isaac), der mit Katze und Gitarre durch das Greenwich Village der frühen 60er-Jahre vagabundiert und sich selbst ständig zu sabotieren scheint. Der Film lässt aus, ob der Mann den Erfolg überhaupt verdienen würde, verschweigt, ob er ihn letztlich erringt oder nicht, und übergeht zudem einen kompletten Handlungsstrang, mit dem der gewiefte Zuschauer ganz fest rechnet. Joel und Ethan machen aber einfach ihr Ding, und das ist auch gut so. Best Bit: »Where is its scrotum???«

»The Master« (Paul Thomas Anderson) Diesen Film, so hat man das Gefühl, muss man unbedingt noch einmal sehen, um seine Subtexte zu ergründen. Aber Lust hat man nicht wirklich drauf. Unbestritten großartig gespielt und fotografiert, verschafft das Werk dem Zuschauer tatsächlich wenig Erhebendes; weder weckt es emotionale Anteilnahme, noch wartet es mit einer spannenden narrativen Entwicklung auf. Unbeirrt erforscht es stattdessen die Befindlichkeiten seiner Charaktere, ohne Exposition, Erklärungen oder Aha-Momente. Als unzugänglich und kryptisch gilt »The Master« deswegen, aber eben auch als klug, faszinierend und einzigartig – vermutlich ein Meisterwerk. Best Bit: Philip Seymour Hoffman.

»The Place Beyond the Pines« (Derek Cianfrance) Nach dem kleinen, aber feinen Zweipersonenstück »Blue Valentine« liefert Derek Cianfrance ein überraschend episches, Generationen übergreifendes Kriminaldrama in drei Akten ab. In ungeschönten Bildern aus der amerikanischen Provinz erzählt es von Vätern und Söhnen, von Reue und Redlichkeit, von Vergeltung und Vergebung. Best Bit: Der letzte Bruch, die Jagd über den Friedhof, dann die folgenreiche Konfrontation von Luke und Avery.

»Stoker« (Chan-wook Park) Der erste Hollywood-Versuch des Südkoreaners Chan-wook »Oldboy« Park ist ein Film wie aus dem Bilderbuch. Kaum ein Werk konnte dieses Jahr eine derart kontrollierte, kühle, kunstvolle Ästhetik sein eigen nennen; jedem ausgefeilten Bildaufbau entspringen hier wohlige Gänsehautschauer und das unbestimmte Gefühl einer lauernden Bedrohung. Fast vernachlässigt man darüber den fintenreichen Plot, der von mysteriösen Charakteren bevölkert ist und einem Hitchcock das Herz hätte aufgehen lassen. Best Bit: Das Piano-Duett.

»Lincoln« (Steven Spielberg) Angestrengte Diskussionen alter Männer im Halbdunkel, gravitätisch deklamierte Bonmots, zähe Debatten im Repräsentantenhaus, bedeutungsschwere Monologe am Kamin– oder mit einem Wort: laaangweilig! Möchte man meinen. Tatsächlich verlangt das politische Kleinklein in »Lincoln« einiges an Konzentration, den Uninteressierten verliert der Film binnen Minuten. Aber lässt man sich darauf ein, erwächst aus den minutiös inszenierten Beratungen und Disputen eine latente Spannung, und die finale Abstimmung gerät zu einem wirklich erhebenden Moment. Dies zu bewerkstelligen, ohne dem hehren Ziel die Bürgerkriegsgreuel oder das Elend der Sklaven gegenüberzustellen, ist Regiekunst. So bleibt der Film frei von Action wie auch von Pathos; Day-Lewis’ nuanciertes Spiel kann sich frei entfalten. Best Bit: »I said aye, Mr. McPherson. AYYYYYYEEEEEE!«

»Jagten« (Thomas Vinterberg) Großes dänisches Kino. Ein Kind sagt was Dummes, eine unschuldige Lüge, doch der Verdacht des Missbrauchs steht im Raum. Daraufhin bricht für den mutmaßlichen Täter die Hölle los. Im Zweifel gegen den Angeklagten: Diffuse Elternängste lassen den Verdacht zur Gewissheit werden, eine praktisch unentrinnbare Spirale von Hysterie und Paranoia führt zur systematischen Ausgrenzung und Dämonisierung des Mannes (makellos: Mads Mikkelsen). Der Film ist so bestechend wie erschreckend in seiner Nachvollziehbarkeit: So verhalten sich Menschen, genau so. Best Bit: Im Supermarkt.

»Frances Ha« (Noah Baumbach) Etwas planlos, voll quirliger Energie, bewundernswert unbekümmert und von einnehmendem Charme – das ist der Film, und das ist seine Hauptfigur Frances, eine Endzwanzigerin auf Selbstfindung in New York. Mumblecore-Queen Greta Gerwig bezaubert und brilliert, während das schwarz-weiße Flair der Stadt so greifbar wird wie in Woody Allens Big-Apple-Klassikern. Best Bit: Die Auflösung des Filmtitels.

»The Lone Ranger« (Gore Verbinski) 2012 traf es John Carter, dieses Jahr haben sich die Kritiker den Lone Ranger als Prügelknaben herausgepickt: irgendwie schienen ihnen 250 Millionen ein wenig teuer, und der ewige Bruckheimer-Bombast musste auch mal wieder abgewatscht werden. Na sicher, der Film mag etwas lang sein und zu vollgepackt, aber ihm Leblosigkeit zu attestieren, das schiere Level an handwerklicher Bravour zu übersehen, den Reichtum an Details zu ignorieren, das ausgefuchste Storytelling zu bestreiten – das schafft nur ein Kritiker. Best Bit: Das zu Rossini getaktete Eisenbahnfinale.

»A Late Quartet« (Yaron Zilberman) Die innere Mechanik eines Streichquartetts schien ein interessantes, zumindest ungewöhnliches Sujet zu sein. Die Geschichte über die Dissonanzen, welche Krankheit, Egozentrik und Seitensprünge in das Ensemble bringen, gerät stellenweise etwas melodramatisch und vorhersehbar, aber die schöne Umsetzung und das glaubwürdige Schauspiel von Walken, Keener, Hoffman & Co. machen den Film dann doch zu einem der besten Streichquartettfilme aller Zeiten. Best Bit: Juliette erwischt Robert.

»Prisoners« (Denis Villeneuve) Man ahnt nichts Gutes, da kommt auf einmal ein Film um die Ecke, der einfach mal sehr gut ist. Getarnt als Polizei-Prozedural um eine Kindesentführung taucht das Werk bald ab in moralische Abgründe um Selbstjustiz und Zweckgewalt. Unmerklich zwingt es dem Zuschauer eine unangenehme Frage auf: »Wie weit würdest du gehen?« Denis Villeneuve (»Incendies«) verankert seinen Film in der menschlichen Natur, nicht in Thriller-Konventionen; immer wenn klar ist, was gleich passiert, blendet er weg – so bleibt die Erzählung dicht und eindringlich, ihre psychologischen, emotionalen Wirkungsmomente fein austariert. Hugh Jackman liefert eine beängstigend kraftvolle Performance ab und auch Jake Gyllenhaal legt sich ins Zeug. Die klamm-düsteren Schlechtwetterbilder von Roger Deakins tun ihr Übriges. Best Bit: Die Anagnorisis am Ende: Die unheimliche Mrs. Jones offenbart sich mit geladener Waffe dem Hobbyfolterer Dover – duh!

»Captain Phillips« (Paul Greengrass) So sieht also ein Piratenfilm heutzutage aus. Eine Handvoll somalischer Jungs kapert ein riesiges amerikanisches Containerschiff. Ein gefundenes Fressen für Greengrass, der die wahre Begebenheit gewohnt authentisch und eindringlich auf die Leinwand bringt. Captain Hanks zeigt sich in Topform; über ihn erlebt der Zuschauer einen Albtraum unausgesetzter, beklemmender Anspannung. Der Film erfasst im Vorbeihasten sogar die Dilemmata der Globalisierung und stattet die Hijacker mit etwas Hintergrund aus. Piraterie scheint sich jedoch gar nicht mehr zu lohnen, soll der Militär-Overkill des letzten Akts unmissverständlich klar machen. Best Bit: Phillips beim Check-Up.

»Kapringen« (»A Hijacking«, Tobias Lindholm) Dieser dänische Film lief hierzulande zwar bisher nur auf dem Münchner Festival, soll hier aber im Zusammenhang mit »Captain Phillips« unbedingt erwähnt werden. Er erzählt nämlich eine ganz ähnliche Geschichte, bedient sich ebenso jener Ästhetik, die sie ›gritty realism‹ nennen, und entfaltet eine ähnliche, beklemmende Wirkung. Trotzdem bietet »Kapringen« ein ganz anderes Filmerlebnis, und das nicht nur, weil der Film sich eher auf die zermürbenden Verhandlungen zwischen den Piraten und der Reederei konzentriert. Best Bit: Ein Schuss.

»Blue Jasmine« (Woody Allen) Und doch mal wieder ein großer Wurf von Meister Allen. Denn Schauplatz ist diesmal weder Rom noch Paris, sondern San Francisco und New York. Im Zentrum Cate Blanchett, über deren furiose Vorstellung als auf den Hund gekommene Salonlöwin man viel Lob lesen konnte. Es wird zügig erzählt, und es wird viel erzählt, Rückblenden bleiben unkommentiert, der Zuschauer muss dranbleiben. So ergibt sich die komplexe Chronologie einer Krise, die dann am wahrhaftigsten und vergnüglichsten ist, wenn Klassen und Lebenswelten aufeinanderprallen. Best Bit: Die letzten 30 Sekunden, Parkbank.

»Django Unchained« (Quentin Tarantino) Hat man lang gehegte Tarantino-Vorbehalte, kann man Django als überlangen, selbstgefälligen Genrebastard wahrnehmen. Für die meisten aber sind die opulent angerichteten Blutbäder, der anachronistische Musikeinsatz und die manierierten Dialoge nicht Masche, sondern Marke. Und egal, was einem im Einzelnen nicht gefällt, es handelt sich sicher um ein besonders ausgesuchtes Spaghettiwesternzitat, also: geschenkt. Best Bit: Der Zahn.

»Rush« (Ron Howard) Selbst für Formel-1-Ignoranten war »Rush« ein Glücksfall: Ron Howard zeigt sich nach dem Bromance-Unfall »The Dilemma« wieder in Bestform, uns’ Daniel Brühl kopiert Niki Laudas bratzig-unverblümte Art scheinbar mühelos, Peter Morgans Skript balanciert gekonnt rasante Rennsequenzen mit knackigen Dialogen und bleibt dabei sprachlich konsequent: wenn deutsch gesprochen wird, dann wird halt deutsch gesprochen. Best Bit: »Arschloch.«

»La migliore offerta« (Giuseppe Tornatore) Im Gegensatz zu Danny Boyles »Trance«, dem anderen Kunstgaunerstück des Jahres (gut, »Gambit« war da noch), zählt bei diesem die Substanz, die Geschichte, nicht der Stil. Obschon Kunstguru Oldman sehr wohl stilvoll daherkommt, mit seinem hochgestochenen Duktus und seinen Handschuhen. Umso eindrücklicher und dramatischer seine Entwicklung und sein Absturz. In Italien ein Preisabräumer, lief der Film anderswo unter dem Radar. Aber er ist ein faszinierendes, kurioses kleines Kunstwerk. Best Bit: Oldman betritt seinen Bilderbunker, schaut auf und –!!!

»Flight« (Robert Zemeckis) Na endlich mal wieder ein Zemeckis-Film aus Fleisch und Blut. Was als Oldschool-Katastrophenfilm beginnt und eine der aufregendsten Sequenzen des Filmjahres enthält, geht als Oldschool-Drama über einen Mann und seine Sucht weiter, dessen vielschichtige Konstruktion Denzel Washington Gelegenheit gibt, eine fantastische Vorstellung als Promille-Pilot zu geben. Best Bit: Die Flugzeug-Eskimorolle.

»Elysium« (Neill Blomkamp) Zugegeben, »Elysium« ist nicht eben der Ausbund an Originalität, der Blomkamps Erstling »District 9« war. Scheinbar werden mit höherem Budget automatisch Standard­schablonen mitgebucht, wie die zu beschützende Frau nebst Kind. Trotzdem ist der Film, schon visuell, noch ein, zwei Welten besser als andere Sci-Fi-Angebote des Jahres.

»La vie d’Adèle – Chapitres 1 et 2« (Abdellatif Kechiche) Ein Festivalliebling und Furoremacher. Von den ausgewalzten Intimitäten kann man sich freilich – so wie die Autorin der Comicvorlage es tut – distanzieren. Aber eigentlich nur, wenn man die Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit der Sequenzen, die diese Szenen umgeben, übergeht. Das voyeuristische Moment nivelliert sich nämlich auf wundersame Weise, alles erscheint nur folgerichtig. Best Bit: Die Verabschiedung im Park, die Trennung, das Treffen im Café, …

»Enough Said« (Nicole Holofcener) Die entzückende Julia Louis-Dreyfus mit ihrem überbordenden Lachen, der grundsympathische James Gandolfini (in seiner letzten Hauptrolle) als gemütlicher Normalo, beide auf nachgerade glaubwürdige Weise miteinander verbandelt, das ist doch schön! Best Bit: Evas Guacamole-Déjà-vu.

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Blindgänger

»Gangster Squad« (Ruben Fleischer) Konnte ja nichts schief gehen, haben die sich wohl gedacht: super Besetzung, super Ausstattung, ganz viel Gewalt und ganz viel Geballer. Ging aber trotzdem alles schief. Cast und Kostüme, alles verschwendet, dazu die Zeit der Zuschauer, in einem inspirationslosen Kalkülkino ohne Herz und Verstand.

»To the Wonder« (Terrence Malick) Menschen an der Gardine, flüsternd? Check. Frauen in wehenden Kleidern, Pirouetten drehend auf einem Feld im Sonnenuntergang? Check. Bedeutungsschwangere Blicke, pseudo-poetisches Voice-Over? Check, check. Als Ansammlung der nervigsten Malick-Manierismen funktioniert dieser Film eigentlich nur als Parodie auf sich selbst – und die ist dann allerdings wieder sehr, sehr gut.

»Hangover 3« (Todd Phillips) Wer hätte gedacht, dass eine geköpfte Giraffe total witzig sein kann? Oder ein Huhn, wenn man es mit einem Kissen erstickt? Nun, Todd Phillips offenbar. Aber man muss kein Tierfreund sein, um dieses herzlose, übellaunige Stück Film schlecht finden zu können. Ein Aufguss für den Ausguss.

»Kick-Ass 2« (Jeff Wadlow) Jim Carrey hat sich zu Recht distanziert: Dem ultrabrutalen Teenie-Helden-Spaß des ersten Teils ist die Ironie abhanden gekommen; übrig bleibt eine verantwortungslose Schlachteplatte.

»Olympus Has Fallen« (Antoine Fuqua) Eskapismus ist ja manchmal nicht schlecht, diese hirnlose Ballerorgie aber schon. Anderthalb Leute segnen hier das Zeitliche pro Minute; ihr Blut mischt sich mit der widerwärtigen hurrapatriotischen Soße, in der die dümmlichen Dialoge mariniert sind.

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[ veröffentlicht am 1. 3. 2014 ]

(Filmstreifen im Logo © Fabian Kerbusch/DIGITAL-CONNECTOR)