Das Kinojahr 2012

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(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)

 
»Take Shelter« (Jeff Nichols) Michael Shannon hatte in »Revolutionary Road« schon Eindruck gemacht als psychisch angeknackster Mann, hier gehen die Pferde mit ihm vollends durch. Anfangs sieht man es dem Familienvater nicht an, doch apokalyptische Visionen und immer heftiger werdende Wahnvorstellungen treiben den Mann in die Überzeugung, seine Familie vor einer nahenden Katastrophe bewahren zu müssen, koste es was es wolle. Auf subtile Weise erforscht der Film, wie es ist, wenn man sich selbst nicht mehr trauen kann, schraubt sich in düstere Gefilde psychischen Aufruhrs – bis zum viel diskutierten, zweideutigen Ende. Best Bit: Curtis‘ Ausraster in der Kantine: »There’s a storm coming like nothing you’ve ever seen!«

»Argo« (Ben Affleck) Wie, sie machen solche Filme nicht mehr? Doch. Argo wirkt wie aus der Klassikerkommode eines Pollack, Pakula oder Lumet – Affleck scheint mit diesen Herren tatsächlich auf Augenhöhe. Sein Film verbandelt durchdachtes Politkino mit nervenzerrendem Thrill (wie es vor Jahren noch »Munich« geschafft hatte) und bewahrt dabei jene verblüffende Authentizität: Da passt jede furchtbare Tapete, da sitzt jeder schlimme Schnauzer, das iranische Ambiente erscheint so rau und beängstigend, wie es den Drangsalierten seinerzeit vorgekommen sein muss. Bis in den kleinsten Winkel famos besetzt, so unterhaltsam wie gehaltvoll, einer der besten Filme des Jahres. Best Bit: Der schweißtreibende dritte Akt.

»Amour« (Michael Haneke) Der späte Winter einer Liebe mit all seinen Demütigungen und Flüchen, dem Verfall, der Ohnmacht – und der quälenden Gewissheit eines langsam sich nähernden Endes. Wie jeder Haneke ist dies kein Film, der sich mal eben so wegkucken lässt. Er nimmt einen nicht bei der Hand, es gibt keine Krankendrama-Versatzstücke, keine vertrauten, manipulativen Wirkmomente. Stattdessen ist »Amour« ein Film von nacktem Realismus und kompromissloser Ehrlichkeit. Und trotzdem die Kamera respektvollen Abstand hält, kein Soundtrack die klinischen Bilder erwärmt und das Drehbuch von charakteristischer Direktheit und kühler Ökonomie gekennzeichnet ist, fühlt sich der Film sanft und emotional an wie kaum ein Haneke zuvor. Sicher auch das Verdienst von Trintignant und Riva, die ihre Charaktere gleichsam zu bewohnen scheinen. Best Bit: »Tu es un monstre parfois. Mais tu es gentil.«

»The Descendants« (Alexander Payne) Familiendrama in Hawaii: die untreue Mutter im Koma, die pubertierende Bagage aufmüpfig, die bucklige Verwandtschaft geldgierig und der überforderte Vater im Zugzwang, die Zukunft der Familie in die rechten Bahnen zu lenken. Payne profitiert vom nuancierten Spiel seines Ensembles (allen voran George Clooney) und bringt das Wirrwarr von Trauer, Enttäuschung und Verantwortung mit Bravour auf die Leinwand. Der Film wirkt leichtfüßig, weiß aber genau, was er will. Er will, dass wir weinen, dass wir lachen, und dass wir lernen: Die im Paradies kochen auch nur mit Wasser. Best Bit: Matt erfährt von der Affäre seiner Frau, rennt in Schlappen quer durch den Ort zu Freunden der Familie: »Who is he..?«

»Life of Pi« (Ang Lee) Wie zum Teufel haben sie das gedreht, fragt man sich bei jeder Szene dieses Wunderwerks. Und es ist klar – vieles kam aus dem Rechner. Der Faszination tut das keinen Abbruch, denn Ang Lee prahlt nicht mit Effekten, sondern stellt sie in den Dienst einer großen psychologischen Tiefe. Die Magie wird zur Realität, bald erleben wir eher als dass wir nur schauen – dies ist großes Kino. Doch ist die Odyssee des Pi eine Parabel über die Kraft des Glaubens, wie oft zu lesen war? Denn wenn man am Ende erfährt, was wirklich geschehen ist, möchte man eigentlich von selbigem abfallen. Was bleibt, ist nurmehr die Kraft von erbaulichen, tugendhaften Geschichten – und zu ihren besten Zeiten ist ja Religion nicht mehr als das. Best Bit: Richard Parker.

»The Artist« (Michel Hazanavicius) Dieser Film war ein Phänomen: ein Stummfilm aus Frankreich, in Schwarzweiß, der knapp das Neunfache seiner Produktionskosten einspielte und von einer Welle von Preisen überrollt wurde. Die Kritiker hatte er im Sack, indem er als eine Hymne an das alte Hollywood und die Essenz des Kinos punktete und dermaßen liebevoll auf uralt getrimmt war, dass einem Kenner das Herz aufgehen musste. Und den letzten Zuschauer kriegte er mit Jean Dujardins unwiderstehlichem Lächeln und dem entzückenden Hündlein. Das alles ist kein abgekartetes Spiel, sondern kostbares Kino: Zugleich Tribut und Kommentar, Nostalgie und Novum, Charmebolzen und technisches Husarenstück, lädt der Film wie kaum ein anderer zur Reflexion des Mediums ein und rückt die Maßstäbe zurecht. Best Bit: George Valentin stellt ein Glas ab: »Klonk!«

»Drive« (Nicolas Winding Refn) Sind die eruptiven Gewaltexzesse in diesem Film unnötig, unredlich usw.? Zumindest sind sie nicht Tarantino-witzig (denn Gewalt ist niemals witzig, wie wir von Haneke gelernt haben), sondern eher Scorsese-schockierend. Auch bewegt sich der Film, selbst wenn er auf Arthouse macht, in den Genregrenzen des 80er-Jahre-Pulp-Actionkinos – Filmfans werden thematische und stilistische Gemeinsamkeiten mit Walter Hills »The Driver« oder Michael Manns »Thief« ausmachen. Wie dem auch sei, »Drive« hat 2012 viele Kritiker begeistert, der Film durfte als nahezu perfekte Union von Inhalt und Form, als wortkarge Antiheldengeschichte in Neon und Lederjacke auf keiner Bestenliste fehlen. Und er sieht ja auch verdammt gut aus. Also der Film jetzt, nicht nur Ryan Gosling. Best Bit: Der Auftakt-Getaway.

»Prometheus« (Ridley Scott) Vor Jahren schon wurde von einem »Alien«-Prequel gemunkelt, welches der Meister womöglich selbst inszenieren würde – der Mann, der den Science-Fiction-Film einmal für tot erklärt hatte. Aber die vielen offenen Fragen, die den Beginn der Saga umwaberten, waren wohl einen neuerlichen Ausflug wert. Das Skript mutierte dann zu einem eigenständigen Biest, spielt zwar im selben Universum, hat aber nur indirekt mit den Aliens zu tun, die Scott zu Recht für ausgenudelt hält. Trotzdem wurde »Prometheus« zu einem der am sehnlichsten erwarteten Filme der letzten Jahre; clever gestreute Internet-Teaser taten ihr Übriges. Und das Ergebnis? Kein instant classic, leider. Aber ein kraftvoller Klopper von Film, ein eindringlich und furchtlos inszeniertes High-End-Space-Abenteuer mit kolossalen Bildern und ein paar Sequenzen, die einem an die Eingeweide gehen wie einst die epochemachende Frühstücksszene des ersten Films. Aber musste man Guy Pearce mit einer Tonne Latex überziehen? Das sieht nicht aus. Auch lässt der Film mehr Fragen offen als er beantwortet – die kann wohl nur ein Sequel klären. Also her damit. Best Bit: David.

»Monsieur Lazhar« (Philippe Falardeau) Es gab noch einen Ersatzlehrer-übernimmt-Klasse-Film letztes Jahr, nämlich »Detachment« von Tony Kaye, aber dieser hier ist der bessere, weil einfühlsamere, vielschichtigere, kompetentere Film. Er versteht viel von dem komplexen Verhältnis zwischen Lehrer und Klasse, genauer den Schwierigkeiten, die ein nicht eben fortschrittlich lehrender, aus Algerien immigrierter Pädagoge mit einer von einem tragischen Ereignis traumatisierten Klasse an einer Schule in Quebec hat. Ein sanftmütiger, anständiger Mann ist Monsieur Lazhar, und die Impulse, die er seinen Schülern gibt, rühren bald an seinen eigenen, nicht unproblematischen Hintergrund. Einen Großteil seiner überzeugenden Kraft zieht der Film aus dem lebensnahen, unprätenziösen Spiel seiner Darsteller, insbesondere dem der Kinder. Best Bit: Simons Gefühlsausbruch am Ende.

»Extremely Loud and Incredibly Close« (Stephen Daldry) Manche fanden den Film zu sentimental oder unbotmäßig manipulativ, viele fanden insbesondere die Verwendung von 9/11 als emotionalen Katalysator unredlich, andere mochten einfach das Kind nicht – Stephen Daldrys Verfilmung von Jonathan Safran Foers Roman hatte es bei Kritik und Publikum schwer. Aber man muss den Film in einer Reihe sehen mit »Forrest Gump« und »Benjamin Button« (Drehbücher ebenfalls von Eric Roth) – wundersame Reisen eigentümlicher Charaktere, skurrile Sinnsuchen mit gehörigen Portionen von Pathos und Humor. Lässt man sich auf diese Art von Hollywoodkino ein, dann erscheint dieser Film womöglich extrem gut und unglaublich bewegend. Best Bit: Max von Sydow als stummer Untermieter.

»Skyfall« (Sam Mendes) Best Bond ever. Und das nicht, weil es ein guter Bond ist, sondern weil es ein guter Film ist. Die bondigen Elemente sind freilich da, aber sie sind dem Film kein Klotz am Bein. Sie werden neu gedacht und einer psychologischen Tiefe untergeordnet, die man so in einem Bond nicht erwartet. Craig liefert im Sparring mit einem gruselig guten Javier Bardem regelrechtes Schauspiel ab. Dann die Schauplätze: Kaum was von den üblichen Hetzjagden durch dekorative Metropolen, stattdessen diese bizarre verlassene Inselstadt oder das düstere Landhaus in den schottischen Highlands. Der dort stattfindende, ausladende, nächtliche Showdown erinnert von den Bildern her an den »Jesse James«-Bahnüberfall oder den Stakeout in »True Grit«, und richtig: alles fotografiert von Lichtzauberer Roger Deakins; selten hat ein Bond-Film so gut ausgesehen. »Skyfall« brütet und brodelt, in seinen rauschhaften Adrenalinsequenzen entwickelt Mendes‘ Regie etwas geradezu Nolan-mäßiges – und wenn man am Ende schweißgebadet liest: »James Bond will return«, denkt man nur: »Yes, please.« Best Bit: Bahnfahrt mit Bagger.

»Looper« (Rian Johnson) Mal wieder ein nicht unintelligenter Sci-Fi-Film, einer mit einer originalen und originellen, adäquat umgesetzten Geschichte und der richtigen Mischung von Action und Substanz. Das Drehbuch ist dicht; will man der immer diffizilen Zeitreiselogik oder gelegentlichen plot holes zu Leibe rücken, schlägt der Film schon wieder einen Haken und man muss hinterher. Am Ende verdichten sich die Verflechtungen zu einer Situation frappierender Tragweite, und es ist das moralische Gewissen eines Einzelnen, von dem ihr Ausgang – und damit die Zukunft – abhängt. Best Bit: Old Joe und Young Joe im Diner: »I don’t want to talk about time travel because if we start talking about it then we’re going to be here all day talking about it, making diagrams with straws.«

»Intouchables« (Olivier Nakache, Éric Toledano) Mit knapp 9 Millionen Zuschauern der meistgesehene Film 2012 in Deutschland – »Intouchables« (oder eben »Ziemlich beste Freunde«) war die Konsenskomödie und das Gespräch an der Kaffeemaschine im Büro. Die Geschichte um die unwahrscheinliche Freundschaft eines querschnittsgelähmten Millionärs zu seinem Pfleger ist dank ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit und ihres unwiderstehlichen Humors eine leicht zu mögende Variante von »Driving Miss Daisy«. Peinlichkeiten und Sentimentalitäten werden dankenswerterweise größtenteils umschifft, genauso wie subtilere Wahrheiten abseits der liebevoll umgesetzten, aber sattsam bekannten Buddy-Movie- und Culture-Clash-Versatzstücke. Der Film lebt von seiner plausiblen Charakterzeichnung und dem großartigen Spiel von Cluzet und Sy. Best Bit: Der Flash-Forward am Anfang.

»Tinker Tailor Soldier Spy« (Thomas Alfredson) Man muss sagen, dass diese Verfilmung von John le Carrés berühmtem Spionagethriller einem nicht immer hilft, die Übersicht zu behalten. Selbst der versierte Zuschauer wird während dieser verzwickten Maulwurfjagd oft genug keinen Schimmer haben, was zur Hölle gerade abgeht. Darüber hinaus ist Alfredsons Erzählweise alles andere als flott – Spionage besteht nämlich nur zu einem Bruchteil aus spannenden Schießereien und eher aus zermürbender Indiziensammlerei und endlosen Gesprächen von älteren Männern in verrauchten Büros. Wen das aber nicht abschreckt, der bekommt eine überaus wahrhaftige, von Misstrauen und Melancholie erfüllte Kalter-Krieg-Stimmung geliefert sowie feinstes britisches Schauspiel, u. a. eine der besten Vorstellungen von Gary Oldman überhaupt. Best Bit: Die Weihnachtsfeier.

»Hugo« (Martin Scorsese) Ein Hohelied auf die Lichtspielkunst, eine Hommage an ihre Pioniere, ein Appell für die Bewahrung ihrer Schätze: Das alles ist »Hugo« und zusätzlich noch ein toller Kinderfilm sowie ein völlig spektakuläres Beispiel für den intelligenten Einsatz von 3D. Wenn Ben Kingsleys gramzerfurchtes Gesicht in den Kinosaal hereinragt, spürt man gleichsam die Gegenwart seiner Person. Der Film ist von einer Spielberg’schen, kindlichen Sentimentalität und Unschuld geprägt, sein Erzähltempo ist teilweise arg entschleunigt – aber man kann sich ja immer die Bilder ankucken: eine reiche, warme Welt voller Details, ein wie gemaltes, fast aufdringlich romantisches, beschneeflocktes Postkarten-Paris. Und immer wieder Leckerbissen für Film-Buffs oder historische Momente, die schon immer mal auf die Leinwand wollten, wie das berühmte Zugunglück von 1895 am Gare Montparnasse. Best Bit: Die Auftakt-Kamerafahrt.

»Bir Zamanlar Anadolu’da« (Nuri Bilge Ceylan) Ein Kommissar, ein Arzt, ein Staatsanwalt, ein Mordverdächtiger und eine Handvoll Polizisten fahren durch die nachtfinstere anatolische Steppe, auf der Suche nach einer verscharrten Leiche, die dort irgendwo liegen muss. Der Wind fegt durchs trockene Gras, die Kegel der Scheinwerfer streifen geisterhaft über die Hügel, über allem lauert eine Stimmung nervösen Unbehagens. Zweieinhalb Stunden dauert dieses langsam schwelende Ausnahmedrama, und sie sind gut investiert, der Film würde anders kaum funktionieren. Er kommt ohne dramatische Zuspitzungen aus, selbst ohne erschöpfende Auflösung. Aber er weiß mehr über die menschliche Natur zu offenbaren als man zunächst glaubt. Best Bit: Die Tee servierende junge Frau.

»War Horse« (Steven Spielberg) Und noch ein Altmeister verpackt ein Kinderbuch in große, teure Bilder. Spielbergs Stilwillen macht aus der Pferdegeschichte einen Hollywoodschinken klassischer Bauart: wohlgestaffelte Bühnenbilder in Technicolor-Palette, theaterhaft ausgeleuchtet, ausklamüserte Kamera. Dass der Film aus der equinen Perspektive erzählt ist, heißt nicht, dass er nicht unverhohlen pathetisch und melodramatisch daherkommen kann: Loyalität! Treue! Freundschaft! John Williams‘ klebriger Soundtrack schwillt dazu im Hintergrund. Für manchen wäre weniger mehr gewesen, auch irritieren die komischen Akzente der jeweiligen Nationalitäten, aber einen heimeligen Sonntagnachmittag nimmt »War Horse« im Galopp. Best Bit: Joey stürmt über die nächtlichen Schützengräben.

»Moonrise Kingdom« (Wes Anderson) Hollywoods Beauftragter für launige Exzentrik hat eine neue, entzückende Fingerübung abgeliefert. Man mag sich fragen, ob die Starbesetzung nicht dem kindlich-kleinformatigen Sujet zuwiderläuft, oder ob die stabsmäßig geplante Ausführung sowie die unterkühlten Dialoge wahren Emotionen die Tür vor der Nase zuschlägt – aber »Moonrise Kingdom« hat was eigenes, seien es die tollen Bildkompositionen, die anheimelnde 60er-Jahre-Pfadfinder-Nostalgie zusammen mit der kongenialen Musik von Alexandre Desplat, das bei Anderson gern mitschwingende, wehmütige Gefühl der Vergänglichkeit, die vielen skurrilen Einsprengsel oder Bill Murray. Best Bit: Der Junge auf dem Trampolin.

»The Dark Knight Rises« (Christopher Nolan) Auf den Abschluss von Nolans Batman-Trilogie hat jeder gewartet. Es ist der schwächste Teil, aber einer musste das ja werden. Bösewicht Bane hätte charismatischer ausfallen können, auch hätte dem Film eine Prise Ironie gut getan. Dennoch türmt sich hier wie gewohnt ein Koloss von Film vor unseren Augen auf, ein finaler Akt von Wagnerischen Dimensionen. Viel Geschichte wird verhandelt – die IMDb-Synopsis zählt mehr als hundert Absätze. Nicht schlimm, wenn man nicht alles durchblickt; der Film hält einen mit jeder Menge Kawumm und Haudrauf bis zum großartigen Finale bei der Stange. Und wohl nur Nolan schafft es, Bilder von einem alten Mann im Café mit wummernder Wuchtmucke zu unterlegen und zum ergreifenden Höhepunkt des Films zu machen. Best Bit: Banes Aktion im Football-Stadion.

»Beasts of the Southern Wild« (Benh Zeitlin) Einer der außergewöhnlichsten Filme des Jahres ist der Debütfilm des New Yorkers Benh Zeitlin. Wann hat man schon einen Film gesehen über ein sechsjähriges Mädchen, das in einer Südstaaten-Bruchbudensiedlung mit ihrem todkranken Choleriker-Vater sowie schmelzenden Polkappen zurechtkommen muss? Die Heldin ist mit einem herzerwärmenden Optimismus und einer großen Portion kindlicher Imagination ausgestattet – nur so kann sie inmitten bitterster Armut ihre moralische Reinheit bewahren, ihre tiefe Verbundenheit mit dem Land und den Menschen, die dort leben. Der Film hat ein großes Herz; er bezaubert durch seine unaufdringliche Poesie, wirkt dabei aber nicht skurril oder spielerisch, sondern ehrlich und erdverbunden. Best Bit: »Who da man!« – »I’m da man!«

»Cloud Atlas« (Tom Tykwer, Andy & Lana Wachowski) Wenn es ein Wort gibt, das diesen Film beschreibt, dann vielleicht das Wort ›riesig‹. Ein halbes Dutzend Geschichten, die fünf Jahrhunderte umspannen, 13 Schauspieler, die sich 66 Charaktere teilen, drei Regisseure, ein Budget jenseits der 100 Millionen, knappe drei Stunden Laufzeit. Allein angesichts dieser Ambitioniertheit muss man den Hut ziehen, auch kommt dem Film zugute, dass er dem Zuschauer die Idee der universellen Verknüpftheit über Raum und Zeit hinweg nicht mit dem großen philosophischen Holzhammer überprügelt. Stattdessen bewegt er sich behende und spielerisch durch einen bunten Strauß von Genres und Erzählebenen, mixt Schauwert und Schauspiel auf unterhaltsame, manchmal frappierende Weise. Dennoch nagt die Frage an einem, ob das Ganze der Aufwand wert gewesen ist. Ach was, wahrscheinlich schon, am besten noch mal kucken. Best Bit: Der who-was-who-Abspann.

»Moneyball« (Bennett Miller) Vielleicht lag es am Baseball-Thema, dass dieser Film bei uns an den Kassen etwas untergegangen ist, aber wie jedes Kind weiß, drehen sich die besten Sportfilme niemals um den Sport selbst. Tatsächlich geht es hier um den Kampf neuer Ideen gegen alte Konventionen, die Behauptung des Underdogs gegenüber dem Establishment, den Sieg der Zukunft über die Vergangenheit. Ein Film mit Seele und Verstand, inspiriert und inspirierend, gesegnet von einem fantastischen Script (Zaillian und Sorkin) und erfrischender Regie von Bennett »Capote« Miller. Brad Pitt spielt einen echten Charakter, und das einfach mal sehr gut. Auch Jonah Hill, sonst auf leichte Komödien abonniert, macht Eindruck als Statistik-Nerd. Best Bit: »That is what losing sounds like.«

»The Hobbit: An Unexpected Journey« (Peter Jackson) Ja, es stimmt, Jacksons neuerlicher Ausflug nach Mittelerde zieht sich ein bisschen, ihm fehlt narrativer Schwung und Raffinesse in der Charakterentwicklung. Ein 300-seitiges Kinderbuch auf einen neunstündigen Dreiteiler auszuwalzen mag auch leicht maßlos erscheinen. Als Rechtfertigung wird herangezogen, dass mit der Aufnahme von Material aus den Ringe-Apokryphen und Auftritten von Figuren aus Jacksons erster Trilogie die Hobbit-Geschichte tief in die Mittelerde-Mythologie integriert werden würde – dies hätte Tolkien seinem Debütroman wahrscheinlich sogar gewünscht. Also sind wir mal nicht so. Das Wiedersehen mit Gandalf und Konsorten ist schön, Bilbo ist von Martin Freeman perfekt getroffen, und es gibt pausenlos ordentlich was auf die Augen. Best Bit: »Riddles in the Dark«.

»Le gamin au vélo« (Jean-Pierre & Luc Dardenne) Kaum jemand erfasst eine gebeutelte Kinderseele eindringlicher als die Dardenne-Brüder: Der Junge auf dem Rad ist ein störrischer Kerl, der um Akzeptanz kämpft, aber Ablehnung fürchtet. Eine kaputte Kindheit, ein unerfülltes Bedürfnis nach Wärme und Zuneigung, eine Mauer aus Renitenz und Trotz. Dann ein Akt der Nächstenliebe – und eine Reihe schlimmer Entscheidungen. Dieses effizient erzählte Drama zieht seine emotionale Kraft aus seiner präzise beobachteten Menschlichkeit; es erinnert darin an den Neorealismus eines de Sica (»Ladri di biciclette«) oder Truffaut (»Les quatre cents coups«). Best Bit: Cyrils Konfrontation mit Martin.

»Chronicle« (Josh Trank) Superhelden-Origin-Stories haben wir schon gesehen, Found-Footage-Filme ebenfalls und Adoleszenzdramen auch. Regiedebütant Josh Trank kombiniert das alles, und heraus kommt ein Film, der erstaunlicherweise überzeugt. Das liegt vielleicht daran, dass die Charaktere keine Abziehbilder, sondern durchaus glaubhaft gezeichnete Teenager sind, die mit ihren neu erworbenen telekinetischen Kräften so umgehen, wie es Teenager wahrscheinlich machen würden. Die Geschichte entwickelt sich von den Figuren her und wird im zweiten Teil angenehm düster und dramatisch, eine Art »Carrie« für die Neuzeit. Auch schafft es der Film, dass wir, die wir eigentlich schon total spezialeffekt-übersättigt sind, von den in Camcorder- und Überwachungskamera-Optik dargebotenen visuellen Schmankerln irgendwie beeindruckt sind. Best Bit: Die Szene im Krankenhaus.

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Blindgänger

»To Rome with Love« (Woody Allen) Jeder neue Woody-Allen-Film wird in der Masse aller Woody-Allen-Filme wahrscheinlich irgendwann untergehen, aber nach »Midnight in Paris« erwartete man irgendwie mehr als Mittelmaß. Die durcheinander erzählten Stories wachsen nicht zu einem Film zusammen, das Timing ist nicht berühmt, gute Gags sind Glückssache – wiewohl ein paar Ideen durchaus lustig sind, wie der duschende Opernsänger. Aber die als Liebeserklärung verkauften Bella-Italia-Versatzstücke kann man nur als abgedroschen bezeichnen. Übrig bleiben ein paar leichte Vignetten, fleckenweise amüsant, aber weder für Rom- noch für Allen-Fans wirklich von Belang.

»Battleship« (Peter Berg) Durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle ist dieses Testprogramm für HD-Glotzen und Surround-Anlagen ins Kino gelangt. Zugegeben, die Effekte sehen toll aus. Aber drumrum gibt’s keinen Film, allenfalls Rudimente, und die hat man alle schon mal gesehen. Fesche Kadetten und dralle Blondinen kämpfen zusammen mit versehrten Veteranen und hornbebrillten Nerds gegen furchtbar fiese ETs. Dabei geht alles kaputt, und nebenbei läuft Rock’n’Roll aus Papas Plattenschrank.

»Twixt« (Francis Ford Coppola) Der Film flimmerte Gott sei Dank nur kurz über eine Münchner Festival-Leinwand und verschwand dann im Videoregal. Man möchte dem Schöpfer dieses peinlichen Filmunfalls zurufen: »Wer sind Sie, und was haben Sie mit Herrn Coppola gemacht!« Es ist dies ein Film, der nicht einmal als Einschlafhilfe taugt; langweilig ist er zwar schon, aber eben auch so hohl und amateurhaft, dass es einen regelrecht ärgert. Die stimmungsvoll ausstaffierten Szenerien werden von der billigen Videooptik mühelos ruiniert, die sonst respektable Schauspielerriege scheint verloren in einem Knäuel von losen Enden, ironiefrei verbauten Klischees und deplatzierter Komik. Dem Vernehmen nach basiert diese Möchtegern-Mystery auf einem Traum Coppolas – und ergibt konsequenterweise so wenig Sinn wie die meisten Träume. »Twixt« wurde von den Kritikern der »Cahiers du cinéma« in die 2012er Top Ten gewählt. Niemand weiß, warum.

»J. Edgar« (Clint Eastwood) Gut, für eine erkleckliche Anzahl von Filmen, in denen alles stimmt, darf man sich mal einen erlauben, in dem kaum etwas stimmt. Leonardo DiCaprios Schauspiel mag noch überzeugen, aber das Drehbuch wabert willenlos zwischen den Zeiten umher und weiß nicht genau, was es erzählen will – neben einem dramaturgischen Fokus verliert der Film Emotion und Spannung. Ausstattung und Kostüme sind super, allerdings schwächelt der Lichtmann und versagt die Kamera darin, das Ganze adäquat festzuhalten. Und jeder Maskenbildner weiß, dass man einem Schauspieler nur mit großer Mühe mehr als 20 Jahre auf- oder abschminken kann. Mit den Altersmasken aus diesem Film kann man vielleicht eine Bank überfallen oder in der Geisterbahn arbeiten, gutes Kino sieht anders aus.

»Dark Shadows« (Tim Burton) Irgendwann ist auch mal gut. Die achte Zusammenarbeit von Tim Burton und Johnny Depp ist das schon, vielleicht verlassen sich die beiden zu sehr auf ihre Erfolgsformel. Nach einem starken Start schaltet der Film auf Autopilot. Und der ist kaputt. Er steuert mal in Richtung kitschig-schrottige Gothic-Soap-Opera-Hommage (es gab da mal so eine Serie), mal in Richtung familienfreundlicher Horror, und mal in Richtung schwarze Vampirkomödie. Am lustigsten ist noch, wie Barnabas Alice Cooper erblickt und murmelt: »The ugliest woman I’ve ever seen.«

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[ veröffentlicht am 21. 3. 2013 ]

(Filmstreifen im Logo © Fabian Kerbusch/DIGITAL-CONNECTOR)