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Kaffeehaus des Monats (Teil 86)

sine loco, 23. November 2015, 16:59 | von Mynaral

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Le Napoleon, Paris, ein wie immer absichtsvoll schlechtes Foto, sry

Paris
»Le Napoléon« in der Rue du Faubourg-Saint-Denis.

(Das »Napoléon« hat eigentlich nur zwei entscheidende Vorzüge: Erstens natürlich den mutigen Namen und zweitens – ebenfalls natürlich – die wunderbare Feldherrenhügellage der Terrasse. Von da aus hat man nämlich mit der Rue du Château-d’Eau und ihren dicht an dicht gelegenen afrikanischen Friseursalons und der Rue du Faubourg-Saint-Denis die beiden wichtigsten Achsen des zehnten Arrondissements idealstens im Blick. Und weil mir immer über die französische Unfreundlichkeit geklagt wird: Vor ein paar Tagen bat ein Mann vor dem Café um etwas Kleingeld und wurde von einem der Gäste gleich noch auf einen Espresso am Comptoir eingeladen. Wir sinnierten inzwischen über die hellseherischen Fähigkeiten des Ersten Konsuls, denn immerhin hatte er ja nach der Lektüre der Géographie von Lacroix in eins seiner Jugendhefte die Worte »Sainte-Hélène, petite île« vermerkt. Ob Tageszeitungen im »Napoléon« ausliegen, weiß ich jetzt gar nicht, denn den Innenraum des Cafés habe ich noch nie betreten.)
 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 8):
»Heine. Ein deutsches Märchen« (1977)

Freiburg, 8. Dezember 2013, 08:15 | von Mynaral

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 87)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Mal wieder so einen längeren Essay von Fritz J. Raddatz zu lesen ist spätestens seit der Abrechnung von Hellmuth »Was kostet der Fisch?« Karasek ein lohnenswertes Wagnis. Und wer sich, jetzt wo die Tage wieder trüber geworden sind, auch ab und zu fragt, welche Augenfarbe Heinrich Heine eigentlich hatte, der kommt an Raddatz einfach nicht vorbei. Heine sei »von strahlender Blauäugigkeit und mit stechend schwarzem Semitenblick« (S. 10) gewesen, wird da zusammenzitiert, und seine Todesursache ist ebenso unumstritten: an Syphilis sei er gestorben, wie jeder halbwegs große Stilist eben.

So geht es weiter, so werden hundert Seiten herrlich runtergelabert, wobei – in Zeiten von Online-Praktikanten-Zwischen-Überschriften – die komplette Nichtstrukturierung des Textes besonders angenehm auffällt. Am schönsten ist es natürlich, wenn die Zusammenhänge komplett reißen, Raddatz eine Seite über das großartige Leben des patriarchalisch-sozialistischen Barthélemy Prosper Enfantin referiert oder der Proust’sche Swann von ihm für die Beschreibung des Heine’schen Ehelebens in Beschlag genommen und gute fünfzehn Zeilen später – mit einem »und auch wieder nicht« (S. 30) – schon wieder verworfen wird.

Noch schöner, wenn wir mit ihm kurz vom Sturz Napoleons »in die ferne Gegenwart schweifen« (S. 17), wenn er dann noch die interessante Information unterbringt, dass »ja ein Condom üblicherweise gerade gewisse Gefahren zu verhindern« (S. 26) pflege, und sogar »noch im Archivexemplar einer Dissertation« – in welcher die Benachteiligung der Juden nach den Freiheitskriegen geschildert wird – findet, »wie sich ein Anonymus unserer Tage mit einem Bleistift-Fragezeichen verewigt« hat (S. 17). Usw.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg: Hoffmann und Campe 1977.

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1979. S. 3–135 (= 133 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 79
Thomas Mann: »Tonio Kröger« (1903)

Freiburg, 4. Oktober 2013, 11:26 | von Mynaral

Ja, im Ministerialblatt des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und Sport Nr. 8/2010 unter Aktenzeichen 35-6615.30/973/1 auf S. 320 steht, dass »zum potenziellen Prüfungsstoff« des Grundkurses neben »Jakob der Lügner« und »Die Physiker« eben auch die »Ganzschrift« »Tonio Kröger« von »T. Mann« gehört.

Der mittellanghaarige, fortschrittsgewandte Referendar hatte eben etwas kumpelmäßig – in Abstimmung und kurzem Blickkontakt mit der Lehrerin – die Tonio-Kröger-Wikipedia-Seite in den ersten Minuten der Behandlung des Werks zu einer ausnahmsweise vertrauenswürdigen Quelle erhoben. Dadurch ermutigt erklärte ein nach dem Thema des Buches befragter, pflichtbewusster Mitschüler links hinter mir, es ginge hauptsächlich um den »unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit«.

Ich war überrascht, hatte ich nach gewissenhafter Lektüre der ersten paar Seiten doch eher mit einer sich weiter fortsetzenden homoerotischen Lovestory gerechnet. Deswegen und aufgrund der augenscheinlichen Abneigung der versammelten Klassenzimmer­insassen gegenüber der Erzählung – sie stellten sie wohl alle ebenfalls höchstens auf eine Stufe mit »Grete Minde« – … jedenfalls wurde ich zur weiteren Lektüre angespornt. Und stellte etwas später – hinter mir die mit

dunkeläugig   blauäugig
brünett   blond
träumerisch   sportlich
etc.

beschriebene Kreidetafel – mindestens zwanzig Merkmale vor, die den Novellencharakter der Erzählung beweisen.

Die Dresdner hauts fonctionnaires haben das aus dem Kanon enttäuschend hervorstechende Werk mittlerweile detektiert und (so vermerkt im Ministerialblatt des SMK Nr. 7/2011 unter den Hinweisen zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung und die Ergänzungsprüfungen 2013 an allgemeinbildenden Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs im Freistaat Sachsen, Az. 35-6615.30/1016/1, S. 184) den gänzlich funkzellen­überwachungsunkritischen »Tonio Kröger« mit Juli Zehs »Corpus Delicti« ersetzt.

Länge des Buches: ca. 136.000 Zeichen. – Ausgaben:

Thomas Mann: Tonio Kröger. Berlin: S. Fischer 1913.

Thomas Mann: Tonio Kröger. In: Tonio Kröger / Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1994.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Lieblingsstellen aus dem »Gesellschaftsvertrag«

Konstanz, 28. Juni 2013, 07:35 | von Mynaral

Heute wäre, hehe, Rousseau 301 Jahre alt geworden! Von seiner Abstempelung als Revolutionssündenbock einmal abgesehen genießt er seit geraumer Zeit als Jürgen Dollase der vergleichenden Staatstheorie wieder höchstes Ansehen. So erklärt er im Kapitel »Que toute forme de gouvernement n’est pas propre à tout pays« seines »Contrat social« ausführlich, weshalb man in Italien so viel Gemüse isst:

»Weil es dort gut, nahrhaft und von hervorragendem Geschmack ist. In Frankreich, wo es nur Wasser aufgesogen hat, nährt es gar nicht und gilt bei Tisch fast nichts.«

Und mindestens ebenso logisch bestechend wird festgestellt:

»Wir beobachten selbst in Europa spürbare Unterschiede im Appetit zwischen den Völkern des Nordens und denen des Südens. Ein Spanier wird acht Tage von der Mahlzeit eines Deutschen leben.«

Rousseau also europapolitisch durchaus auf einer Linie mit der ›Alternative für Deutschland‹.

Was natürlich nicht stimmt, denn schließlich sprach sich der »Irre vom Berg« rigoros gegen Parteien und sonstige Teilgesellschaften aus, der Gemeinwille würde ja sonst leiden. Diese ständige Widerrede gegen Parteien, Sklaverei, Monarchie usw. wird auf Dauer natürlich etwas anstrengend und so schließt Rousseau seine Kritik an Grotius und Barbeyrac, die um Ludwig XIII. respektive Georg I. scharwenzelten, auch etwas resigniert:

»(…) aber sie hätten dann leider nur die Wahrheit gesagt und nur dem Volk geschmeichelt. Die Wahrheit führt aber nun einmal nicht zum Glück, und das Volk vergibt weder Botschafterposten noch Lehrstühle noch Pensionen.«

Usw.


100-Seiten-Bücher – Teil 67
Carl Zuckmayer: »Henndorfer Pastorale« (1972)

Konstanz, 11. Mai 2013, 23:38 | von Mynaral

Was haben Frank Schirrmacher und Carl Zuckmayer gemeinsam? Richtig, den ausufernden Gebrauch von Gedankenstrichen. Während sie jedoch Schirrmacher in die Tiefen des Internets und der Finanzindustrie geleiten, folgen wir Zuckmayer nur in das Salzburger Hinterland, nach Henndorf am Wallersee. Es ist irgendwann Anfang der Siebzigerjahre und sehr, sehr heiß, »der heißeste Tag eines heißen Sommers«.

Vom Bürgermeister und anderen Honoratioren empfangen kommen Zuckmayer, seine Frau und eine gelöste Dorfgesellschaft an der Wiesmühl an, dem Wohnhaus, das die Familie 1938 Richtung Exil verlassen musste. Es folgen Spuk, Hochsommergewitter, Festlichkeit, Versöhnung und Erinnerung und damit das obligatorische Namedropping: Reinhardt, Werner Krauß, Jannings, Bruno Walter, Hauptmann, Zweig und Horváth gaben sich hier früher die Klinke in die Hand.

In dieser Zeit half Zuckmayer auch dem in Henndorf geborenen Schriftsteller Johannes Freumbichler dabei, mit seinem Bauernroman »Philomena Ellenhub« bei einem Wiener Verlag unterzukommen. Prompt gewann Freumbichler 1937 den Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreis und kaufte sich vom Preisgeld »einen Winterüberzieher vom Schneidermeister Janka und ein menschenwürdiges Geschirr«, wie sein größter Bewunderer und Enkel später berichtet, der damals allerdings noch sechsjährige Thomas Bernhard.

Während sich in der Wiesmühl die oben genannten berühmten Besucher einfanden, hatte der kleine Thomas noch beseelt mit den beiden Töchtern des Hauses gespielt und bekam »als Höhepunkt, neben allem anderen«, heiße Schokolade mit Schlagobers zu trinken. Eines Tages trat dann der so weißhaarige wie »berühmteste Schriftsteller seiner Zeit« ins Vorhaus und fragte: »Wo kann man denn hier Toilette machen?« Den kleinen Thomas hat das »ungemein beeindruckt«.

Länge des Buches: ca. 104.000 Zeichen. – Ausgaben:

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. Zeichnungen von Clemens Holzmeister. Salzburg: Residenz Verlag 1972. S. 3–119 (= 117 Text­seiten, davon 10 Seiten mit Zeichnungen und 10 Leerseiten).

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. In: Carl Zuckmayer. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer. Band: Die Fastnachtsbeichte. Erzählungen 1938–1972. Frankfurt/M.: S. Fischer 1996. S. 311–362 (= 52 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Johann Holtrop-Lisztomania (Teil 1)

Berlin, 20. September 2012, 23:29 | von Mynaral

Krölpa (S. 11)
Werra (S. 15)
Nörsel (S. 15)
Bad Langensalza (S. 15)
Schönhausen (S. 17)
Gössitz (S. 18)
Tonna (S. 18)
OT Lauchhammer (S. 19)
Speyer (S. 23)
Stranow (S. 32)
Gamma (S. 33)
Torze (S. 33)
Hettlich (S. 33)
Ursel (S. 33)
Horre (S. 33)
Orla (S. 33)
Weste (S. 33)
Leipzig (S. 40)
Berlin (S. 41)
Hamm (S. 50)
Gera (S. 62)
Erfurt (S. 62)
Halle (S. 62)
Suhl (S. 62)
Rostock (S. 67)
Krampe (S. 87)
OT Bad Hönow (S. 90)
Karinhall (S. 90)
Frankfurt (S. 103)
New York (S. 103)
Shanghai (S. 103)
Hongkong (S. 103)
Bonn (S. 154)
München (S. 155)
Stuttgart (S. 158)
Unterhaching (S. 159)
Dresden (S. 162)
Köln (S. 166)
Hannover (S. 166)
Wiefelspütz (S. 170)
Wermelskirchen (S. 170)
Peking (S. 177)
Redecke (S. 181)
Bokel (S. 181)
Dortmund (S. 196)
Gstaad (S. 205)
Karlsruhe (S. 211)
Hamburg (S. 212)
Oldenburg (S. 213)
Prieche (S. 224)
Taubach (S. 224)
Düsseldorf (S. 224)
Paderborn (S. 224)
Hanau (S. 224)
Kassel (S. 250)
Grassassens (S. 252)
Überlingen (S. 252)
Kleinwalsersdorf (S. 252)
Jensfurt (S. 252)
Warstein (S. 252)
Wartenstein (S. 252)
Wien (S. 263)
Reudnitz (S. 273)
London (S. 314)
Festenbergskreuth (S. 318)
Hornum (S. 326)
Monaco (S. 326)
Nizza (S. 326)
Cannes (S. 326)
St. Tropez (S. 326)
La Rouillère (S. 326)
Bagary (S. 327)
Schwechat (S. 334)
Unterschleißheim (S. 335)
Heiligendamm (S. 336)
Hinterniedertrachtingen (S. 339)

 


Kaffeehaus des Monats (Teil 70)

sine loco, 26. Juli 2012, 08:38 | von Mynaral

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Gilmore's Café-Bar, verwackeltes Touri-Foto (wie immer)

Berlin-Wedding
Gilmore’s Café-Bar in der Müllerstraße.

(»Come in and chill out …« grüßt das »Gilmore’s« den Besucher. Innen erwarten mit bunter Kreide beschriebene Wandtafeln und durchschnittlich zwölf Kerzen jeglicher Couleur in einem Umkreis von zwei Metern. Draußen, am Klapptisch mit roter Laterne: Lindenblüte, herabsinkende airberlin-Flüge in der Ferne und rechter Hand die schon in Rainald Goetz‘ »Abfall für Alle« erwähnte DAUERKOLONIE TOGO E. V. Die Tageszeitungs­auslage ist auf die Berliner Zeitung beschränkt und die Inhaberin ist laut Qype »manchmal etwas mürrisch«, was aber nicht stimmt.)