Wir saßen oben in der Kantine vom Deutschlandradio Kultur am Hans-Rosenthal-Platz, es gab einmal Pommes Weltkrieg für alle (Ketchup, Mayo, Senf) und Göttke sagte, dass ihr schlecht werde vom SZ lesen. Also jetzt nicht schlecht wegen der Inhalte oder Schreibe, sondern wegen der kleinen Schrift und dem geringen Durchschuss, das ergebe so Moiré-Effekte beim Draufkucken und davon werde ihr eben schlecht und deshalb lese sie wieder mehr FAZ im Besonderen und die FAS im Speziellen.
Diese Einzelmeinung ließen wir alle nicht unkommentiert und sprachen dann doch auch weiter über die SZ und da jetzt auch über Nico Fried, denn der schreibt doch super Sachen in letzter Zeit und wahrscheinlich auch schon davor, und Montúfar meinte, er wolle bald einen schwärmerischen Aufsatz über Nico Fried verfassen, und darauf müssen wir nun eben warten.
Eigentlich wollte ich aber etwas anderes erzählen. Nämlich ich war am Wochenende auf eine Hochzeit in Weimar eingeladen, Weimar-Blankenese sozusagen, und in der Zubringerregionalbahn hatte nun wiederum ich mal wieder zwei Stunden Zeit, das FAS-Feuilleton als integralen Gesamttext komplett zu textminen. Wobei ich in dieser Bahn aus Platzgründen neben einer stark tätowierten Internetbloggerin sitzen musste, die auf ihrem 18"-Laptop Blogeinträge las, die sie für den Offlinegebrauch gespeichert hatte und nun einzeln in den Firefox reinlud. Die nicht geladenen Grafiken und JavaScripte erzeugten diese typischen Fehlerartefakte, bei deren Anblick man sofort erschrickt, weil man denkt, dass plötzlich das Internet wieder abgeschafft wurde, und ich musste aber auch aus beruflichen Gründen ständig wieder heimlich auf ihren Screen lugen und versuchte dabei, ihre verschiedenen Special Interests zu erraten.
Nach einer Weile schlug ich dann doch lieber vorsichtig die FAS auf. Das ging trotz der Kleinraumbüroatmosphäre ganz gut und dann ging es auch für mich los. Und passenderweise wurden Josik und ich gerade für diese Woche in die Berliner Mittelstraße eingeladen, um bei der FAS Blattkritik zu üben, also umkreiste ich auch Stellen mit einem Stift, den mir die Internetbloggerin dankenswerterweise auslieh. Inzwischen schaute sie auch rüber zu mir und freute sich so über die Bilder in der FAS, dass ich ihr am Ende die Zeitung einfach komplett und inklusive meiner weiträumigen Anstreichungen da ließ. Die maßgeblichen Stellen hatten sich sowieso in mein Hirn gebrannt.
Tigersprung von 99423 Weimar nach 10117 Berlin und in die Mittelstraße 2–4. Am Fahrstuhl, mit dem man dort nach oben und später wieder nach unten fährt, erwartete uns Volker Weidermann. Und das ist das Schöne, dass man gleich zum Beispiel begeistert über die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Rudolf und Marie Luise Borchardt reden kann. Dies ist ein guter Ort, dachte ich sofort, im selben Tonfall dachte ich das, wie Joachim Gauck einmal sagte: »Dies ist ein gutes Deutschland.«
Und so ging es weiter, zumindest am Anfang der Redaktionssitzung. Claudius Seidl äußerte sich angenehm aufgebracht zur angeblich letzten Raddatz-Kolumne in der »Literarischen Welt« und verriet uns dann noch die geheimen Entstehungsbedingungen der »Suada« (vgl. »Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.«), die natürlich wieder in der aufkommenden Buchmessenbeilage erscheinen wird. Dann lachten wir mit Cord Riechelmann über eine Stelle aus der Wochenzeitung »der Freitag«, über die wir bald noch Näheres berichten werden. Und dann wurden wir gebeten, Blattkritik zu üben, und da Claudius Seidl ein Exemplar des aktuellen Feuilletons via Volker Weidermann und Harald Staun zu mir spielte, war ich nun dran, und das klang ungefähr so:
Okay, der Opener, Helene Hegemann über »Romeo & Julia« am Hamburger Thalia Theater mit der boah-ey-Überschrift: »Warum haut mich dieser Abend so um?« Als Nächstes schreibt die Hegemannfrau wahrscheinlich für heftig.co, aber das soll gar nicht kritisch gemeint sein, denn das liest sich trotzdem schön weg, und wenn die Textstelle kommt »Fortsetzung auf Seite 42«, dann liest man sofort am angegebenen Ort weiter!
Auf Feuilletonseite 2 hier dann also Harald Stauns Interview mit diesen vier ost-west-südlichen Schriftstellern: mit Junot Díaz, Pankaj Mishra, Priya Basil und Dinaw Mengestu, von denen Ersterer den längsten Wikipedia-Artikel hat. Es geht in dem Zehn-Augen-Gespräch ja um den Westen, meinen und deinen Westen, um den problematischen Ruf dieser kapitalistischen Himmelsrichtung, na ja, aber super.
Dann nächste Seite Andreas Kilb über Christian Petzolds »Phoenix«, super. Und Volker Weidermann über Botho Strauß‘ neuen Hundertseiter »Herkunft«, in dem es so offen um dessen Vater zu gehen scheint, dass man sich wie ein »Leser-Stalker« vorkomme, super. Und Antonia Baum über Celo & Abdi, ähnlich angelegt wie neulich Olli Schulz‘ Besuch bei Haftbefehl, aber in der poetischen Ausführung viel besser als Schulz.
(Antonia Baum hat auch mal eine Reportage gemacht: »Der Kampf gegen Paco«, deswegen wollte ich mit meinem Lob vorsichtig sein, konnte dann aber nicht mehr an mich halten.)
Weiter, Boris Pofallas Bericht von der Berlin Art Week, genau so muss so was klingen, das konkrete Ungefähre so eines Rundgangs summt an jeder Stelle aus dem Text, super. Und ich hab dann sogar die Anzeigen-Sonderveröffentlichung mitgelesen, wo hier ein Interview drin ist über Selfpublishing, mit Wolfgang Tischer, den ich noch von ganz früher kenne, Neunziger, Mailingliste Netzliteratur. Oh, hab ich da gedacht, aha. Dann hier Julia Enckes Interview mit Ulrich Raulff über die Siebziger, und alles, was Raulff da so gesagt hat, hat sich aufs Schönste mit all dem vermischt, was ich während der letzten 15 oder so Jahre noch so alles von Raulff gelesen und gehört habe.
Dann Cord Riechelmanns Text über die jüngsten Bewegtbilder von Michel Houellebecq, wo ja der schöne Satz drinsteht: »In Frankreich hat man einfach mehr Erfahrungen im Umgang mit den derangierten Körpern von Intellektuellen.«
(Und ich erwähnte noch das Tom-Schilling-Interview von Julia Schaaf, das aber im Ressort »Leben« stattgefunden hat. Jedenfalls lässt dort der bekannte Schauspieler seinem Hass auf Comics jeglicher Art freien Lauf, was auch sofort eine DPA-Meldung nach sich zog, super.)
Und jedenfalls lobten und affirmierten wir, wie es der Grundsatz des Umblätterers immer gewesen ist, und dann waren wir fertig und alle konsterniert. Das war wahrscheinlich keine Blattkritik, sondern eine Blattaffirmation.
Und wo Danilo Scholz neulich in Sachen FAS schrieb: »Der Sommer ist vorbei, das tut dem Feuilleton gut«, da müssen wir natürlich widersprechen, denn wie der Umblätterer ja seit Jahren nachweist, ist das deutschsprachige Feuilleton immer genau gleich gut. Aber das half jetzt hier niemandem weiter, und die Ödön-von-Horváth’sche Stille, die da eintrat, wurde dankenswerterweise irgendwann durchbrochen, als Johanna Adorján souverän das Thema wechselte und Josik fragte, ob er aus dem Kosovo stammt (was ich selbst seit langem vermute).
Und da wir anlässlich der Fernsehprogrammseite nach Stefan Niggemeier gefragt hatten, wurde uns noch angeboten, ihm etwas auszurichten, was wir aber sofort und unmissverständlich ablehnten. »Richten Sie bitte Stefan Niggemeier nichts aus!« Das sollte wie die Sympathiebekundung klingen, als die sie gemeint war, denn wieso sollte man jemanden, den man so gut findet, mit ausgerichteten Nachrichten nerven wollen. Es kam aber möglicherweise sehr falsch rüber.
Also, um das alles mal zusammenzufassen: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zu einer FAS-Redaktionssitzung eingeladen werden.