Archiv des Themenkreises ›FAS‹


Oh, wow

Frankfurt/M., 20. Dezember 2018, 17:57 | von Charlemagne

Joan Didion, diese großartige, unendlich kühle und mittlerweile etwas überstrapazierte amerikanische Autorin, hat uns vor fast 40 Jahren gezeigt, wie man mit wundersamen Zuschriften umgeht, und eigentlich sollte man ihre Antwort als zusätzliche Unterschrift unter das Logo unseres Maulwurfbaus setzen, also

Der Umblätterer
* In der Halbwelt des Feuilletons *
Oh, wow.

Denn genau dieses anerkennende, abwägende, leicht resignierte und letztendlich spottend gönnerhafte, nach Harald Schmidt klingende »oh, wow« schießt mir seit ein paar Jahren beständig durch den Kopf, wenn ich versuche, das zu lesen und zu feiern, was früher das überlebenswichtige und unnachahmliche deutsche Feuilleton war und mich heute nur noch langweilt.

Nach dem Abitur, während andere mit dem Rucksack durch Australien reisen mussten, um sich einen Traum zu erfüllen, habe ich mir als Belohnung für die Zeit bis zum Studienbeginn die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung bestellt, um tagein tagaus auf dem Balkon brütend deren Feuilletons ritualisiert durchzupflügen.

Zur Abkühlung zwischendurch gab es Rainald Goetz’ KLAGE auf der Homepage der deutschen Ausgabe der Vanity Fair, Arne Willander im Rolling Stone und sonntags mein Lieblingsfeuilleton in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bisschen wie beim Fußball kann ich noch heute die Aufstellung meiner damaligen Lieblingsmannschaft runterbeten, häufig habe ich überhaupt erst geschaut, wer über welches Thema schreibt und war schon enttäuscht, wenn es keine neuen Texte von Johanna Adorján, Claudius Seidl, Niklas Maak oder wenigstens Gastbeiträge von Hans Ulrich Gumbrecht oder Christian Kracht im Reiseblatt gab. Am schlimmsten waren die Sonntage, an denen Frank Schirrmacher die erste Seite bespielte, das waren leider häufig zähe Angelegenheiten, da half dann fast gar nichts mehr.

Dann ging’s für mich zum Studium, Zeitung las ich nur noch sonntags, donnerstags gab’s Stuckrad Late Night, Rainald Goetz tauchte erst auf, dann ab, und seit kurzem ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes – YEAH, we’ve stopped living this way.

Und heute? Die Lieblingsautoren leben zum Glück (fast) alle noch, doch die Magie, das Unmittelbare des Feuilletons ist verschwunden. Ab und zu blitzt sie noch mal auf, wenn zum Beispiel Danilo Scholz dieser Zeit in der taz hinterherschreibt oder Max Scharnigg etwas Platz gegeben wird. Doch größtenteils schreiben die Leute (schon wieder? immer noch?) über Ernst Jünger, führen seltsame Interviews oder Ein-Themen-Experten, schreiben irgendwas Blitzgescheites über China und ich sehe die Überschriften, sehe die Autorennamen, die meist öde Bildersprache und denke, ja, superschlau, gelehrt und gelernt, und der eigentliche Text erst, – oh, wow.
 


Die Interviewkrise

Moskau, 29. Juni 2016, 12:09 | von Paco

Gerade finden viele missglückte Interviews statt. Ein paar Beispiele. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung seines Sammelbandes »Distant Reading« hat »Spiegel Online« ein Interview mit Franco Moretti geführt. Der Satz mit dem »aktuellsten heißen Scheiß« klingt wie Bento meets VICE gone awry. Auch inhaltlich ist es etwas dürftig, wenn nämlich Andreas »Fahrstuhl« Bernard den Band in der FAS als »das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist«, zelebriert und im SPON-Interview der technische Stand von vor tausend Jahren abgefeiert wird. Dazu Arne: »Aha. Franco Moretti macht also Named Entity Recognition, Sentiment Analysis und CSV-Dateien mit Locationdata«.

Weiteres Beispiel. Gerade hat im Palais de Tokyo eine Ausstellung mit Fotos von Houellebecq eröffnet. Und der Dichterfotograf erklärt im »Spiegel«-Interview seine Bilder (Ausg. 25/2016, S. 122–127). Das tut richtig dolle weh. Zum Eröffnungsbild der Ausstellung, das »einen dunklen Wolkenhimmel über der Stadt« zeigt, sagt Höllebeck: »Der Himmel hängt voller Versprechen und Gefahren.« Díos mío, Houellebecq ist als Mehrfachbegabung noch peinlicher als James Franco, hugh! (An dieser Stelle noch mal der Hinweis auf das ultimative James-Franco-Debunking im »stern«. Katharina Link, übernehmen Sie!)

Kleine Interviewkrise also. Dazu passt auch der von Olli Schulz in »Fest & Flauschig« 6 vorgebrachte Interviewhass, Zitat (nach ca. 1:01h): »Ich les mir keine Kackinterviews durch, wo [jemand] mal ne witzige Antwort auf ne uninspirierte Frage gibt, weil Interviews sind scheißelangweilig, […]. Meinst du, ich les mir noch ein Benjamin-von-Stuckrad-Barre- oder ein Ronja-von-Rönne-[Interview durch]!«

Daher jetzt Interviewpause, mindestens eine Woche. In der Zwischenzeit als Ersatzleistung: imaginäre Interviews! Jochen Schmidt schrieb vor fast genau zehn Jahren in der »taz«: »Eine Nobelpreisrede von Beckett wäre schlicht undenkbar, genau wie ein Spiegel-Gespräch mit Kafka.« Und das stelle ich mir jetzt vor. Volker Weidermann interviewt den großen Prager Obersekretär im nächsten »Spiegel«: »Herr Kafka, in Ihrem letzten Romanfragment behandeln Sie die Unerreichbarkeit eines Gebäudes, in diesem Fall eines Schlosses.« – Kafka: »Na ja.« Usw. usw.
 


Ende der Berichterstattung

Berlin, 16. März 2015, 00:46 | von Josik

Man läuft einfach von zuhause aus zum Funkhaus von Deutschlandradio Kultur und landet dann beim Gespräch mit Matthias Dell nach ungefähr drei Sätzen irgendwie gleich bei Helmut Böttiger. Der hat nämlich vor ein paar Tagen ein herrliches Zitat von damals rausgehauen, aus den Siebzigern oder so, als die Feuilletonchefs sich auch von ihren Chefredakteuren nicht haben hineinreden lassen: »Da gab es auch die Parole ›Redigieren ist Faschismus‹.« Die riesigen Lettern dieser Parole sind inzwischen aber offenbar wieder von den Wänden der meisten Feuilletonredaktionen abgenommen worden.

Danach haben wir noch ein paar Namen gedroppt, die im strengen Sinn eigentlich nichts miteinander zu tun haben, z. B. Christian Wulff und Ulrich Matthes (oder Bernd Matthies), weiß der Himmel, wie wir auf die nun wieder gekommen sind. Und dann kam auch schon Christine Watty um die Ecke gebogen, es ging treppab treppauf durch irgendwelche Labyrinthe bis ins Studio Nummer soundsoviel. Und um es kurz zu machen: Unser Gespräch über Raddatz kann man noch mal als mp3 nachhören, außerdem stand am 1. März unser FJR-Nachruf in der FAS, und hier sind noch mal unsere groooßen FJR-Festwochen. Und damit beendet der Umblätterer nun also seine langwierige Raddatz-Berichterstattung, herzlichen Dank.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2014

Göttingen, 13. Januar 2015, 07:33 | von Paco

Guten Morgen! Heute verleihen wir ihn also zum *zehnten* Mal seit 2005. Den Goldenen Maulwurf, für den Feuilletonjahrgang 2014:

Der Goldene Maulwurf

Es war wieder die beste Stimmung in der Jury. Und es war so spannend wie das dritte Springen der Vierschanzentournee neulich am Bergisel! Und es war knapp, ganz knapp. Fast so wie im Januar 2011, als wir wegen eines Jury-Patts den Gewinner auskickern mussten (wer sich erinnert: damals gewann Team ›Christopher Schmidt‹ 10:7 gegen Team ›Mathieu von Rohr‹, Revanche steht noch aus).

Und nun geht unser Blick also am Bergisel vorbei und weiter Richtung Wien, zur »Wiener Zeitung« und zum diesjährigen Gewinner des Maulwurfgolds, zum Feuilletonisten und Komponisten Edwin Baumgartner! Wie einmalig das ist, was er schreibt, wie viel Fun seine ganze Schreibe verbreitet, das steht in der Laudatio, bitte dort nachlesen. Aber was soll da so knapp gewesen sein? Na, Thea Dorn auf Platz 2 hat wieder so ein Feuilleton geschrieben, bei dem die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit mitgeschwommen kommt. Ein Wahnsinn sondergleichen, immer noch genau der Wahnsinn, für dessen Lobpreisung wir hier vor roughly 10 Jahren mal angetreten sind.

Aber nun. Hier folgen die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2014:

1. Edwin Baumgartner (Wiener Zeitung)
2. Thea Dorn (Handelsblatt)
3. Frédéric Schwilden (Welt)
4. Jan Wiele (FAZ)
5. Sabine Vogel (FR)
6. Eberhard Rathgeb (FAS)
7. Nicole Zepter (Zeit)
8. Renate Meinhof (SZ)
9. Alexander Wallasch (The European)
10. Uwe Wittstock (Focus)

Auf der Seite mit den Jurytexten sind zu allen Texten wieder die Seitenzahlen angegeben, denn im Zweifelsfall galt bei unseren Diskussionen die Print-Ausgabe, soweit vorhanden. Print, jawohl.

So. Das war er nun, der 10. und letzte Goldene Maulwurf. 10 Jahre waren wir unterwegs in der Halbwelt des Feuilletons, 10×10 Texte haben wir gekürt, das ist dann der Goldstandard für die nächste Dekade. Und die kommt ja, die läuft ja, und läuft gut.

Das deutschsprachige Feuilleton war, ist und bleibt das beste der Welt. Quod erat demonstrandum, Leute!

Adios,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Vossianischer Showdown

Buenos Aires, 22. Dezember 2014, 13:09 | von Paco

Opening ticket: Introducing the word ›Vossantoblase‹ to the German language, among other things.

Der neue Fischer/Wälzholz ist da, und zwar ist gestern in der FAS unser Artikel zu Wohl und Wehe der Vossianischen Antonomasie erschienen. Das hier ist er:

Artikel über Vossianische Antonomasien in der FAS vom 21.12.2014 (Thumbnail)

(Nicht oder noch nicht frei online. Aber hier.)

In den letzten 5,5 Jahren haben wir genug Anschauungsmaterial für den Artikel gesammelt, die dazugehörige Serie wurde nach 94 Teilen neulich eingestellt. Da man heute ja im Idealfall sein Datenmaterial in strukturierter Form mitveröffentlicht, halten wir in unserem Datenzentrum eine chronologisch sortierte Liste für die Jahre 2009–2014 vorrätig.

Wort 'Vossanteblase' im Artikel über Vossianische Antonomasien in der FAS vom 21.12.2014 (Thumbnail)

Ticket: closed.
 


Feuilletonpressegespräch

Göttingen, 14. Oktober 2014, 15:10 | von Paco

Wie schon Harald Staun in der FAS vom 29. Juni 2014, S. 40, schrieb: »Das Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur, das nach seiner Programmreform seit Montag nicht mehr zu hören ist, muss mit sofortiger Wirkung wieder eingeführt werden. Sonst.«

Ja, sonst. Das gilt insbesondere für das »Feuilletonpressegespräch«, das bis inklusive 19. Juni 2014 immer nach den 10-Uhr-Nachrichten lief, also um ca. 10:07 Uhr. Doch von nun an: Kein vor Feuilletonlust schnaufender und schmatzender Jens Jessen mehr! Kein gestochen scharf kommentierender Andreas Platthaus mehr! Kein Peter Korfmacher mehr mit Neuem und Altem aus Leipziger Oper und Gewandhaus! Kein Adrian Prechtel mehr mit seinem »Servus aus München« für die gute Laune! Letzter Gesprächspartner war an besagtem 19. Juni vor knapp vier Monaten Andreas Fanizadeh von der taz.

In diesen speziellen morgendlichen Telefongesprächen ging es immer um das Feuilleton als Gesamtzusammenhang. Die »Zeit«, die FAZ, die »Süddeutsche«, die »Welt«, der »Spiegel«, der »Tagesspiegel«, die LVZ, die taz, die Münchner »Abendzeitung«. Ab und zu Luxusformate wie »Sinn und Form« oder »Das Gedicht«. Kurz den Aufmacher durchsprechen, dann ein bisschen umblättern und noch ein, zwei weitere Artikel anreißen.

Dieser Gesamtzusammenhang, das Feuilleton als breite Gegenwart, als täglich neu verfasster Großroman, bildet sich in der gedruckten Zeitung aber nicht mehr unbedingt ab, die rasante technologie­getriebene Diversifizierung lässt sich thematisch, stilistisch und personell einfach nicht mehr komplett auffangen und abbilden. Das hat jetzt nichts mit der Programmreform beim Deutschlandradio zu tun.

Da ist es auch lächerlich, einen der wirklich erbosten verwunderten Hörer besänftigen zu wollen mit so einer Antwort: »Das Feuilletonpressegespräch wird es weiter geben – künftig in der Sendung ›Kompressor‹ (montags bis freitags von 14.00 bis 15.00 Uhr), allerdings nicht mehr täglich, sondern 2–3mal pro Woche in der Rubrik ›Das Lesen der Anderen‹.«

Nun, 14 bis 15 Uhr ist wirklich keine Zeitungszeit. Vom schrecklichen Titel des Schrumpfformats ganz zu schweigen. Dagegen ›Feuilletonpressegespräch‹, so ein grauslig-schönes doppelfranzösisch-deutsches Kompositum!
 


Ostertag crosst GÖttke

Berlin, 7. Oktober 2014, 18:07 | von Göttke

Als ich letztens durch die Straßen ging, sah ich ein astreines GÖttke-Bombing an einer der zahllosen Berliner Hauswände. Selbst wenn es nicht GÖttke meinte, sah es doch, jedenfalls für mich, schwer danach aus. Ich hatte gleich ein beschwingtes Gefühl, ganz so wie der Schriftsteller HIPOLITO in »Le fabuleux destin d’Amélie Poulain«, als er nahezu am Ende des Films an einer Hauswand seine Worte liest: »Sans toi, les émotions d’aujourd’hui ne seraient que la peau morte des émotions d’autrefois.«

Endlich hat man mich erkannt, dachte ich, endlich. Und dachte weiter: GÖttke, GÖttke! Nur vier Umblätterer-Artikel und schon an der Hauswand. Sofort erzählte ich es meiner ganzen Familie und die ist groß, was auch sonst. Sogar Josik rief ich an und die Verbindung war nicht so gut (Kosovo).

Doch dann wurde ich traurig. Mir fiel auf, dass viel zu wenig Menschen die GÖttkeraner Verbindung zwischen Berliner Hauswand und Umblätterer-Homepage ziehen würden, trotz diverser offensichtlicher Überschneidungen. Doch noch mehr verstörte mich die Ungewissheit: Wer steckt hinter GÖttke? Monatelang strich ich durch die Straßen, doch es kamen keine neuen GÖttkes dazu. Ich lief sogar, wie ich es aus Büchern gelernt hatte, um dreiviertel zehn gegen die GÖttke-Wand, doch nichts passierte.

Als dann auch noch Deutschlandradio Kultur den Hamburger S-Bahn-Tod von OZ verlas, verlor ich endgültig die Lust an der Hauswand, nahm mutlos eine nicht aktuelle FAS zur Hand und blieb an der Überschrift »Ich bin der Troll« mitsamt der Fotografie von und dem dazugehörigen Artikel über Uwe Ostertag hängen. Ich dachte: Toll, endlich ein Gesicht.

Dass Ostertag nicht grade das war, was man einen Menschenfreund nennt, verschreckte mich kaum und so fasste ich den Entschluss, meine beiden Lieblingssätze aus diesem Interview über das GÖttke sprühen zu lassen: »Provozieren, das ist wie ein Orgasmus. (…) Wenn sich jetzt jemand aufregt, dann ist das mein Ejakulat.« So.
 


Zur FAS vom 21. September 2014:
Besuch in der Redaktion!

Berlin, 26. September 2014, 19:07 | von Paco

Wir saßen oben in der Kantine vom Deutschlandradio Kultur am Hans-Rosenthal-Platz, es gab einmal Pommes Weltkrieg für alle (Ketchup, Mayo, Senf) und Göttke sagte, dass ihr schlecht werde vom SZ lesen. Also jetzt nicht schlecht wegen der Inhalte oder Schreibe, sondern wegen der kleinen Schrift und dem geringen Durchschuss, das ergebe so Moiré-Effekte beim Draufkucken und davon werde ihr eben schlecht und deshalb lese sie wieder mehr FAZ im Besonderen und die FAS im Speziellen.

Diese Einzelmeinung ließen wir alle nicht unkommentiert und sprachen dann doch auch weiter über die SZ und da jetzt auch über Nico Fried, denn der schreibt doch super Sachen in letzter Zeit und wahrscheinlich auch schon davor, und Montúfar meinte, er wolle bald einen schwärmerischen Aufsatz über Nico Fried verfassen, und darauf müssen wir nun eben warten.

Eigentlich wollte ich aber etwas anderes erzählen. Nämlich ich war am Wochenende auf eine Hochzeit in Weimar eingeladen, Weimar-Blankenese sozusagen, und in der Zubringerregionalbahn hatte nun wiederum ich mal wieder zwei Stunden Zeit, das FAS-Feuilleton als integralen Gesamttext komplett zu textminen. Wobei ich in dieser Bahn aus Platzgründen neben einer stark tätowierten Internetbloggerin sitzen musste, die auf ihrem 18"-Laptop Blogeinträge las, die sie für den Offlinegebrauch gespeichert hatte und nun einzeln in den Firefox reinlud. Die nicht geladenen Grafiken und JavaScripte erzeugten diese typischen Fehlerartefakte, bei deren Anblick man sofort erschrickt, weil man denkt, dass plötzlich das Internet wieder abgeschafft wurde, und ich musste aber auch aus beruflichen Gründen ständig wieder heimlich auf ihren Screen lugen und versuchte dabei, ihre verschiedenen Special Interests zu erraten.

Nach einer Weile schlug ich dann doch lieber vorsichtig die FAS auf. Das ging trotz der Kleinraumbüroatmosphäre ganz gut und dann ging es auch für mich los. Und passenderweise wurden Josik und ich gerade für diese Woche in die Berliner Mittelstraße eingeladen, um bei der FAS Blattkritik zu üben, also umkreiste ich auch Stellen mit einem Stift, den mir die Internetbloggerin dankenswerterweise auslieh. Inzwischen schaute sie auch rüber zu mir und freute sich so über die Bilder in der FAS, dass ich ihr am Ende die Zeitung einfach komplett und inklusive meiner weiträumigen Anstreichungen da ließ. Die maßgeblichen Stellen hatten sich sowieso in mein Hirn gebrannt.

Tigersprung von 99423 Weimar nach 10117 Berlin und in die Mittelstraße 2–4. Am Fahrstuhl, mit dem man dort nach oben und später wieder nach unten fährt, erwartete uns Volker Weidermann. Und das ist das Schöne, dass man gleich zum Beispiel begeistert über die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Rudolf und Marie Luise Borchardt reden kann. Dies ist ein guter Ort, dachte ich sofort, im selben Tonfall dachte ich das, wie Joachim Gauck einmal sagte: »Dies ist ein gutes Deutschland.«

Und so ging es weiter, zumindest am Anfang der Redaktionssitzung. Claudius Seidl äußerte sich angenehm aufgebracht zur angeblich letzten Raddatz-Kolumne in der »Literarischen Welt« und verriet uns dann noch die geheimen Entstehungsbedingungen der »Suada« (vgl. »Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.«), die natürlich wieder in der aufkommenden Buchmessenbeilage erscheinen wird. Dann lachten wir mit Cord Riechelmann über eine Stelle aus der Wochenzeitung »der Freitag«, über die wir bald noch Näheres berichten werden. Und dann wurden wir gebeten, Blattkritik zu üben, und da Claudius Seidl ein Exemplar des aktuellen Feuilletons via Volker Weidermann und Harald Staun zu mir spielte, war ich nun dran, und das klang ungefähr so:

Okay, der Opener, Helene Hegemann über »Romeo & Julia« am Hamburger Thalia Theater mit der boah-ey-Überschrift: »Warum haut mich dieser Abend so um?« Als Nächstes schreibt die Hegemannfrau wahrscheinlich für heftig.co, aber das soll gar nicht kritisch gemeint sein, denn das liest sich trotzdem schön weg, und wenn die Textstelle kommt »Fortsetzung auf Seite 42«, dann liest man sofort am angegebenen Ort weiter!

Auf Feuilletonseite 2 hier dann also Harald Stauns Interview mit diesen vier ost-west-südlichen Schriftstellern: mit Junot Díaz, Pankaj Mishra, Priya Basil und Dinaw Mengestu, von denen Ersterer den längsten Wikipedia-Artikel hat. Es geht in dem Zehn-Augen-Gespräch ja um den Westen, meinen und deinen Westen, um den problematischen Ruf dieser kapitalistischen Himmelsrichtung, na ja, aber super.

Dann nächste Seite Andreas Kilb über Christian Petzolds »Phoenix«, super. Und Volker Weidermann über Botho Strauß‘ neuen Hundertseiter »Herkunft«, in dem es so offen um dessen Vater zu gehen scheint, dass man sich wie ein »Leser-Stalker« vorkomme, super. Und Antonia Baum über Celo & Abdi, ähnlich angelegt wie neulich Olli Schulz‘ Besuch bei Haftbefehl, aber in der poetischen Ausführung viel besser als Schulz.

(Antonia Baum hat auch mal eine Reportage gemacht: »Der Kampf gegen Paco«, deswegen wollte ich mit meinem Lob vorsichtig sein, konnte dann aber nicht mehr an mich halten.)

Weiter, Boris Pofallas Bericht von der Berlin Art Week, genau so muss so was klingen, das konkrete Ungefähre so eines Rundgangs summt an jeder Stelle aus dem Text, super. Und ich hab dann sogar die Anzeigen-Sonderveröffentlichung mitgelesen, wo hier ein Interview drin ist über Selfpublishing, mit Wolfgang Tischer, den ich noch von ganz früher kenne, Neunziger, Mailingliste Netzliteratur. Oh, hab ich da gedacht, aha. Dann hier Julia Enckes Interview mit Ulrich Raulff über die Siebziger, und alles, was Raulff da so gesagt hat, hat sich aufs Schönste mit all dem vermischt, was ich während der letzten 15 oder so Jahre noch so alles von Raulff gelesen und gehört habe.

Dann Cord Riechelmanns Text über die jüngsten Bewegtbilder von Michel Houellebecq, wo ja der schöne Satz drinsteht: »In Frankreich hat man einfach mehr Erfahrungen im Umgang mit den derangierten Körpern von Intellektuellen.«

(Und ich erwähnte noch das Tom-Schilling-Interview von Julia Schaaf, das aber im Ressort »Leben« stattgefunden hat. Jedenfalls lässt dort der bekannte Schauspieler seinem Hass auf Comics jeglicher Art freien Lauf, was auch sofort eine DPA-Meldung nach sich zog, super.)

Und jedenfalls lobten und affirmierten wir, wie es der Grundsatz des Umblätterers immer gewesen ist, und dann waren wir fertig und alle konsterniert. Das war wahrscheinlich keine Blattkritik, sondern eine Blattaffirmation.

Und wo Danilo Scholz neulich in Sachen FAS schrieb: »Der Sommer ist vorbei, das tut dem Feuilleton gut«, da müssen wir natürlich widersprechen, denn wie der Umblätterer ja seit Jahren nachweist, ist das deutschsprachige Feuilleton immer genau gleich gut. Aber das half jetzt hier niemandem weiter, und die Ödön-von-Horváth’sche Stille, die da eintrat, wurde dankenswerterweise irgendwann durchbrochen, als Johanna Adorján souverän das Thema wechselte und Josik fragte, ob er aus dem Kosovo stammt (was ich selbst seit langem vermute).

Und da wir anlässlich der Fernsehprogrammseite nach Stefan Niggemeier gefragt hatten, wurde uns noch angeboten, ihm etwas auszurichten, was wir aber sofort und unmissverständlich ablehnten. »Richten Sie bitte Stefan Niggemeier nichts aus!« Das sollte wie die Sympathiebekundung klingen, als die sie gemeint war, denn wieso sollte man jemanden, den man so gut findet, mit ausgerichteten Nachrichten nerven wollen. Es kam aber möglicherweise sehr falsch rüber.

Also, um das alles mal zusammenzufassen: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zu einer FAS-Redaktionssitzung eingeladen werden.
 


Hommage an Marcel Reich-Ranicki (1920–2013)
»Er war ein nicht ganz schlechter Dichter«

Berlin, 18. September 2014, 07:54 | von Guest Star

(Gastbeitrag von cehaem)

Er war ein hochbegabter russischer Poet. Ja, er war ein nicht ganz schlechter Dichter. Er hat auch Geschichten und Romane geschrieben, die allerdings nicht von literarischer Bedeutung waren. Ein Kritiker hat ihn damals sehr gelobt.

Ihn zu charakterisieren fällt mir schwer. Für seine Dichtung waren die Frauen und sein Judentum von großer Bedeutung. Ob das eine wichtiger als das andere war, vermag ich nicht zu beurteilen. Er hat zwar keine bedeutenden Werke geschrieben, dafür aber zahlreiche. Für die Älteren waren diese Erzählungen damals lustig.

Er hat keine Ahnung von Literatur, nun gut, aber muß man das lauthals verkünden? Er hat sich in allen seinen Romanen die größte Mühe gegeben, seine Leser eben nicht zu langweilen, sondern zu amüsieren. Die Romane, die er nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben hat, sind allesamt ziemlich schlecht.

Seine zahlreichen Essays und Rezensionen waren zwar anspruchsvoll, haben aber viele seiner Leser gelangweilt. Einige seiner Biographien sind beinahe so lesenswert wie die Werke der Autoren, mit denen sie sich befassen. Es sind dankbar zu lesende und zugleich vergessene Bücher. Wer Lust hat, mag sich von diesen Büchern weiterhin anregen lassen.

Es sind inzwischen mehrere Romane von ihm erschienen, und wenn ich mich recht entsinne, wurden die meisten von den Lesern sehr gelobt. Jeder dieser Romane hat den Lesern der Unterhaltungsliteratur offenbar viel Vergnügen verschafft. Seine Bücher sind mir immer wieder empfohlen worden, ich solle sie unbedingt lesen, sie wären hochinteressant. Das mag alles stimmen, aber ich bin nie dazu gekommen.

Hierüber ist viel zu sagen, aber doch bei anderer Gelegenheit.

(Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2003–2013)
 


Tropical Heat

Hamburg, 22. Juni 2014, 15:00 | von Dique

Eigentlich (eigentlich, hehe, was für ein schönes Wort immer wieder), eigentlich wollte ich kurz was zu Rainer Karlschs herrlichem, sehr Borges-esque geschriebenem Doppelseitenartikel über Hans Kammler in der letzten FAS schreiben, aber dann lese ich gerade dieses endgeile Buch von Robert G. Hagstrom, ein Investor und mir bekannt als einer der besten Autoren über den Investing-Style von Warren Buffett, mit seinem Buch »The Warren Buffett Way«.

Nun also bin ich grad an »Investing: The Last Liberal Art«, und wie der Titel vermuten lässt, setzt Hagstrom Investing in den Kontext verschiedener Wissens- und Wissenschaftsfelder. Das ist sehr schön und ein bisschen wie »Sofies Welt« in gut. Ein Gang durch verschiedene Wissensgebiete (Evolutionsbiologie, Mathematik etc.) und dann schlägt er immer den Bogen zum Investing. Jetzt berichtet er gerade von John Allen Paulos, und das passt ziemlich gut zu dem ongoing Thema THE TWO CULTURES, der hat Bücher geschrieben wie »A Mathematician Reads the Newspaper« oder »Once Upon a Number: The Hidden Mathematical Logic of Stories«, also so Mashups der ZWEI KULTUREN, wie man sie nur lieben kann.

Aber okay, und à propos, wisst ihr noch, wie damals so Ende der Neunziger unser Freund Tropical-Heat-Barthel den Vorschlag, jemandem ein Buch zu schenken, abwehrte mit dem Satz: »Ja, gute Idee, aber das ist so ein veraltetes Medium, wer will das schon haben«? – Dieser Satz erweist sich immer mehr als visionär. Hier in Hamburg liegen ständig überall aussortierte Bücher zum Mitnehmen herum. Auf den Fensterbänken im Treppenhaus, in Kartons vor Haustüren, gestapelt in irgendwelchen Unterständen. Die Leute wollen die Dinger einfach loswerden. Tropical-Heat-Barthel war also in den Neunzigern ein absoluter Visionary.