Die Film-Fraktion hat hier in den letzten Tagen die Oberhand gewonnen, weil Marcuccio und ich mit dem Küren der Feuilleton-Top-10 für das Jahr 2007 befasst waren (und noch sind).
Da schneit es heute eine herrliche Vorweihnachts-FAZ vom Himmel. Gestern gab es online die Ankündigung des Homer-Scoops. Und als ich eben im großen Tonollo auf der Weender Straße die FAZ vom Stapel nahm, sah ich sofort, dass es das Feuilleton wieder auf die Frontpage geschafft hat, was selten genug ist, inklusive buntem Bild (einer Kopie von Ingres‘ « L’Apothéose d’Homère »).
Scoopen kann das FAZ-Feuilleton schließlich wie keine andere Redaktion. Vor nunmehr fast 4 Jahren hat der Ex-FR-Feuilletonist Wolfram Schütte die mediale Aufbereitung zweier literarhistorischer Funde verglichen: Während die im »Focus« präsentierte Entdeckung einer sehr wahrscheinlich direkten Quelle für Thomas Manns »Zauberberg« nur ein »Schweigen im Blätterwald« nach sich zog, machte die FAZ Michael Maars Entdeckung eines deutschsprachigen »Lolita«-Vorgängers zu einem Medienereignis. Sowas konnte und kann nur das Großfeuilleton der F-Zeitung.
Jetzt also Raoul Schrott, der eigentlich nur ein Vorwort zu seiner nicht-hexametrischen Neuübersetzung der »Ilias« schreiben wollte. Doch dann sammelte er über ein Jahr Beweise für eine These, die den biografischen Hintergrund Homers betrifft. »Und das, obwohl man von Homer nur eines weiß: nämlich nichts«, wie er es in der FAZ schön formulierte.
Schrott darf ganze vier Seiten im Samstags-Supplement »Bilder und Zeiten« füllen, die insgesamt mindestens eineinhalb Stunden konzentrierter Lektüre erfordern. Yeah! Ein Orts- und Namensspektakel, dem man trotzdem noch anmerkt, dass zu wenig Platz bleibt, um alle Beweise und Vermutungen auszubreiten. Die FAZ fasst die neue Homer-These zusammen:
»Der Dichter lebte in Kilikien, heute Türkei, als griechischer Schreiber der assyrischen Machthaber. Beider Konflikte verwob Homer in sein Werk, ebenso wie das Gilgamesch-Epos und das Alte Testament. Die größte Überraschung: Vorbild für Troia war Karatepe, eine Hauptstadt Kilikiens.«
Schrott versucht nun minutiös, für das homerische Figurenensemble Entsprechungen in historischen Personen zu finden. Er spricht von einem »Projektionsmechanismus Homers, der wie jeder Dichter nach ihm seine ureigenste Umgebung auf die Topographie seiner Fiktion überträgt«, und kommt zu dem Ergebnis:
»Wo seine Troer für die späthethitischen Kiliker stehen können, verleiht er seinen Griechen – allen voraus Achilleus – stellenweise Züge, die deutlich auf Hybris und Grausamkeit der Assyrer verweisen.«
Das einschränkende »stellenweise« weist schon auf den Gestus der allumfassenden These hin. Schrott stellt sie expressis verbis zur Diskussion, auch wenn sich die Überschriften in der FAZ schon wie unumstößliche Wahrheiten lesen. Schrott gelingt es aber auf jeden Fall, die Lust am Abenteuer Übersetzung und am (oft ja leicht scharlatanischen) Abenteuer Etymologie spürbar zu machen.
Goethe und Ebay
Aber auch sonst ist die heutige F-Zeitung gut bestückt: Auf den Wirtschaftsseiten, Abteilung »Finanzmarkt«, gibt es einen Beitrag zum Thema »Goethe und die Wirtschaft«. Bzw.: »Goethe und Ebay«. Dem heutigen Perlentaucher ist er leider entgangen, deshalb jetzt eine kurze Zusammenfassung:
»Von Goethe erdacht, von Ebay genutzt: Zweitpreis-Auktionen«, lautet die Überschrift des Artikels von Benedikt Fehr. Das ist natürlich etwas konstruiert: Goethe hatte 1797 seinen Mindestverkaufspreis für »Hermann und Dorothea« versiegelt seinem Mittelsmann Böttinger überlassen und den Verleger Vieweg aufgefordert, seine Preisvorstellung zu nennen. Hätte der eine niedrigere Summe geboten, wäre das Manuskript unverkauft bei Goethe geblieben. Hätte Vieweg dagegen mehr geboten, hätte Goethe nur die von ihm verlangten 1.000 Taler verlangt.
Das erinnert in der Tat ein wenig an das Ebay-Bieterverfahren, aber eben nur ein wenig, und deshalb schreibt Fehr, mit einer Expertenmeinung im Rücken: »Zwar gibt es mit Vieweg nur einen Bieter, aber der von Goethe verdeckt hinterlegte ›Reservationspreis‹ spielt die Rolle eines zweiten Preises.«
Das von William Vickrey entwickelte Verfahren der Zweitpreisauktion wird also genealogisch bis auf Goethe zurückgeführt. Wobei die Umstände von Goethes Entlohnung (zu der es schließlich auch kam) natürlich bereits weithin bekannt waren. Nur werden sie jetzt aber eben in den Ebay-Zusammenhang gerückt. Das kann man machen, diese Art vergleichenden Rückbezugs ist schließlich eine feuilletonistische Denkbewegung reinsten Wassers, die schon auch verblüffen kann.
Die Heilige Barbara
Soweit zur Hammer-FAZ von heute. Nebenbei, auf den Stammseiten des Feuilletons (S. 40) gibt es eine leicht besinnliche Bildergalerie, und neben zahlreichen Mariae gibt es auch Parmigianinos »Heilige Barbara«, die im Moment an die Alte Pinakothek in München ausgeliehen ist. Wir sahen sie zuletzt an ihrem eigentlichen Standort, im Prado. Heute in der F-Zeitung war etwas mehr Zeit für die Betrachtung, denn im September mussten wir noch verschwitzt am Original vorbeihetzen, hehe.