»Nicht Martin — Robert Walser!« Ein Nachruf auf Jochen Greven

Konstanz, 7. April 2012, 14:45 | von Marcuccio

Was für ein blinder Fleck der Wikipedia: Zur Ehre eines Eintrags kam er erst postum. Am 2. April startete die enzyklopädische Ad-hoc-Inventarisierung von Jochen Greven. Noch vor wenigen Wochen musste, wer für 2012 seinen 80. Geburtstag auf dem Schirm hatte, den Libelle-Verleger Ekkehard Faude nach dem genauen Datum fragen.

Eigentlich wollte ich ihn noch für ein Porträt treffen, den neben bzw. nach Carl Seelig wohl wichtigsten Menschen für die andauernde Wiederentdeckung von Robert Walser: Jochen Greven schrieb nicht nur die erste deutschsprachige Dissertation über Walser; »praktisch im Alleingang« (Reto Sorg) gab er auch das Gesamtwerk heraus. Zunächst in 12 Bänden für den Genfer Kossodo-Verlag, später dann »Sämtliche Werke in Einzelausgaben« für den Suhrkamp-Verlag.

Wie Greven dabei Seelig und die Seinen überwand, überwinden muss­te, das gehört zu den Lehrstücken der Literaturbetriebsgeschichte, die man nachlesen kann, und zwar in dem Buch, das der Libelle-Verlag zu Walsers 125. Geburtstag veröffentlicht hat: »Robert Walser. Ein Außenseiter wird zum Klassiker«. Es ist Grevens eigentliches Vermächtnis, das Begleitschreiben zu seinem editorischen Lebenswerk.

Lauter unerhörte Begegnungen

»Sie haben ja«, so Greven darin in einem fingierten Brief an den Schriftsteller, »noch gelebt, als da in einer westdeutschen Stadt ein unbedarfter junger Mann, nur weil er irgendein Thema für seine Dissertation suchte, sich unvorsichtigerweise mit Ihren Werken zu beschäftigen begann.«

Die westdeutsche Stadt war Köln, und der Doktorvater hieß Wilhelm Emrich. Der Clou: Weder er noch sein Schützling hatten zu dem Zeitpunkt je ein Buch von Robert Walser gelesen.

Tatsächlich fängt »die Robert-Walser-Story« nicht nur mit dieser unerhörten Begebenheit an. Greven, der früh geheiratet und schon als Student eine ganze Familie zu ernähren hatte, war vor und neben seiner Walser-Herausgeberschaft: Handlungsreisender für Schokoladenformen. Sein Schwieger-Großvater besaß eine solche Fabrik und – keine Ahnung, ob damals auch gerade große Hohlkörperzeit, sprich Ostern war. Es begab sich jedenfalls, dass Greven im Frühjahr 1956 als Vertreter zu Maestrani nach St. Gallen fuhr. Von da wäre es den sprichwörtlichen Katzensprung hinauf nach Herisau gewesen. Noch Jahrzehnte später malt Greven sich aus, was passiert wäre und ist dankbar, dass es nicht zum »Alptraum einer persönlichen Begegnung« gekommen ist.

Ziemlich fies auch Grevens erstes Treffen mit Carl Seelig 1957 in Zürich (diesmal am Rande einer Vertreterreise zu Lindt & Sprüngli). Wer die »Wanderungen mit Robert Walser« kennt, könnte meinen, Seelig sei der Altruismus in Person gewesen. Was ja finanziell stimmt; nur wie Seelig sich über Walsers Tod hinaus als dessen Vormund begriff, das hat fast possenhafte Züge. Bei Greven erfährt man auch, wie systematisch Seelig jede Anwandlung einer Besuchsidee abgeblockt hat. Unter anderem bedeutete er Walser-Fans wie Theodor Heuss, Joseph Breitbach und Hermann Hesse, bloß nicht nach Herisau zu fahren. Wenn es nach Seelig gegangen wäre, hätte nach ihm auch niemand mehr über Walser geforscht. Sein Andenken sollte das maßgebliche bleiben. Dann kam Seelig unter die Straßenbahnräder und doch alles anders.

Unerhört, welche Arbeitsbedingungen der von der Carl-Seelig-Stiftung als Walser-Herausgeber eher geduldete als bevollmächtigte Greven zu akzeptieren hatte: Einblick in die Walser-Autografen wurde ihm nur stundenweise gewährt, und bitteschön während der Öffnungszeiten der Anwaltskanzlei von Dr. Elio Fröhlich, dem Walser-Nachlassverwalter (in seiner Funktion als Präsident der Stiftung, die bis heute sämtliche Rechte an Walsers Werken hält) in der Zürcher Bahnhofstrasse. Greven war sogar extra an den Bodensee gezogen, damit er kostengünstig nach Zürich pendeln konnte. Personenfreizügigkeit war noch genauso wenig erfunden wie ein simpler Kopierer. Greven musste Manuskript um Manuskript erbeten. Kein Wunder, dass das Jahre später doch noch ein Ventil brauchte.

Die Walser-»Chitti«

Chitti? Ja, Berndeutsch für gewollten Streit. Zoff, Boom, Bang. Es war, pünktlich zu Walsers 100. Geburtstag, die Literaturbetriebsfehde des Jahres 1978. Action-Feuilleton zwischen Jochen Greven und Elio Fröhlich. Ausgelöst wurde die Walser-Chitti durch ein indiskretes Typokript, in dem Greven sich den geballten Frust von der Seele schrieb, dass man nach Abschluss der Werkausgabe nicht ihn mit der Entzifferung der Mikrogramme betraut hatte, sondern die nächste Generation: »Robert Walsers Sachwalter«, heute im DLA Marbach verwahrt, war ein Rachepapier: »Ich vervielfältigte […] und verschickte es […] an rund fünfzig mir mehr oder weniger gut bekannte Literatur­redakteure, Kritiker, Germanisten, Schriftsteller, Buchhändler […].«

Editionspsychologen (jawohl: Psychologen!) werden in Grevens Erinnerungen indes mancherlei Anschauungsmaterial finden, warum Philologen, die mit literarischen Nachlässen befasst sind, zu so etwas fähig sind. Die unsexy Melange aus entbehrungsreicher Editionsarbeit und seltsamen Schikanen im Sozialgefüge literarischer Nachlassverwalter und selbstherrlicher Stiftungen scheint solche Abrechnungen manchmal geradezu zu provozieren.

Wirklich ungnädig blieb Greven nur in einem Punkt: der Tatsache, dass Walser zwar Suhrkamp-Klassiker war, aber dort nie mehr als ein Paperback-Autor wurde.

Und wo Peter Richter gerade eine Bresche für die Ironie geschlagen hat: Robert Walsers Poetik, »für Erzernsthafte ein wenig komisch« auszusehen, gehört da unbedingt dazu – Greven hat ihm schon 1960 »totale Ironie« bescheinigt und später erläutert:

»Viele Elemente dieses Sprachtheaters sind uns inzwischen längst geläufig, sie gehören zum Alltagsstil unsrer Feuilletons, zum Konversationston der Gebildeten – anders könnten wir gar nicht mehr miteinander kommunizieren, so kommt es uns vor; die Komplexität unserer Bewusstseinswelten braucht diese doppelten und dreifachen Böden des Ausdrucks, und sie braucht nicht zuletzt auch das Moment an humaner Skepsis, das dabei mitschwingt. Danke also, Herr Walser, für Ihr Entdecken, Ausprobieren, Einüben!«

Schönere Komplimente eines Herausgebers kann es nicht geben. Greven selbst wäre nachzurufen, dass ihm durchaus gelungen ist, was er zeitlebens als seine Mission ansah (sinngemäß): Leute dazu zu bringen, bei Walser nicht mehr nur einen zu denken, sondern vielleicht sogar mit Nachdruck zu sagen: »Robert, und nicht Martin!«

Vgl. auch die Nachrufe von Susan Bernofsky und Manfred Bosch.
 

3 Reaktionen zu “»Nicht Martin — Robert Walser!« Ein Nachruf auf Jochen Greven”

  1. Wandering with Robert Walser » Jochen Greven: 1932-2012

    […] Jochen Greven ist tot, Südkurier »Nicht Martin — Robert Walser!« Ein Nachruf auf Jochen Greven, Der Umblätterer Der Kärrner im Walser-Garten. Zum Tod von Jochen Greven (22. April 1932 – […]

  2. Peter Gronau

    Jochen Grevens Lebensleistung, die ihren Schwerpunkt in der erweiterten Herausgabe, Wiederentdeckung und Wiederbelebung des vor der Vergessenheit zu bewahrenden Dichters Robert Walser fand, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darüberhinaus, als ein jedenfalls auch zu erwähnender Teil dieser Lebensaufgabe, der er sich bis ins hohe Alter unermüdlich widmete, hat er auch andere unterstützt und persönlich gefördert, die er als Begleiter und Mitstreiter auf diesem Wege empfand. Ich selbst habe über Jahre, mit großer Dankbarkeit zurückblickend, diese Erfahrung machen können.

  3. Marcuccio

    Berichtigung zur Walser-Chitti: Das erwähnte Typoskript befindet sich, anders als hier fälschlich erwähnt, nicht im DLA Marbach.

    Wer sich für die kleine Fehde zwischen Jochen Greven und Dr. Elio Fröhlich interessiert, dem sei das Innsbrucker Zeitungarchiv empfohlen: Unter

    http://www.uibk.ac.at/iza
    wählt man die Rubrik „Artikel 1960-2000“ und gibt in der Volltextsuche „greven + fröhlich“ ein. Die dann aufpoppenden Artikel kann man kostenpflichtig bestellen und erhält anhand der darin zitierten Stimmen mit Sicherheit weitere Hinweise, in welchen Verlagsarchiven oder Zeitungsredaktionen das besagte Typoskript noch aufbewahrt werden könnte.

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