Archiv des Themenkreises ›NZZ‹


Feuilletonismus 2011

Leipzig, 9. Januar 2012, 00:20 | von Paco

Maulwurf popping up!Nur schnell die übliche kurze Ankündigung: Der Maulwurf steht wieder vor der Tür. In ca. 24 Stun­den kürt Der Umblätterer zum siebten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2011). Und um gleich mal den BVB-Torwart Roman Weidenfeller zu zitieren: Die deutschsprachigen Feuilletonisten »have a grandios Saison gespielt«, auch 2011 wieder, und zwar alle.

Schon bis zum Frühjahr war ja mehr passiert als in so manchem Jahrzehnt der vorhergehenden Jahrhunderthälfte zusammen­genommen. Und es gab dementsprechende feuilletonistische Fort­setzungsgeschichten. Die meisten Ereignisse wurden auch von den anderen Ressorts abgedeckt, aber richtig in seinem Element war das Feuilleton bei den Telenovelas um Guttenbergs Doktorarbeit und die sympathische Beltracchi-Fälscherbande mit ihrer zusammengefakten »Sammlung Jägers«.

Eine weitere feuilletonistische Großtat war die Idee der FAZ, Hans Ulrich Gumbrecht ein eigenes Blog zu geben, »Digital/Pausen«, und es ist eigentlich ein eigenes Subfeuilleton, ein intellektueller Playground mit einer markanten Themenwahl und einmaligem analytischem Durchstich. Zwischendurch gab es am 9. Oktober noch die »Jahrhun­dert-FAS« mit superster Staatstrojaner-Coverage – die Ausgabe war sofort vergriffen, die entsprechenden Seiten 41–47 gab es dann aber schnell als PDF zum Download (zu diesem Feuilletonevent gehört unbedingt auch der »Alternativlos«-Podcast Nr. 20 vom 23. Oktober).

In der SZ, der NZZ, der TAZ, der WELT, dem SPIEGEL, der ZEIT und im FREITAG standen natürlich auch wieder die unfassbarsten Sachen drin. Die Idee des Goldenen Maulwurfs ist ja, die noch nie falsifizierte Großartigkeit eines Feuilletonjahres in den zehn angeblich™ besten Artikeln zusammenzufassen. Das ist bei einer Longlist von diesmal 51 Artikelvorschlägen eigentlich zu knapp, aber wir werden es wieder hinkriegen. Dazu dann morgen mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005   (#1 Stephan Maus/SZ)
2006   (#1 Mariusz Szczygieł/DIE PRESSE)
2007   (#1 Renate Meinhof/SZ)
2008   (#1 Iris Radisch/DIE ZEIT)
2009   (#1 Maxim Biller/FAS)
2010   (#1 Christopher Schmidt/SZ)
2011   (#1 ???/???)

Am Dienstag im Morgengrauen dann also die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2011. Hier.

Bis gleich,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 
(Bild: Wikimedia Commons)


Der Seinsüberwurf und die drei Verdoppelungen (Lottchen, Marx und Malick)

Stanford, 21. Juni 2011, 02:30 | von Srifo

Aus dem Schatten des doppelten Lottchens hat Ekkehard Knörer ja im »Freitag« den »doppelten Marx« heraustreten lassen, was als Sequel gut passt, denn 1942 hieß Kästners Drehbuch noch »Das große Geheimnis«. Beide Märxe waren vor kurzem nämlich gleichzeitig im bekannten Ferienheim Berlin zu Besuch. Sie konnten sich erst gar nicht ausstehen und fanden aber dann bei Schokoladenmilch auf irgendeine Weise heraus, dass sie durch die Scheidung ihrer Eltern getrennt wurden.

Was nun das große Geheimnis der Stunde angeht, friemelt Knörer auseinander, muss es so sein, dass obwohl die zwei Märxe »zuneh­mend blaß um die Nase« werden, sie trotzdem »egal ob auf Kopf oder Füßen« hinterlistig und qua Bekanntschaft ihrer Erzeuger (der eine aus Saarlouis, der andere aus Ljubljana) als »Virtuosen der Vernetzung« agieren.

Das sieht auch Uwe Justus Wenzel in der NZZ so. Laut seiner Beobach­tung der marxistischen Szenik gibt es einzig bei der »Tischgenossen­schaft« der Märxe, dieses täuschend einhelligen Zusammenhalts der »Keimzelle eines neuen ›Wir‹«, »allenthalben« eine neue Erkenntnis, nämlich die der Vervielfältigung. Dass es damit dann den »authentischen Marx« gar »nicht zu entdecken gibt«, hat ob der Verdopplungswirren auch Tania Martini in der taz feststellen müssen. Was bleibt, ist gegenseitige Verwechselbarkeit im Ferienlager, bei Schokomilch und Heidesand.

Selbst der alte Marx-Monadist Immanuel Wallerstein, dessen soziologisches »World-System« 1974 wider allen Anschein von nur einer Welt voll dependency sprechen wollte, hat letztens indirekt eingeräumt, dass es nach dem »next-to-last speculative bubble burst« 2008 nun vorbei ist mit dem erstrebten Glanz seiner alten Einheits-Idee. Ein Vervielfachen, »an ever-escalating stretching of the interpretation of Marxism« ist wohl die Lösung bzw. ist »actually a world depression«.

Auch das letzte Ressort der Seinsgelassenheit, ein neuer Film von Terrence Malick, kann da nicht mehr zeigen, wie alles Sein zusammen­hängt – Brad Pitt als Naturstrenge? Die Mutter Jessica Chastain als Urknallgnade? Abermals die falschen Eltern. Das klingt sogar nach einem ›ever-escalating stretching‹ von Malick. »Days of Heaven« (1978) hat jedenfalls mehr Sakralität draufgehabt. Hier könnte man jetzt wieder auf Heidegger referieren. Aber das tun ja die anderen schon. Bloß die »Zeit«-Diagnostik macht es kurz und sagt es der Tischgenossenschaft ins Gesicht: »Malicks Naturgott ist schizophren«.
 


Die Segantiniwolke —
Mit Werner Spies, Niklas Maak, Rafael Horzon und Hermann Hesse in der Fondation Beyeler

Basel, 10. März 2011, 12:44 | von Marcuccio

Ein Praktikum in Riehen bei Basel, das wär’s. Dort den Telefonisten machen, nur um den ganzen Tag so schön ›Fondation Beyeler‹ zu sagen, wie es jetzt im Tram Nr. 6 zu hören ist. Nächste Haltestelle: Fohdasjo Bejeler.

Was ein Ansturm! Rentner, Japaner, alleinerziehende Mütter, sie alle wollen »seine Berge« sehen, um mal ein bekanntes Segantini-Wort aufzugreifen (»voglio vedere le mie montagne«).

Segantini, der große Alpenmaler. War Segantini früher »peinlich« (NZZ am Sonntag), ist er heute Divisionismus-Avantgarde, wenn nicht gar »der van Gogh der Hochalpen« (Werner Spies in der FAS). Auch deswegen versteht sich die Ausstellung als eine Art kunsthistorische Reha-Maßnahme. Rehabilitierung, weil Segantini um 1900 schon mal europaweit gefeiert, danach aber einige Jahrzehnte in der Heimat- und Kitschecke verschwunden war. Soweit das Storytelling der Fondation Beyeler.

Die Vorher-Nachher-Show

Und das Feuilleton feiert mit, die besten Sätze zur *Segantini-Wert­schätzung alt* gab’s von Niklas Maak:

»Ganz böse Kommentatoren behaupteten, Segantini sei Kunst für Russen, die sich in St. Moritz das Bein gebrochen haben und deswegen nicht auf die Piste können – in Sankt Moritz gibt es ein Segantini-Museum, und vor diesem kleinen Museum sieht man tatsächlich öfter einmal die Ferraris und Maseratis und anderen Höllengefährte der russischen und anderen Wintersportgäste parken.«

Von Boris-Becker-Hochzeiten in diesem Museum ganz zu schweigen. Aber eben: Schluss mit bloßer Segantini-Deko! Her mit den Kunst­verständigen. Noch einmal Maak:

»Segantinis Kunst ist, wenn man genau hinschaut, wie eine Fahrt im Bugatti: Die Landschaften beginnen zu flimmern, die Formen lösen sich pointillistisch auf und werden gleichzeitig surreal klar – es ist, als ob klare Bergluft durch die Seitenscheiben dieser Bilder ströme.«

Und apropos Seitenscheibe. Rafael Horzon macht an einer Stelle seines »WEISSEN BUCHS« ja diese Autotour: »Unser Ziel: Basel.« (S. 132f.) »Gerührt«, hehe, summt er unterwegs die letzten beiden Drittel dieses Lieds von der Wolke – die weiße Wolke ist die »Segantiniwolke« aus Hermann Hesses »Peter Camenzind«:

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.

Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie in dunkler Nacht.

Geht und erglänzt so silbern,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

Voraus geht die Szene, in der sich Camenzind an Elisabeths Besuch in der Basler Kunsthalle erinnert (heute würde es die Fondation Beyeler sein):

»Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen.«

Sie schaut sich also dieses Segantini-Bild mit der besonderen Wolke an. Und Camenzind schaut ihr dabei zu:

»Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. (…) Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne, von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.«

Auch wir versuchten uns in Saal 9 eine Weile im Segantiniwolken­verstehen (siehe auch NZZ von 2004), bevor wir dann irgendwann, genau wie Camenzind, »schnell und leise« das Segantiniwolken­kuckucksheim verließen.
 


»Ein goldener Moment in der Geschichte
des deutschen Feuilletons«

Stanford, 23. Februar 2011, 02:57 | von Srifo

Kalifornisch unabgeschiedenes Interview mit HANS ULRICH GUMBRECHT: Über deutsche Zeitungen und ihre Einmaligkeit, über Wiederholungen und Hyperbolik, über nächste Projekte, Widmun­gen von Hans Robert Jauß und Männer in grauen Regenmänteln, die noch mal das Matheabitur kontrollieren wollen

In der Februarhitze gehe ich an hastig radelnden Undergrads vorbei zur Pigott Hall, dem Literaturen-Gebäude der Stanford University. An der Ecke zum Circle of Death, einem zur Pausenzeit umrasten Radlerkreisverkehr, hat Hans Ulrich Gumbrecht sein Büro. Es ist 11 AM, ich habe eine Stunde, klopfe, und unter dem blitzenden Licht des Eckfensters plaudern wir los. Apropos Ausleuchtung: Um die Schönheit und die dunklen Geheimnisse der gesprochenen Sprache zu bewahren, wurde das Transkript nicht redigiert.

»Kann ich das in 12.000 Zeichen
erklären?«

Der Umblätterer: Schaut man auf deine Veröffentlichungsliste, Sepp, fragt man sich: Fühlst du da eine gewisse Verantwortung, dich am deutschen geisteswissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen? Das Verhältnis Zeitungsartikel zu Buch hältst du bei circa 20:1, was zurzeit etwa mit dem Faktor 34 zu multiplizieren ist, um auf das Gesamtvolumen zu kommen.

Hans Ulrich Gumbrecht: Nein, ich spüre keine spezifische Verantwortung für das deutsche Feuilleton. Ich denke aber, dass nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität der deutschen Feuilletons im Moment international einmalig ist. Ich würde sagen, die vier, fünf besten deutschen Tageszeitungen plus Wochenzeitungen, also nicht der »Spiegel«, aber die »Zeit«, sind wirklich völlig einmalig. Nicht nur, weil es auf Englisch kein ›Feuilleton‹ gibt.

Ich bin einmal im Jahr zwei Wochen in Paris, und dann kaufe ich mir »Le Monde«, »Figaro«, »Libé«, und das kannst du nicht vergleichen. Ich würde aber nicht nur sagen, dass international alles runtergekommen ist, nein, es ist einfach ein goldener Moment auch in der Geschichte des deutschen Feuilletons. In den Zwanzigerjahren oder so –, oder wenn man sagt, »oh, das war in den Fünfzigern besser«, nein, war es nicht. Es ist unheimlich gut. Was zum Teil damit zu tun hat, dass Journalisten wie Frank Schirrmacher oder Gustav Seibt, die früher automatisch Universität gemacht hätten, dachten, es sei interessanter. Finanziell interessanter, als Lebensform interessanter.

Für mich war es aber nie so ein Plan, dass ich gesagt habe, ich will jetzt das und das machen. Es interessiert mich selbst aus mehreren Gründen. Einer ist sozusagen sportlich, also wie jetzt dieser Jauß-Text für die »Zeit«: Kann ich das in 12.000 Zeichen erklären? Manchmal denke ich, das geht nicht, aber dann versuche ich es und finde es interessant.

Zweitens freut es mich natürlich, dass es mir über diese Medien gelungen ist, nicht nur ein Wissenschaftler zu sein, sondern auch ein öffentlicher Intellektueller. Andreas Kablitz der mich vor einigen Wo­chen bei einem Workshop in Köln vorgestellt hat, sagte drei Sachen: »Er ist ein Romanist, immer noch, er ist ein Philosoph mittlerweile geworden«, auch in dem Sinn, dass in Philosophieseminaren meine Sachen zitiert werden, und drittens, »ein öffentlicher Intellektueller, und das hat in der Germanistik niemand geschafft, und in der Romanistik einer, das war Ernst Robert Curtius«, und das hat mich ziemlich stolz gemacht.

Das heißt, ich mache das nicht für deine Generation, ich mache das für mich. Ich denke, dass ich einer von ein paar war in Deutschland, Hörisch wäre auch so jemand, die eine größere Nähe zwischen dem Feuilleton – und nicht nur Feuilleton, es kann ja auch das »Philosophische Quartett« sein, Sloterdijk sowieso – und den Geisteswissenschaften geschaffen haben. In dem Sinn, dass das wahrscheinlich das Feuilleton nicht besser, aber komplexer gemacht hat. Ich schreibe ja jetzt doch nicht genauso, wie jemand, der eine journalistische Karriere gemacht hat. In der Hinsicht fühle ich keine Verantwortung, es ist ja wirklich im emphatischen Sinn auch nicht mehr mein Land, ich möchte eigentlich mehr hier investieren.

Der Umblätterer: Aber du schreibst ja schon viel, wirklich sehr viel, so viel wie wenige andere, die nicht angestellte Journalisten sind.

Gumbrecht: Ja, richtig, das ist eben der sportliche Ehrgeiz. Irgendjemand hat mal geschrieben, dass ich einer der wichtigsten Stichwortgeber in der deutschen Kultur der Gegenwart wäre, das fand ich etwas hyperbolisch, aber toll. Klar, das interessiert dich, da hast du einen Ehrgeiz, da kommst du in Debatten rein, ich hatte so eine Debatte letztes Jahr gehabt mit Kaube, den ich gern mag, also Kaube meinte, Geisteswissenschaften seien Wissenschaften, und ich denke das nicht, und schon hast du ein Follow-up. Oder meine Sport-Sache, da habe ich nicht irgendeiner Sportredaktion in Deutschland erzählt, »also ihr müsst aber jetzt anders schreiben«, aber die schreiben tatsächlich anders als vor 15 Jahren, and I think I was part of that.

»Würden Sie was für die ›Geisteswissen-
schaften‹ schreiben?«

Der Umblätterer: Das geht schon zur nächsten Frage, die die erste zuspitzt, wenn man sich nämlich die Personen anschaut, die du schon genannt hast, deine intellektuellen Freunde, Karl Heinz Bohrer und Peter Sloterdijk, oder auch Henning Ritter und Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher …

Gumbrecht: Bei Ritter ist es genau umgekehrt.

Der Umblätterer: Du meinst …

Gumbrecht: … umgekehrt, also wenn man der Sohn von Joachim Ritter ist, kann man natürlich keine akademische Karriere haben, Ritter hat bei Verlagen gearbeitet, dann die FAZ-Sache gemacht, großartig gemacht. Und wenn du ihn heute siehst, kann er überall schreiben, er ist einer der großen Intellektuellen im Land, aber Ritter hat mittlerweile auch einen Dr. h. c., und ich denke, mit Recht. Bei Karl Heinz Bohrer ist es ja biografisch gesehen auch ähnlich.

Lomo-Serie, Florian Fuchs und Hans Ulrich Gumbrecht at Stanford

Der Umblätterer: Oder es gibt auch Schüler von dir im Feuilleton. Du hast zwar gesagt, Verantwortung fühlst du nicht so richtig, aber de facto hast du ja inhaltlichen Einfluss. Eben die Sportjournalisten, die jetzt anders schreiben. Stellst du das hinterher fest und sagst, »Ach, die schreiben ja jetzt anders, das wollt ich ja jetzt gar nicht so, ist ja lustig«, oder ist das mit in den Ehrgeiz eingeflossen irgendwann?

Gumbrecht: Ehrgeiz ist ja immer so ein Wort, was ganz furchtbar klingt, aber das kannst du schon schreiben. Um es so zu formulieren, in Interviews werde ich auch immer gefragt, wie ich das akademisch alles so geplant habe. Aber vielleicht bin ich deshalb auch immer in so katastrophischen Situationen, ich bin kein Mensch von langen Planungen, also ich weiß zum Beispiel, dass ich im Sommer dieses Latenzbuch fertig schreibe, und ich weiß, dass ich wahrscheinlich als nächstes Buch eine Diderot-Biografie schreibe, ein großes Buchprojekt, und das hat mit Lebensende, also mit meinen 62 Jahren zu tun. Das sind Bücher, die ich wirklich noch schreiben will, aber ich plane nicht so langfristig.

Ich hätte nicht sagen können, dass ich mich irgendwann entschlossen hab, ich muss jetzt nach Amerika gehen. Martin Seel hat mal geschrieben, es gehört zur agency dazu, die Fähigkeit sich bestimmen zu lassen von Situationen und Gelegenheiten. Und, ja doch, das war Gustav Seibt, den kannte ich, weil er ein Freund von einem Schüler von mir war, und er war Assistent bei Ritter, und der fragte im Auftrag vom Ritter, als die grade angefangen haben mit der Geisteswissenschaften-Seite in der FAZ, »würden Sie was für die ›Geisteswissenschaften‹ schreiben?« Das habe ich natürlich nicht geplant, das meine ich mit keiner Verantwortung.

Klar möchte ich, dass gut geschrieben wird. Ich möchte z. B. bei bestimmten Debatten, dass die eine Seite gewinnt und die andere nicht, aber ich habe keinen Masterplan, was denn mein Beitrag für die Geisteswissenschaften sein sollte. Eine gute Metapher, die Humberto Maturana immer gebraucht hat, ist der Drift vom Segelboot: Ich hab schon immer eine Ahnung, wo ich hin möchte, aber nicht langfristig, und deswegen meine ich, ich folge keiner Verantwortung.

Eine Analogie ist, dass Sportlern ja immer angemutet wird, sie sollten role models sein, aber das ist nicht, warum man Sport macht. Dass dann irgendwelche Sportler role models sein könnten, ist ja schön, und wenn ich einen Einfluss auf eine bestimmte Richtung nehmen kann, die mir sympathisch ist, ist mir das auch Recht, aber ich könnte dir jetzt nicht sagen, welches denn der nächste Schritt wäre, wo ich möchte, dass das deutsche Feuilleton hingeht.

Der Umblätterer: Du warst 2004 bei einem Vierergespräch dabei, mit Frank Schirrmacher, Henning Ritter und Martin Meyer.

Gumbrecht: Genau.

Der Umblätterer: Damals hast du es ähnlich formuliert …

Gumbrecht (nimmt ein schmales Buch von einem Stapel, »Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren?«): Das hast du, oder?

Der Umblätterer: Nee?

Gumbrecht: Ja dann gebe ich dir das jetzt, das ist das Weihnachtsgeschenk des Präsidenten der Uni Osnabrück, das Foto, das da drin ist, ist das FAZ-Foto von dem Vierergespräch.

Der Umblätterer: Ja, ich habe den Artikel hier, da ist das drin.

Gumbrecht: Nee, ist ein anderes Foto, aber selbe Serie, die Uhr ist leider Gottes stehen geblieben, die haben eine sehr elegante Uhr.

»What was he thinking!«

Der Umblätterer: Jedenfalls sagst du da genau dasselbe über dein Interesse, was den Einfluss auf das Feuilleton angeht. Was sich daran anschließt, ist eine Frage nach dem Gegenwind, den es dann gibt. Du hast im »Freitag« gerade etwas über Risikodenker geschrieben, und die Community, die beim »Freitag« immer sehr lebhaft antwortet …

Gumbrecht: Ja, Wahnsinn.

Der Umblätterer: Die meisten dort haben sich über deinen Artikel beschwert und sagen, »Ihnen nehme ich das natürlich nicht ab, Herr Gumbrecht, dass sie Risikodenker sind«. Und in der »Welt« gab es auch eine Antwort …

Gumbrecht: Vom Feuilletonredaktionschef.

Der Umblätterer: … der das ähnlich sah. Würdest du sagen, um es mal so zu formulieren, die kalifornische und die deutsche intellektuelle Lebenswelt können nur im Dissenz zueinander leben? Du hast im Interview mit der »Welt« Anfang November eine Andeutung in diese Richtung gemacht.

Gumbrecht: Du hast wahrscheinlich auch den Artikel in der »Zeit« gelesen von vor drei, vier Jahren, dort heißt es, meine Reputation und mein Talent sei, immer Meinungen zu spalten. Ich sage irgendwas, und dann sind ein paar Leute stark dafür und, wie bei dem Text über riskantes Denken, andere sagen, »Nein, absolut nicht«. Ich kann nicht sagen, dass ich das bewusst mache oder kultiviere, aber ich merke, dass das eine Wirkung ist, die ich habe.

Zum Beispiel kriege ich größtenteils, wie die meisten hier, bei den class reviews close to einer Idealnote von den Studenten. Aber nach einem Seminar, das ich grade gemacht habe, bei dem ich dachte, es war unheimlich gut, sehe die Grafik der Bewertungen und sage, »Was, das ist ja furchtbar!« 60 Prozent der Studenten sagen ganz explizit, das sei das beste Seminar, das sie in Stanford je gemacht haben, und die anderen sagen, »What was he thinking!«.

Ich kultiviere das nicht, aber ich würde sagen, z. B. so eine Sache wie der Jauß-Text, der bald in der »Zeit« kommt, oder die Sache im »Freitag«, dass das mittlerweile zu mir als Produkt gehört. Die Zeitungen wissen, ich schreibe irgendwas zu so einem Thema, und da kriegen sie eine Menge Reaktion, und das ist es natürlich, was ein Medium interessiert. Es ist ja dem »Freitag« Wurst, ob die Leute beistimmen oder nicht.

Den Unterschied zwischen hier und Deutschland kann man gut sehen, wenn man sich z. B. hier die Division of Literatures, Cultures, and Languages (DLCL) in Stanford anschaut, da finde ich es bemerkenswert, wenn man sagt, es sind 40 faculty members, da gibt es junge Persönlichkeiten und a couple of big guys, die alten, Girard und Serres, oder nur Robert Harrison und mich. Wenn das ein deutsches Seminar wäre, wäre es, statt zusammenzuwachsen, schon längst in zwei Teile gespalten, und es gäbe eine Menge Leute, die miteinander nicht können, nicht zusammen in einer Kommission sein könnten usw.

Das finde ich bemerkenswert hier: Du kannst verschiedene Meinungen haben, du kannst beständig drüber streiten, produktiv streiten, but that’s normal. Das ist in Deutschland, finde ich, undenkbar. Und ich überlege immer, warum mir Deutschland oft auf die Nerven geht, und es ist letztlich das, dass in dem Moment, wo man in Deutschland merkt, dass es einen Dissenz gibt, ziehen alle den Schwanz ein oder du kriegst einen Streit.

Ich meine z. B. schon wenn ich etwas sage, was kontrovers ist, heißt das ja nicht, dass ich nicht den guten Grund der anderen Meinung sehe, aber man kann ja auch mal sagen, das ist wahr. Und du siehst ja die Reaktionen z. B. im »Freitag«, also alle sagen wie furchtbar und wie kann ich das sagen. I mean, in the first place I can say that … Aber noch mal zu deiner Frage: Ich würde sagen, was die Leute hier wählen würden, wenn sie das deutsche Spektrum hätten, oder was die Deutschen wählen würden, also our kind of people, wenn sie hier lebten, would not be so different. Die meisten Deutschen würden hier auch Obama wählen und würden sagen, »wäre schön, wenn er noch ein bisschen linker wäre«, irgend sowas. That is not so different.

Die Differenz, die vielleicht, durch die Tatsache, dass ich in Kalifornien bin, in Deutschland provokant ist, ist, dass ich nicht mehr gewöhnt bin und das vielleicht auch kultiviere, in der Hinsicht strategisch zu sein. Es war typisch von deutschen Freunden, hier zu sagen, um Gottes willen, wie werden die Deutschen auf den Jauß-Text reagieren. Well, I’m interested but I really don’t care. Why should I? For Christ’s sake.

»Streitkultur« oder so

Der Umblätterer: Das nächste hat damit gleich zu tun, nämlich mit kalifornischer Abgeschiedenheit. Und zwar schreibst du, ich habe mir da das erste, was du 1989 in der FAZ über Kalifornien schreibst, angekuckt … Und zwar machst du da, vor 22 Jahren, eine Rundreise von Berkeley über Stanford zu Hayden White nach Santa Cruz. Damals gab es noch diesen lustigen Begriff des Post-Poststrukturalismus, was auch immer der war oder ist, und du sagst, was Hayden White dir damals davon erzählte, würde in Deutschland immer noch als neokonservativ disqualifiziert werden.

Letztlich konterkarierst du beide Positionen – Kalifornien und Deutschland – und schreibst, »Aber im Gegensatz zu den deutschen Apologeten der Aufklärungstradition« – hast du die grade wieder als deutsche Haltung zitiert, wäre die Frage – »hält White grade nicht an dem Universalanspruch des Postulats fest, daß Wissenschaft ›politisch‹ und überhaupt (ernste) ›Wissenschaft‹ zu sein habe. Man könnte sich fragen, ob dieser Verzicht [auf den Post-Poststrukturalismus] in Deutschland eine Folge jener intellektuellen Abgeschiedenheit ist, die – allerdings unter amerikanischen Bedingungen – in Santa Cruz gerade zu dem umgekehrten Ergebnis, nämlich der Inflation des politischen Anspruchs geführt hat.« Die Frage ist also die nach der jeweils spezifischen intellektuellen Abgeschiedenheit in Deutschland und in Kalifornien, besteht die noch?

Gumbrecht: Das ist komplex, das finde ich interessant, weil ich das jetzt nicht mehr so sehe wie damals. (überlegt) Ob sich das wirklich geändert hat oder ob ich mehr kapiert habe über die Umstände hier, ist schwer zu sagen, einen Unterschied sehe ich weiterhin in der schon erwähnten Diskussionskultur hier. Die finde ich hier in Stanford positiv, und die ist nicht überall so, an der Cornell University, NY, ist es wirklich nicht so. Wenn das hier funktioniert, dann, habe ich den Eindruck, funktioniert das, weil sich die Leute als citizens verstehen. Bis in eine discussion sind sie citizens, also nicht, dass du was beitragen musst zu den USA, eher in einem Aufklärungssinn, wenn man will. Wie überhaupt in diesem Land, wenn es gut klappt, diese Aufklärungstradition …

Der Umblätterer: Eine gemeinsinnliche Stimme?

Gumbrecht: Ja so, you meet, like, a town hall meeting, das bedeutet, Leute haben verschiedene Meinungen und man schaut, was rauskommt. Wenn hier in einer Kommission ein Lehrstuhl besetzt wird, dann wird nicht geheim abgestimmt und die Minderheit letztendlich unterdrückt, damit man eine einhellige Meinung nach außen hin abgeben kann, sondern es wird in die Fakultät gegeben zur Diskussion. Denn der Agent, der die Empfehlung an die Universitätsleitung gibt, ist die Fakultät, verkörpert durch die Dekanin. Und da sagt man immer, why should we be unanimous, wenn es mehrere Kandidaten gibt und keiner der Teilnehmer der Kommission findet im schlimmsten Fall keinen von beiden unmöglich, gibt man die Präferenzen heraus. Und dann wird in der Fakultät diskutiert und jeder akzeptiert dann die Meinung, das ist eben ein demokratischer Prozess. Das ist die Illustration von citizenship in meinem Sinn.

Im Gegensatz dazu, und das würde ich für die große Differenz halten, meine Kollegen in Deutschland, die untereinander diskutieren, finde ich, diskutieren nicht als citizens, obwohl sie es immer sagen, oder es heißt dann »Streitkultur« oder so. Sondern sie diskutieren immer als Wissenschaftler. Weil dieser Wissenschaftsbegriff so stark ist, dass man eigentlich Recht haben sollte am Ende. Zum Beispiel wenn befreundete deutsche Professoren mir sagen, dass sie nicht verstehen können, dass ich Paul de Man nicht mag. Dann ist das immer so: »Du bist doch intelligent, du müsstest doch de Man mögen.« Oder: »Am Ende eines Tages wirst du einsehen, dass de Man …«

Der Umblätterer: Also schon noch die »Apologeten der Aufklärungstradition«, die wirken deiner Ansicht nach immer noch?

Gumbrecht: Na gut, ich hab des jetzt deswegen nicht verwendet, weil ich eigentlich, wie ich die Aufklärung verstehen würde, voraussetze, dass andere Leute andere Meinungen haben. Ich meine, im schlimmsten Fall sozusagen, muss man eben abstimmen, es gibt eine Mehrheitsmeinung und die gewinnt dann. Aber es könnte ja auch sein, dass ich, wenn eine Diskussion gut läuft, dass sich was anderes ergibt.

Wenn ich sehe, dass 60% meiner Kollegen, 70%, jemanden wollen, den ich nicht wollte, dann würde ich nicht sagen, die Meinung der Kommission muss dominieren, weil ich meine, das ist jetzt einmal so festgelegt, dass die Fakultät als Kollektiv den Vorschlag an den Dekan macht, verstehst du. Da würde ich aber nicht sagen, »Ja, aber eigentlich haben sie Unrecht gehabt«, sondern da würde ich sagen, ich habe eine Meinung gehabt, die sich als exzentrischer herausgestellt hat, als ich dachte. Ich kann argumentieren, warum ich sie hab, ja, so wie ich ja auch nicht erwarte, dass ein konservativer Bekannter von mir mich eines Tages überzeugt, dass George W. Bush wirklich der beste Präsident war.

Der Umblätterer: Diese Selbstevidenz der Wahrheit.

Gumbrecht: Ja.

Der Umblätterer: Dann eine ganz praktische Frage: Ich weiß, dass du viele Kontakte hast zu Journalisten, steuern diese Kontakte auch deinen Zeitungskonsum? Liest du im Internet? Hier in der Bibliothek kommen die Sachen ja immer sieben Tage später an. Wie läuft das mit deiner Feuilletonlektüre?

Gumbrecht: Nein, also ich lese nur jeden Tag den Sport in der »New York Times«, das stimmt wirklich, das ist nicht nur eine Stilisierung. Wenn ich an einem Morgen keine Zeit habe, dann lese ich ihn hier im Büro. Und falls du das als Jux mit reinschreiben willst: Ich war in der 1. Klasse Volksschule unheimlich schlecht, und das war das Jahr, als Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat, und meine Eltern sagten: »Wenn du jetzt lesen kannst, dann kannst du immer Sport lesen.« Und da habe ich angefangen, über Fritz Walter in der »Würzburger Mainpost« zu lesen.

Also den Sport lese ich regelmäßig. Zum Beispiel fahre ich deswegen in Deutschland immer 1. und nicht 2. Klasse im Zug, weil es da for free FAZ, »Süddeutsche« und »Welt« gibt. Und wenn ich Zeit hab, ich mein ich find das sehr angenehm zum Lesen, aber ich verfolge das nicht, weil ich auch denke, nothing happens if I don’t know. Außer wenn mir jetzt jemand sagt, da ist was Interessantes, vor allem, wenn mir jemand sagt, da hat jemand auf dich reagiert. (lacht) Oder so, wie du mir letztens wegen deines Umblätterer-Artikels die Philosophie-Ausgabe der »Zeit« kopiert hast, das finde ich interessant. Auch wieder von der Idee her, dass die akademische Welt, also die Geisteswissenschaften, näher an das Feuilleton gerückt sind und die »Zeit« so ein Thema macht über Philosophie. Das möchte ich dann gerne lesen. Aber jetzt nicht, weil ich denke, ich muss informiert sein, das interessiert mich wirklich. Aber sonst verfolge ich nichts regelmäßig außer Sport.

»I had but one idea in my life.«

Der Umblätterer: Noch eine letzte Frage zu deiner Feuilletontätigkeit. Und zwar, weil du so viel schreibst, so viele Interviews gibst. Allein schon, wenn man nur sieht, was aus den letzten zehn Jahren im Internet zu finden ist. Da sind ja ganz oft Sachen bei, die sich wiederholen. Was sagst du dazu, stört dich das im Nachhinein?

Gumbrecht: Du meinst, dass ich immer dasselbe sage?

Der Umblätterer: Diese Stilisierung, um die es gerade ging, und gleichzeitig diese Präsenz, die du hast. Zum Beispiel diese Sportgeschichte, die du erwähnt hast, die würde man mindestens zehnmal finden. Bist du da irritiert?

Gumbrecht: Nö, also, erst mal würde ich meinen, bin ich vergleichsweise nicht so schlecht. Ich kann schon ein paar Sachen relativ kompetent. Und das würde ich rein als eine Marktsache sehen. Das mit dem Sportthema ist wahrscheinlich deswegen so, weil es relativ neu ist, so über Sport zu reden. Bredekamp hat das mal in der NZZ in einer Rezension über das Sportbuch geschrieben. Das fand ich natürlich toll von Bredekamp, »so hat noch niemand über Sport geschrieben«, ganz positiv und hyperbolisch gemeint, aber du könntest das ja auch deskriptiv meinen, so über Sport zu reden. Das letzte, was ich zu dem Thema gemacht habe, läuft grade, mit der FIFA und dem DFB im Vorlauf für die Frauenfußball-WM. Ich hab ein ganz langes Interview gegeben, warum ich Frauenfußball heute ästhetisch schöner finde. Um das zu erklären, muss ich ein paar Sachen wieder erklären, die in einem Buch stehen. Wie sollte ich nicht?

I can for example claim and am proud of it, ich hab im Leben noch kein Seminar zweimal gehalten, es gab auch keins mit noch mal demselben Titel. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn ich, sagen wir mal, in einem Lyrikseminar nicht Sachen sage, die ich schon gemacht habe. How could I? I get your point, und das ist mir immer etwas peinlich, das ist vielleicht eine gute Antwort, man muss sich aber dran gewöhnen.

Und es ist wichtig, dass das völlig counterproductive ist, wenn man das nicht macht. Denn mich freut es z. B., dass der DFB und grade die Frauen darauf aufmerksam geworden sind, wenn ich da jetzt den Punkt gut machen will und erklären will, warum es Gründe gibt, Frauenfußball heute ästhetisch besser zu finden, muss ich bestimmte Sachen erklären. Und wenn ich die nicht erkläre, weil ich denke, das gibt es ja schon irgendwo, verstehst du, es gibt da so eine gewisse Arroganz, man erklärt das dann nicht mehr. Ich sehe sowas auch bei Kollegen, »das hab ich ja schon in dem Artikel von 1993 geschrieben« oder so, und das geht einfach nicht.

Der Umblätterer: Das klingt ähnlich wie deine Kritik an der Wahrheitsliebe, dieser Drang zur Originalität der Wahrheit: Nur einmal ist man origineller Denker und darf es sein und dann ist die Idee bereits abgetreten.

Gumbrecht: Ich habe, kenne und verstehe den Ehrgeiz. Hayden White hat mal gesagt, das habe ich in »Unsere breite Gegenwart« zitiert, und es gefällt mir unheimlich: »I had but one idea in my life, but hey, most people had none.« Ich würde sagen, das mit der Präsenzsache, that I can claim. There is something that’s made a difference, and that’s associated with me. Ich möchte also nicht mein Leben damit beschließen, dass ich nur noch Präsenz mache, und ich möchte auch nicht dauernd sagen, »Stimmung, ja, das hat mit Präsenz zu tun«. I mean, I can show the genealogy, aber es ist nicht das 27. Präsenzbuch, was ich gemacht habe. Oder »Unsere breite Gegenwart« oder jetzt das Latenzbuch, klar, es ist eine Sequenz, aber ich hab einen Ehrgeiz, dass das schon etwas anderes ist, insofern verstehe ich diesen Druck. Aber ich denke immer, vorauszusetzen, dass alles, was du irgendwo gesagt oder publiziert hast, ja irgendwie available ist und deswegen nicht mehr gesagt werden muss, das funktioniert nicht.

Der Umblätterer: Für einen Feuilletonisten allemal.

Gumbrecht: Ich will noch eine Sache sagen, das ist ein großes Problem bei Dissertationen, weil Leute oft glauben, was sie schon mal gesagt haben oder was schon irgendwo steht, da muss man da nur eine Fußnote machen. Das ist nicht immer gut, du musst manchmal Dinge noch mal schreiben. Dann kann man sagen, also für alles weitere siehe da und da. Aber bei zwei von drei Dissertationen gibt es einen Punkt, wo ich sage, nein, also hier musst du zwei Seiten einfügen, weil ich weiß, was du sagen willst, aber das Argument ist nicht rund, wenn das da nicht steht.

Der Umblätterer: Noch ein paar kurze Fragen.

Gumbrecht: Okay.

Der Umblätterer: Schnellschussfragen.

Gumbrecht: Gut, so was mache ich gern.

Der Umblätterer: Ein Kolloquium mit deinen fünf Wunschgästen – wo und wer?

Gumbrecht: Fünf Wunschgäste … (Es klopft.) Ja?

(Adrian Daub, Assistant Professor of German, der nächste Bürobesucher, kommt herein.)

Gumbrecht: Ein Interview, we are almost in the final stretch. Du kannst dich gern beteiligen. Die Frage war, ein Kolloquium mit fünf Leuten, die ich einladen würde.

Der Umblätterer: Wo und wer.

Gumbrecht: Also, im Humanities Center hier im Sommer, wenn nichts los ist. Wen möchte ich einladen, also Sloterdijk immer, der ist im Kolloquium sehr, sehr gut. Dann vielleicht Harold Bloom, dann noch Martha Nußbaum, ich möchte einladen Adrian Daub und dich.

Adrian Daub: Ich komm auf jeden Fall. (Auf dem Tonband Gelächter.)

Der Umblätterer: Ich will Euch nicht aufhalten.

Gumbrecht: Nein nein, komm, mach, es ist ja Schnellschuss.

Der Umblätterer: Es gäbe auch noch eine ganze Seite mit …

Gumbrecht: Mach kurz Schnellschüsse.

Der Umblätterer: Die nächste hat mit dem Tisch, an dem wir sitzen, zu tun, bzw. mit dem, was auf ihm steht: Dr Pepper oder Coke?

Gumbrecht: Ja, das hat sich geändert, normalerweise Diet Dr Pepper, das ist richtig, in recent for some reason I like Zero Coke, ich bin im Moment in so einer Schnellphase, jetzt habe ich gern das mit Lime, hier, Coke Light Lime.

Adrian Daub: Das überrascht mich jetzt auch ein bisschen.

Gumbrecht: Ja ja, eigentlich Dr Pepper, ich meine, man mag das weiter, ich weiß nicht, eine Übergangsphase.

Der Umblätterer: Du hast einen Jeep Wrangler ’87, richtig?

Gumbrecht: Nee, ’89.

Der Umblätterer: Hast du den gekauft, als du hier angekommen bist?

Gumbrecht: Nee, nicht gleich, da hatte ich kein Geld.

Der Umblätterer: Dann geht die Frage nicht, dann überspringen wir die.

Gumbrecht: Du willst wissen, ob das wirklich wahr ist, dass das aus der Erinnerung an die GIs war, die Väter von meinen Klassenkameraden in der Volksschule waren.

Der Umblätterer: Wahrscheinlich will ich das wissen, ja.

Gumbrecht: Ja, das ist richtig. Unmittelbar als wir ankamen, habe ich kein Geld gehabt.

Der Umblätterer: Dein Anathema?

Gumbrecht: Also ein Thema, über das man überhaupt nicht reden soll? (überlegt) Na ja, da haben wir schon vorhin drüber geredet, wie soll man die Geisteswissenschaften in Zukunft verändern, sozusagen, programmatisch. Das ist okay im Sinn dieses Drifts, dass man nur reagieren kann auf das, was passiert, aber so ein »Das sollen sie eines Tages werden«, das bitte nicht.

»Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan
je gewesen.«

Der Umblätterer: Welches der Memorabilia in deinem Büro hast du hier, weil du dachtest, du vergisst vielleicht seine Herkunft und nicht das, was es darstellt oder abbildet.

Gumbrecht: Ja, das ist die Todesanzeige von meinem Mathematiklehrer. Weil, das war immer ganz furchtbar, ich hab mir immer gedacht, dass ich saudumm bin, weil, ich meine, in Mathematik konnte ich nur gut sein, wenn ich auswendig gelernt habe vor den Klassenarbeiten in Bayern. Der hat ganze lange gebraucht, bis er gestorben ist, hatte auch den Namen Wohlleben, und jetzt ist hier die Todesanzeige von Herrn Wohlleben.

Der Umblätterer: (Blick zur Pinnwand.)

Gumbrecht: Das ist nicht nur, aber auch ein memento mori, aber auch ein Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch nicht so schlau bin, wenn ich da auf Herrn Wohlleben kucke. Ich hatte wirklich immer einen Albtraum. Ich kann, weil ich so wenig schlafe wahrscheinlich, mich nie an Träume erinnern.

Aber an einen Traum kann ich mich immer erinnern, und der hat damit zu tun, dass ich dann ein ganz glorreiches Matheabitur geschrieben habe. Aber ich habe mir das selber nie zugetraut und die Geschichte ist, ich kann sie kurz erzählen. Also, ich sitze hier, und es kommen so Männer mit grauen Regenmänteln rein und sagen (bayrischer Akzent): »Guten Tag, Herr Professor, wir sind vom bayrischen Kulturministerium und wollten Sie noch mal aufsuchen, denn bevor die Abiturarbeiten von 1966 geshreddet«, wie heißt das auf Deutsch, vernichtet, »vernichtet werden, wolln mia no ma senn, es ist nämlich Zweifel aufgekommen, ob das mit rechten Dingen zugegangen ist mit ihrem Mathematikabitur.«

Und dann haben sie hier das Matheabitur von 1966, und ich sitze hier und komme zunehmend ins Schwitzen, und nach vier Stunden kommen die zurück und sagen: »Ja, gar nix, das ham wir uns gedacht. Würden sie jetzt bitte mit uns zum Präsidenten kommen, weil Sie sind nicht nur kein Professor mehr, Sie sind auch kein Doktor, und Sie haben nicht einmal ein Abitur.« Im besten Fall wache ich dann auf, im schlimmeren Fall wache ich auf, wenn ich bei Hennessy [dem Präsidenten von Stanford] bin, im schlimmsten Fall wache ich auf, wenn ich Ricky [seine Frau] anrufen und ihr erzählen muss, »that’s it«.

Der Umblätterer: Okay, und die letzte Frage: Welche ist die zurzeit in deinem Kopf präsenteste Widmung in einem deiner Bücher, an dich oder nicht an dich.

Gumbrecht (überlegt murmelnd).

Der Umblätterer: Weil ich weiß, die sind alle voller Widmungen, die hier stehen.

Gumbrecht: Ich kann dir das sagen, wenn du die wahre Antwort willst, weil ich grade über Jauß etwas schreibe, und da habe ich natürlich meine ganzen Jauß-Bücher hervorgeholt, und der hat mit seiner Ameisenschrift, die klein aber lesbar war, eine Widmung geschrieben, und ich hätte nicht gedacht, dass das so schlecht ist. In »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik«, da steht drin, »Für Isa und Hans Uuhlrich …«, langgezogenes U, hat er immer gesagt, der konnte Sepp nicht sagen, weil er irgendwie … »Für Isa …«, Isa war meine erste Freundin, die war Psychiaterin, »Für Isa und Hans Uuhlrich, da hermeneutisch gleichermaßen betroffen – von Ihrem Hans«. Und diese Kombination von first name und Sie und »Isa und Hans Uuhlrich«, und dieses »da hermeneutisch gleichermaßen betroffen«, weil er kapiert, dass der Psychiater auch was mit Hermeneutik zu tun hat, das fand ich sowas von … Das geht mir also leider nicht aus dem Kopf. Ich würde das gern shredden. Ich seh das auch vor mir, da hat er immer dann Hans Robert, und dann so ein ganz langes ›J‹ … na ja, ich muss das, glaube ich, aus dem Buch rausreißen.

Der Umblätterer: Okay, das war’s.

Gumbrecht: Die anderen in meinem Kopf sind jetzt auch alles Jauß-Widmungen. Zur Habilitation hab ich ein klar von ihm schon gelesenes Exemplar des zweiten Bandes von Max Frischs Tagebuch bekommen. »Zum schönen Ereignis vom 20. Juni 19…«, wann war das, »19…74«, den hatte er also schon gelesen gehabt. Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan je gewesen. Okay. (Seine Sekretärin Margaret kommt herein, mit Papieren.) Okay, okay.

Okay, okay. Ich gehe ins Freie, um das Eckrund von Pigott Hall herum, quer über den Circle of Death und zu meinem zweiten Morgenkaffee.
 


rebell.tv …

Konstanz, 23. Dezember 2010, 17:18 | von Marcuccio

… ist ja mit dem Jahreswechsel Geschichte. Gerade hat Tina Piazzi das auch per Rundschreiben verkündet:

»Am 31.12.2010 nehmen wir rebell.tv vom Netzt und präsentieren eine neue, konstellatorische Homepage auf den bisher bekannten Adressen und natürlich auch auf http://dfdu.org. Die über 3000 Video-Schnipsel, die rund 500 Podcasts werden online nicht mehr verfügbar sein. Die fast 16'000 Einträge und Hyperlinks im Zettel­kasten (Blog) gehen verloren. Die multimedialen, interaktiven Magazine bleiben online, die Wochenkommentare von Hanspeter Spörri mit den Werte- und Entwicklungsquadraten sind in Band 1 von ›Die Form der Unruhe‹ dokumentiert.«

Als atemberaubende Alternative zum Feiertags-Fernsehen empfehlen wir bis Silvester (und eben nur bis Silvester) 12 Lieblingsmomente von rebell.tv. D!a!n!k!e!, SMS, dafür:

1. In der Krypta des Cabaret Voltaire. Christoph Schlingensief holt bei seiner Mom telefonische Auskünfte über den Dadaismus ein: (27.10.2009)

Screenshot von rebell.tv


2. SMS bei Matussek im Büro. Der schaut rebell.tv: (31.8.2007)

Screenshot von rebell.tv

M.M.: Und Sie machen die Seite ganz alleine oder was?
SMS: Logo. Ich mach nichts anderes!
 

3. Henryk M. Broder signiert Bücher und prahlt damit, wie viele Kaffeehäuser von Zürich er schon durch hat: (29.10.2006)

Screenshot von rebell.tv


4. SMS auf Schneetour zum Herrnhuter Stern: (12.3.2006)

Screenshot von rebell.tv


5. SMS auf der Zoo Art Fair in London: »Joseph Beuys‘ Nightmare«. Allein schon wegen der Geigen-Sirenen: (03.11.2008)

Screenshot von rebell.tv

Im Urteil der NZZ »so ›trashig‹ wie ein unbeholfenes Ferienvideo und gleichzeitig so haargenau geschnitten und montiert, wie es sich für ein subversives Werk gehört«.
 

6. SMS als Anchorman der 10-Uhr-Nachrichten. Höhepunkt in dieser Folge ist die Verlesung des »Spiegel«-Gesprächs zwischen Safranski und Matussek und die unbändige Freude über bestimmte Formulierungen darin: (3.9.2007)

Screenshot von rebell.tv


7. Hermann Nitsch als Maskottchen von rebell.tv (»der mit den Augen klappt«): (12.7.2007)

Screenshot von rebell.tv


8. Bazon Brock besucht die Sendezentrale von rebell.tv: (15.7.2009)

Screenshot von rebell.tv


9. Käte Ledig-Schön zu SMS: »Machen Sie auch Kunst? Oder nur Fernsehen?« (20.5.2006)

Screenshot von rebell.tv


10. SMS als Field Correspondent für »Rocketboom«. Nach 1:50 Minuten wird zu SMS geschaltet. Der hat eine Frage an Riz Khan von Al Jazeera: »What could we learn right now from the Arabic World?« (17.1.2010)

Screenshot von rebell.tv

(Direktlink zu YouTube.)
 

11. Ein Tagtraum in der U-Bahn: »Nächste Station: Neukölln«. (3.2.2009)

Screenshot von rebell.tv


12. Anstiftung zur Rebellion: »Get off your shoes«. (28.12.2008)

Screenshot von rebell.tv


Und der Abspann für die Ewigkeit:

»Im Namen des Ärgers, der Wut und
des heiligen Zorns. Gehet hin in Unruhe!«

 
(Die Links hier dürften also ab dem 1. Januar alle tot sein, außer Nr. 10. Die Screenshots bringen wir mit freundlicher Genehmigung des Urhebers. Und den aus der Seitenleiste herauszwinkernden Hermann Nitsch haben wir hier archiviert [GIF, 363 kB].)
 


Die Welt als Schopenhauer und Überschrift

Konstanz, 25. August 2010, 18:44 | von Marcuccio

Gabriel ist mir im Traum erschienen, der hier schon öfters erwähnte Überschriftenerfinder. Und zwar in Form von Christoph Poschenrieder, der Überschriften gefischt hat. Überschriften aus dem großen Meer der Anspielungen, mit denen Journalisten und namentlich Feuilletonisten gern Buchtitel, Filmtitel, Songtitel usw. umsegeln. Klassisch hierzu natürlich schon der ewige MRR:

  • »Jenseits der Literatur« = Überschrift seines Verrisses zu Martin Walsers »Jenseits der Liebe« (1976)
  • »Die Angst des Dichters beim Erzählen« = Überschrift zu Peter Handke (1972)

Es gibt gewisse ungeschriebene Gesetze der Branche: Wenn z. B. Franka Potente neulich einen Erzählband vorlegt, dann kann die Überschrift natürlich nur wie lauten? Genau:

  • »Lola schreibt« (Tagesanzeiger, 5. August, und WELT, 7. August)

Witzig ist es dann eben auch mal, Langzeitprofile anzulegen. Christoph Poschenrieder hat genau das getan und eine Liste gesammelter Verballhornungen vorgelegt, die auf Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« anspielen:

  • »Die Welt als Willy und Vorstellung« (Tagesspiegel, Artikel über die SPD)
  • »Die Welt als William und Vorstellung« (ZEIT, Artikel über Shakespeare am Berliner Ensemble)
  • »Die Welt als Wille und Wechselstrom« (FAZ)
  • »Die Welt als Pille und Vorstellung« (SZ-Magazin)
  • »Die Welt als Wille und Vorurteil« (Der Standard)

Diese und weitere Findungen sind nachzulesen im aktuellen Diogenes-Magazin (Nr. 4, Sommer 2010, S. 22).

Wieso sammelt Poschenrieder Schopenhauer-Überschriften? Weil er einen Schopenhauer-Roman vorgelegt hat: »Die Welt ist im Kopf«. Das Buch liest sich schnurstracks weg. Ein bisschen so als hätte Daniel Kehlmann über Schopenhauer & Lord Byron statt über Humboldt & Gauß geschrieben.


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2009

Leipzig, 12. Januar 2010, 06:35 | von Paco

Endlich kommt er wieder ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf, zum nunmehr *fünften* Mal:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2009:

1. Maxim Biller (FAS)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henryk M. Broder (Tagesspiegel/Spiegel)
4. Wolfgang Büscher (Zeit)
5. Hans Ulrich Gumbrecht (Literaturen)
6. Nora Reinhardt (Spiegel)
7. Tom Kummer (Freitag)
8. Birk Meinhardt (SZ)
9. Felicitas von Lovenberg (FAZ)
10. Dietmar Dath (FAS)

Der 2009er war wieder ein hervorragender Jahrgang des deutsch­sprachigen Feuilletons. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007 und 2008 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Auch in diesem Jahr hat sich das Consortium bei der Auswahl und beim Ranking auf ein paar Wochen hin verfeindet, hehe. Auf unserer Longlist standen noch andere unbedingt lesenswerte Feuilletontexte, etwa die ganz hervorragende Robert-Enke-Berichterstattung von Ralf Wiegand in der SZ, Alexander Smoltczyks »Ciao bella«-Artikel im »Spiegel«, Niklas Maaks Text über das Ende der deutschen »Vanity Fair« (FAS, 22. 2. 2009, S. 29), das Broder-Biller-Doppelinterview im SZ-Magazin oder Jochen-Martin Gutschs »Spiegel«-Artikel über Boris Becker.

Und dass die Schweiz 2009 so sehr mit sich selbst beschäftigt war (bröselndes Bankgeheimnis, Libyen-Affäre, Minarette), hat irgendwie auch das NZZ-Niveau gedrückt. Entdeckt haben wir aber Samuel Herzog, der zwar stets wenig Raum bekommt für seine Kunstbericht­erstattungsartikel in der NZZ, den aber ganz hervorragend ausfüllt.

Usw.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque


Abonniert haben wir

Konstanz, 20. Oktober 2009, 23:25 | von Marcuccio

Sehr schön. Peter von Matt, Germanist mit dem besten Buchtitel des Jahres (»Wörterleuchten«) feiert die Zeitung! Im aktuellen NZZ Folio (10/2009, S. 63–64) geht es erst mal um Leser-Blatt-Bindungen: »Abonniert haben wir …«

Wir erfahren: Im Hause von Matt liest man die

  • Zeitung für Deutschland (FAZ)
  • Zeitung für die Schweiz (NZZ)
  • Zeitung für Zürich (Tages-Anzeiger)
  • – und die Zeitung für den Zug:

»Für längere Zugreisen kaufe ich regelmäßig die International Herald Tribune, da finde ich in jeder Nummer etwas, das ich sonst nirgends bekomme.«

Dann geht es um Ansprüche:

»Die Zeitung ist für mich eine Art Sparringpartner für meine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, mit meiner Welt. Ich will von einer Zeitung gefordert werden. (…) Ich werde nur gefordert, wenn mir etwas begegnet, was meine momentane Kompetenz ein bisschen übersteigt. Das ist die Aufgabe der Zeitung. Sie muss sich bemühen, nicht einfach Leser, sondern gute Leser anzusprechen.«

… um Begeisterung:

»Dass ich zwei grosse Blätter vor mir habe, ist eine geniale Erfindung. Ich kann da etwas ganz lesen, dort nur den Lead oder die beiden letzten Sätze. Und dann kann ich umblättern. Das kann ich so bei keinem anderen Medium. (…) Ich kann vorwärts und rückwärts lesen, ich kann Sachen herausreissen, habe die Möglichkeit eines durchaus gestalterischen Umgangs mit der Information.«

… und um die Idee von Verbindlichkeit:

»(…) ich kann mir auch vorstellen, dass ich mich daran gewöhnen könnte, Zeitungen nur noch online zu lesen. Bloss weiss ich da nie genau, was die bringen und was nicht. Die gedruckte Zeitung ist da verbindlicher, da weiss ich: Das ist alles, was sie an diesem Tag zu sagen haben.«

Usw.


Tarantino und das deutsche Dorf am Piz Palü

Konstanz, 26. August 2009, 09:58 | von Marcuccio

»Schneefall im Hochsommer«, das ist eigentlich schon das Höchste, was man von einer NZZ-Überschrift im August erwarten kann. Im zugehörigen Artikel ging es um eine Ausstellung, hinter der ich ja zuerst eine Jörg-Fauser-Werkschau vermutete:

»Schnee. Rohstoff der Kunst«

Im VLM Bregenz gab es dann einen großen Bergfilm-Tag, gezeigt wurden: »Die weiße Hölle vom Piz Palü« & »Der weiße Rausch« – dazu die Stills live kommentiert von Mathias Fanck, der über seinen Groß­vater Arnold Fanck aus dem Nähkästchen plauderte (»Warum er rauchte, verstehe ich bis heute nicht«).

Durch Fanck kamen übrigens auch Luis Trenker und Leni Riefenstahl zum Film. Was jetzt vielleicht ein pindarischer Sprung ist, aber auf jeden Fall Quentin Tarantino gefreut haben dürfte, der laut »Spiegel«-Interview von neulich zwar offiziell nur Riefenstahl die Regisseurin verehrt, aber, wer weiß, bestimmt auch Leni das Skihaserl aus den Fanck-Filmen ganz gut findet.

Wie er überhaupt von der deutschen Bergfilmhoheit ganz fasziniert scheint. Hätte er sonst extra »ein deutsches Dorf« an den Fuß des Piz Palü geschmuggelt? Es ist die Szene in den »Inglourious Basterds«, die Claudius Seidl als Engadin-Urlauber filetiert hat, um richtig­zustellen, »dass am Fuß des Piz Palü vielleicht Pontresina liegt, aber bestimmt kein deutsches Dorf«. Deutsches Dorf vielleicht nicht, aber ein Ur-Ort deutschen Bergfilmschaffens eben irgendwie doch. Also wohl ein typischer Tarantino-Gruß an die Kino­geschichte.


Tarzan und das deutsche Feuilleton

Paris, 24. August 2009, 10:56 | von Paco

Tarzan of the Apes (Cover)Nachdem ich mehrfach dazu aufgefordert wurde, war ich nun endlich einmal im Musée du Quai Branly, um mir die »Tarzan!«-Ausstellung anzusehen. Ich mäanderte den verschlungenen Eingangspfad nach oben und ging immer dem Gejodel nach: Iaaaiaiaaaiaiaaa!

Alles begann 1912 mit E. R. Burroughs‘ Roman »Tarzan of the Apes«. Es folgten 25 weitere Bände mit immer absurderen Plots. In »Tarzan and the Lost Empire« (1929) etwa findet der Lendenschurzträger mitten im afrikanischen Urwald einen alten Außenposten des Römischen Reichs, der dort die Jahrtausende überdauert hat, und wird sofort in die Arena geschubst, wo er allerlei wildes Getier bewältigen muss.

Die künstlerische Verarbeitung der Figur übernahmen die Filmstudios und Comic-Zeichner, mit deren Produkten die Pariser Ausstellung dann auch vor allem bestückt ist. Überall flimmern Filmausschnitte und prangen flächenweise Originalzeichnungen. Soweit die Sachlage, die auch vom tarzanbegeisterten deutschen Feuilleton aufs Genauste geschildert wurde, denn es gab (mindestens) fünf hauptamtliche Rezensionen:

Sascha Lehnartz: »Tarzan hangelt sich von der Liane in die Vitrine«, WELT, 26. Juni 2009

Werner Spies: »Ich Tarzan, du Leser«, FAZ, 6. Juli 2009

Johannes Willms: »Sexprotz im Dschungel«, SZ, 11. Juli 2009

Martina Meister: »Der Schrei des Menschenaffen«, FR, 14. Juli 2009

Samuel Herzog: »Jungfer im Grünen«, NZZ, 25. Juli 2009

Der persönlichste und sprachgewaltigste Artikel ist der in der NZZ. Unter all den eindrucksvollen Jugenderinnerungen, schönen Metaphern und Wortfindungen (»tarzanös«) kommt sogar ein Kalauer ziemlich gut, nämlich wenn der Autor rhetorisch fragt, ob an den Affenmensch-Storys nicht womöglich der »Tarzahn der Zeit« genagt habe.

In der FAZ gibt es einen veritablen Essay zum Thema, der sich gut wegliest. Werner Spies zieht erwartungsgemäß auch ein paar überraschende kunsthistorische Vergleiche. Zur »Haken schlagenden Strichführung« der Comics schreibt er: »Die Lianen, grafische Lassos, lassen an die ›écriture automatique‹ der Surrealisten denken.«

Martina Meister in der FR findet die Schau zu kuschelig. Die tarzanischen Abenteuer seien beispielsweise an keiner Stelle mit Burroughs‘ Eugenik-Interesse abgeglichen worden. Am Mythos habe man eben nicht kratzen wollen, ganz im Gegenteil: Am Ende des Parcours wird Tarzan als Öko-Held aktualisiert, der auf den Urwald aufpasst und ihn vor äußeren Gefahren schützt.

Sascha Lehnartz in der WELT hat einen sehr, sehr schönen Satz gefunden, um seine Gelangweiltheit auszudrücken: »Das Ganze wirkt wie ein mit Requisiten ausstaffierter Schulaufsatz.«

Johannes Willms sieht das genauso. Die SZ hat wie so oft die beste Überschrift (»Sexprotz im Dschungel« – superst!), dabei aber den schlechtesten Artikel. Denn Willms doziert vor sich hin und kommt erst im vorletzten Absatz auf die Ausstellung selbst zu sprechen, die er für »harmlos« und »reichlich unspektakulär« hält. Was letztlich auch stimmt.

Noch bis 27. September.
Bild: Wikimedia Commons.