Geistzeit

Stanford, 28. Januar 2011, 08:19 | von Srifo

Es war die »Atemwolke« eines Mannes Ende sechzig mit Baskenmütze, die gerade in der »Zeit« (4/2011) die nötige Aura zum Ausrufen des philosophischen »Debattierbürgertums« geschaffen hat. In den mittel­grauen Luftzug hinein meldet der »aufgewühlte Herr« gegen Ende des kleinen Reports »Freie Geister im Café« (S. 41/42), dass er »nichts Konkretes« aus dem soeben von ihm in Bonn beigewohnten »148. phi­losophischen Café« mitnehme. Jedoch halle Tage später nach, was we­gen Wolkigkeit eben nicht sofort per Aufklärung auf Sicht gewonnen werden konnte.

Was der »Zeit«-Autor Christian Schüle da abhört, ist aber nicht das Gurgeln theoretischer Versinterung per se (um eins der schönen Wörter von Werner Spies zu klauen, ein anderes wäre »pastose Malmaterie«). Nein, er erzählt von etwas, das Hans Ulrich Gumbrecht vor einiger Zeit in der FAZ schon mal »eine neue Sensibilität für die Phänomene der Stimmung« genannt hat.

Zur Feier der philosophischen Verwolkung genehmigte Adorno dage­gen noch 1962 im »Merkur« eine grimmige Fürwörtertirade sich. Der Text »Wozu noch Philosophie«, dessen wohlgewählter Ton das Frage­zeichen macht – »eine Frage …, für deren Formulierung ich selbst ver­antwortlich bin« –, prustet vor kritischem Ärgernis über all das hirnlose Blahblah:

»Wären nicht alle positiven Redeweisen tief verdächtig geworden, so könnte man sich ausmalen, daß erst einem solchen zugleich freien und in sich reflektierten Bewußtsein das sich entfaltete, was die traditionelle Philosophie sich verbaute, indem sie sich selbst mit dem verwechselte, was sie deuten will.«

Gumbrecht liegt da gefühlt ähnlich, im Ton aber eher glucksend, wenn er vom »asketischen Selbstmitleid der Dekonstruktion« auf die Stimmung der Skepsis in der »›Literaturwissenschaft‹, wie man in Deutschland sagt«, kommt. Hier in Stanford hat er gerade ein Seminar zum anstehenden Stimmungsbuch gegeben. Unter dem (selbst von ihm als Romanist gepriesenen) gleißenden kalifornischen Licht verflog bei den Thomas-Mann-, Machado-de-Assis- und Heidegger(!)-Sitzungen dem Hirn jede wolkige, deutsche ›Stimmung‹, wobei gleichsam auf ewig klar wurde, was z. B. einen Bewohner der diesigen Oberrheinebene dazu bewegt, unter ›Geischt‹ auch Spirituosen zu zählen. Nebel, vernebelnd und benebelt liegen dicht (pardon) beieinander.

Zwischen Weinstüble und Silicon Valley wird jedenfalls die im Untertitel angemahnte Debatte »Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur« ausgetragen werden. Ob Gumbrecht geplant hat, sein Buch mit dem Karnevalsschlüsselwort im Titel kurz vor der Fastnachtszeit zu veröffentlichen, werden hoffentlich die Rezensionen eruieren!

Putzig ist übrigens noch, wie das »Titelcomposing« auf der Frontseite der »Zeit« der Uffizienbüste des Aristoteles eine kalifornischen Yoga-Mom um den Hals geworfen hat (ihr Prius ist nicht zu sehen, vernünf­tigerweise). Stimmungsvoll schattet sich letztlich auch das Blutkarmin ihrer Lippen in den geheimnisvoll-violetten Schriftzug »Die neue Lust an Philosophie« ab.
 

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