Archiv des Themenkreises ›Le Monde diplomatique‹


Touristische Ernsthaftigkeit

La Rochelle, 16. August 2011, 01:53 | von Papageno

Je crois qu’il est très important de comprendre que la
France est simultanément le pays des révolutions
et une grande terre de la réaction.

Alain Badiou

»No, I have never been there, this is my first time in Europe, but I heard it is absolutely gorgeous!«, meint Steve, der mir im TGV von München nach Paris gegenübersitzt. Steve kommt aus Miami, hat gerade das College hinter sich und ist auf großer Europatour. München habe ihm, nach Berlin natürlich, am besten gefallen, nur seien die Bayern so unfreundlich gewesen. »A friend of mine told it is even worse in France. He said that the French always answer you in English, even if you try to speak their language.«

Das stimmt natürlich beides nicht. Wie so oft wollte hier jemand einem Davonreisenden aus purem Neid mit einem touristischen Vorurteil Angst einjagen. Denn die Pariser sind in den letzten Jahren zum Beispiel extrem zutraulich und sehr, sehr freundlich geworden, vgl. Gumbrecht 2010.

Wenn man so den Artikel »Charming Paris. Quand la Cité devient parc à thème« von Benoît Duteurtre liest, in der Augustausgabe von »Le Monde diplomatique«, könnte man allerdings meinen, Steves Freund habe doch noch Recht. Der mürrische Autor behauptet da nämlich, dass man in Paris einfach nicht mehr leben könne, besonders in den Sommermonaten sei es unmöglich. Die Attitüde kultureller Überlegen­heit, wenn die amerikanischen Touristen sich anmaßen, jemanden mit »Parlez-vous anglais?« anzusprechen, aber auch die englische Ausschilderung der Sehenswürdigkeiten, all das vermiest Duteurtre reichlich den Sommer. Nur auf Kitsch seien die Touristen aus, das wahre Paris bleibe ihnen allen ja verborgen, es mangele einfach an touristischer Ernsthaftigkeit.

Dieses ewige autochthon-antitouristische Lamento hätte natürlich genau so schon in den letzten 50 Jahren erscheinen können. Gott sei Dank beobachte ich wenig später am Gare de Montparnasse eine amerikanische Familie in Abercrombie & Fitch-Aufzug, die, nach reiflicher Vorbereitung mit einem Wörterbuch, belegte Baguettes bei »Paul« bestellt. Die Verkäuferin antwortet dabei ganz langsam auf Franzö­sisch, zum Schluss wünscht sie ihnen sogar noch einen schönen Sonntag!

Dann lese ich noch den Artikel »Dans le laboratoire de l’écolo-bourgeoisie« von Olivier Cyran über die Grünen, in der Hoffnung, dass die Deutschen vielleicht ein bisschen besser wegkommen. Leider glaubt Cyran, dass Karl-Theodor zu Guttenberg der FDP angehört, und das sind leider nicht mal Breaking News. Das kommt einfach davon, dass man die Praktikanten die ganze Arbeit machen lässt, ähnlich wie ja schon letzten Sommer, als »Monocle« so schön vom Münchner Transrapid geschwärmt hat.

Und dann habe ich in Steves neuer Ausgabe des »Lonely Planet« noch gelesen, dass ausdrücklich davor gewarnt wird, sich in Paris in die Nähe der Rue d’Ulm zu begeben. Dort verbrennen nämlich aufstän­dische französische Intellektuelle Abercrombie & Fitch-Sweater, man fürchte, dass sich die Aufstände ausweiten.