Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 5):
»Vielleicht werden wir ja verrückt« (2002)

Berlin, 12. April 2013, 08:20 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 59)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Der Essay »Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus«, wohl kurz nach dem 11. September 2001 entstanden, ist ohne jeden Zweifel Ulla Berkéwiczs Meisterwerk. Nicht nur, weil man hier als Leser sein medizinisches Vokabular ungemein erweitern kann (ich hatte z. B. nicht gewusst, was auf S. 101 der 2009er Ausgabe »gangränös« bedeutet, weiß es aber nun, nachdem ich im Duden nachgeschlagen habe: »brandig«), sondern auch weil Ulla Berkéwicz hier zu ihrer mundartlichen Hochform aufläuft: Da »haut der Vadder aufn Tisch, haut die Omma aufn Kopp, haut der Oppa übers Ohr« (S. 100), und an einer anderen Stelle heißt es: »die Schmidtys […] meinen, man könne sich eben nun ma nich dümmer stellen, als man nun ma eben nun ma is« (S. 12).

Einen abendfüllenden Disput wäre sicherlich auch diese Passage wert: »Die Mischung aus Koran und Schießübungen mitsamt dem gemeinsamen Haschischgenuß […] bringen […] jede ›Blutige Braut‹ um den Verstand, und die spirituellen Energien, die durch die Verknüpfung von Moschee und Terror die Glut entfachen, die ihren sozialistischen Vorkämpfern nicht mal in Gedanken an die Eier von Che Guevara in den Sinn gekommen wären, um den freien Willen.« (S. 40f.) In der Tat streitwürdig! Ich selbst halte es nicht für ausgemacht, dass die Mischung aus Koran, Schießübungen und Haschisch spirituelle Energien um deren freien Willen bringt, einfach weil ich bezweifle, dass spirituelle Energien einen freien Willen haben – aber da gibt es sicherlich auch gute und beste Argumente dagegen.

Herausragend dann wieder dieser einprägsame Kinderreim, den Ulla Berkéwicz vielleicht sogar selbst gedichtet hat: »›Gott ist tott und alle fott, / durch die Wüste, tocka hott.‹« (S. 120) Um nun aber wieder zu den Moscheen zurückzukommen: Gegen Ende des Buches schildert Ulla Berkéwicz sehr plastisch die Inneneinrichtung einer Moschee hinterm Frankfurter Hauptbahnhof, und wir erfahren, dass die dortigen Kristalllüster von Woolworth stammen! (S. 108f.)

An einer anderen Stelle kommt sie auf Hitler zu sprechen: »[A]ls er«, heißt es da, »1938 in die Lautsprecher des Reichstags brüllte: ›Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge‹, jubelte eine ganze Nation ihm zu« (S. 21). Man versetze sich einmal in das Jahr 1938 zurück, in den damaligen Reichstag, und man wird tatsächlich vieles für möglich halten – auch dass Hitler den besagten Satz in die Lautsprecher des Reichstags brüllte.

Sätze in einen Lautsprecher brüllen ist eine für Choleriker womöglich charakteristische Verhaltensweise. Aber eine merkwürdige Vorstellung bleibt es doch trotz alledem: Brüllte Hitler diesen Satz wirklich in die Lautsprecher des Reichstags? Hitler stand doch vermutlich eher am Rednerpult und brüllte in das Mikrofon, und die Lautsprecher werden dieses Gebrüll dann übertragen haben. Diese Lautsprecher hingen ja weiß Gott wo, schätzungsweise irgendwo hoch oben an den Wänden. Hitler wird sich doch wohl kaum die Mühe gemacht haben, den Weg zu den Lautsprechern zurückzulegen, im Reichstag die Wände hochzukraxeln und dann in diese Lautsprecher hineinzubrüllen. Zumal das ja auch völlig sinnlos gewesen wäre, denn wenn man in einen Lautsprecher hineinbrüllt, erreicht man mit seinem Gebrüll natürlich viel, viel weniger Leute, als wenn man in ein angeschaltetes Mikrofon hineinbrüllt.

Aber noch einmal: Vorstellbar ist es auf jeden Fall schon, dass Hitler, wie Ulla Berkéwicz schreibt, den Satz »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge« brüllte. Denn natürlich traut man Hitler auch sofort zu, einen solchen grammatikalischen Schmus fabriziert zu haben. Indes: Sprach er, auch wenn er zugegebenermaßen aus Österreich stammte, wirklich so schlecht deutsch? In dem zitierten Satz ist ja nicht klar, worauf das Pronomen seine sich bezieht. Das einzige Wort, auf das es sich in diesem Satz logischerweise beziehen könnte, ist Bestimmung, aber Bestimmung ist ja nun mal weiblich. Folglich dürfte es nicht seine Werkzeuge, sondern müsste ihre Werkzeuge heißen.

Sechs Jahre nach Erscheinen des Buches »Vielleicht werden wir ja verrückt« diente der zitierte Hitler-Satz Ulla Berkéwicz in einer Rede, die sie anlässlich des großen Erfolgs von »Hammerstein oder Der Eigensinn« vor Hans Magnus Enzensberger, 135 Mitgliedern der Familie Hammerstein und weiterem Publikum hielt, als Exordium; nunmehr aber fügte sie dem Zitat eine merkwürdige Frage hinzu. Sie sagte nämlich: »Als Hitler 1938 in die Lautsprecher des Reichstags brüllte: ›Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge‹, jubelte eine ganze Nation – oder nicht?« Warum dieses nachgeschobene »oder nicht«? Man weiß es nicht. Man weiß eigentlich nur, dass der Satz im Standardwerk von Max Domarus: »Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen«, I. Band: Triumph (1932–1938), Copyright 1962 by Dr. Max Domarus, Würzburg, Gesamtherstellung und Auslieferung: Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt a. d. Aisch, auf S. 849, dort zitiert nach dem ›Völkischen Beobachter‹ Nr. 101 vom 11.4.1938, wie folgt wiedergegeben wird: »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts anderes als ihre Werkzeuge.«

Hitler war schon monströs genug, man muss ihm gar nicht unbedingt noch einen grammatikalischen Lapsus unterjubeln, der ihm womöglich nie unterlaufen ist. Man kann natürlich auch Hans Magnus Enzensberger, dem dieser Hitler-Lapsus aufgefallen sein dürfte, verstehen, dass er nach dieser Rede Ulla Berkéwicz gentleman-like sicherlich nicht korrigiert haben wird. Sowieso gehört es, wie ich bezeugen kann, zu den unangenehmsten Gefühlen überhaupt, die einen im Laufe des Lebens so überkommen, ausgerechnet Hitler gegen Ulla Berkéwicz in Schutz nehmen zu müssen.

Es ist bei alledem ja noch immer nicht ausgeschlossen, dass Ulla Berkéwicz, die in ihrem Buch »Vielleicht werden wir ja verrückt« keine Quelle für ihr Hitler-Zitat angibt, sich auf eine ganz andere Quelle gestützt hat als auf Max Domarus und dass sie nach der von ihr benutzten Quelle durchaus korrekt zitiert. Nach der von mir benutzten Quelle hat sich dann jedenfalls auch das Reichstagsproblem in Wohlgefallen bzw. in Luft aufgelöst, denn wie Domarus auf S. 848 schreibt, hat Hitler den Satz »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts anderes als ihre Werkzeuge« ohnehin nicht im Reichstag, sondern, am Abend des 9. April 1938, in der Halle des Wiener Nordwestbahnhofs gesprochen. Der Satz stammt, Domarus zufolge, aus der letzten Wahlrede, die Hitler vor der Volksabstimmung über den sogenannten Anschluss Österreichs gehalten hat.

Übrigens darf man dieses eventuelle Fehlzitat natürlich nicht überbewerten, es handelt sich bei den hier konstatierten Abweichungen letztlich ja sowieso bloß um Pipifax. Man sollte auch nicht vergessen, dass Ulla Berkéwicz keine gelernte Historikerin ist, sondern gelernte Schauspielerin, dass immerhin das von ihr angegebene Jahr 1938 stimmt, und dass sie auf der Bühne einen Text, in dem der besagte Satz, ob nun in der Adolf-Hitler-Fassung oder in der Ulla-Berkéwicz-Fassung, vorkommt, sicherlich in einer Weise rezitieren könnte, dass es dem Publikum kalte Schauer über den Rücken jagt.

Länge des Buches: ca. 168.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

Ulla Berkéwicz: Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus. Frankfurt/M.: Verlag der Weltreligionen 2009. S. 7–122 (= 116 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

3 Reaktionen zu “Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 5):
»Vielleicht werden wir ja verrückt« (2002)”

  1. Tim

    Bin kurz davor, mir ein Buch von Ulla Berkewicz zu kaufen. Lustige Idee mit den Festwochen, bitte mehr davon! Mal irgendwas mit Ulf Poschardt?

  2. hinz&kunz

    Gratulation! Wie so oft – großartig. Indes: „Sprach er, auch wenn er zugegebenermaßen aus Österreich stammte, wirklich so schlecht deutsch?“ Auch Hr. Josik wird verstehen, dass man als Österreicher das kleinere Übel will: Kann sein, dass Österreicher grammatikalische Defizite aufweisen (die sie mit den Bayern teilen), aber Hitler den unschuldigen Ösis zuzuschanzen, das geht nun mal gar nicht.
    G’schamster Diener!

  3. Ali Baba

    Möglich wäre ja immerhin auch noch, dass Hitler tatsächlich „seine“ gesagt hat und nur der Stenograph oder der Herausgeber es in „ihre“ korrigiert hat. Oder, dass er wenigstens „seine“ gemeint hat. Ulla traue ich alles zu, auch eine tiefere Einsicht in historische Wahrheiten. Und ist „seine Werkzeuge“ nicht viel wahrer als „ihre“? Schließlich heißt es History, nicht Herstory!

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