Autoren Archiv


100-Seiten-Bücher – Teil 41
Jenny Erpenbeck: »Geschichte vom alten Kind« (1999)

Düsseldorf, 2. November 2012, 12:20 | von Luisa

Das alte Kind ist zwar schon vierzehn und überhaupt nicht fein. Auf dem Cover der Taschenbuchausgabe sind trotzdem die weiß bestrumpfhosten Beine und schwarz belackschuhten Füße eines kleinen Mädchens zu sehen, das in einem festlichen Kleid auf einem Mahagonistuhl sitzt.

Woher das Kind kommt und wie es heißt, weiß zunächst niemand, es steht eines Tages einfach mit einem leeren Eimer auf der Straße und schweigt zu allen Fragen. Also steckt man es in ein schäbiges Kinderheim, wo es ganz zufrieden lebt, denn im Gegensatz zu den andern will es nicht heraus aus diesem ummauerten Gelände, sondern drin bleiben.

Die meisten Kritiker haben die Geschichte irgendwie auf die DDR bezogen. Die Frage, was es dann mit dem leeren Eimer auf sich habe, wollte bislang niemand beantworten. Dabei wäre der Eimer das richtige Covermotiv. Düster gezeichnet, kohlschwarze Schatten in der Höhlung, so dass man schon halb in Versuchung ist, sich zu bücken und den Kopf reinzustecken.

Die Art, wie das alte Kind und seine Überlebenstaktiken beschrieben werden, hat etwas Bohrendes, Hartnäckiges, Anziehendes. Als käme es auf genaue Erklärungen an, die dann aber ins Vage auslaufen. Oder als gäbe es doch noch etwas zu finden auf dem Eimerboden. Ein Irrtum natürlich, wie auch die Altersangabe des Kindes ein Irrtum war oder vielmehr eine Lüge. Die ganze Geschichte läuft anders, als man gedacht hat, und insofern passt natürlich jedes Cover außer dem richtigen.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind. Frankfurt/M.: Eichborn 1999.

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind. München: Goldmann 2001.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 39
Werner Herzog: »Vom Gehen im Eis« (1978)

Düsseldorf, 4. Oktober 2012, 13:05 | von Luisa

Im kalten November/Dezember 1974 ging Werner Herzog von München nach Paris, um die kranke Lotte Eisner vor dem Tod zu retten. Keine Wanderung war das, keine Landeserkundung, sondern Magie: Gehe ich, lebt sie. Kompass, Karte, Matchsack, feste Schuhe: knappste Ausrüstung, direkter Weg.

Die Wolken hängen niedrig, tagelang Regen, auch Schnee. Kahle Wälder, aufgebrochene Äcker, kümmerliche Dörfer. Dem Gehenden begegnen Armut und Angst. Das reiche Süddeutschland, das mäßig reiche Ostfrankreich scheinen bettelarm.

Abends, im Heu oder in irgendjemandes Ferienhaus (Scheibe einge­schlagen, genächtigt auf der Küchenbank), füllt er sein Notizheft. Er schreibt wie er geht: weiter, nur weiter, wie der Wanderer der »Winterreise«. Die Sätze sind kurz und brauchen keinen Zusammen­hang, sind Widerhall des Sehens und Denkens. Für die Schöpfung und den Sündenfall genügen zwei Bemerkungen: »Eine Glückseligkeit breitet sich aus und aus der Glückseligkeit erwächst jetzt ein Unding. Das ist die Lage.«

Fast vierzig Jahre ist das her, das Gehen als Beschwörung wurde keine Mode. Abenteuer hat Herzog nicht erlebt, aber vieles wahrgenommen. Durchnässt, die Füße voller Blasen, die Sehnen angeschwollen, ist er hügelauf, hügelab nach Paris gegangen, misstrauisch beäugt, in der Kälte der Einsamkeit. Er brauchte genau drei Wochen. Lotte Eisner lebte noch bis 1983.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München; Wien: Hanser 1978.

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München: Hanser 2012.

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100-Seiten-Bücher – Teil 24
Cesare Pavese: »Am Strand« (1942)

Düsseldorf, 19. Mai 2012, 09:59 | von Luisa

Abends ruft Giulio an. Er baut ein Haus.

– Und du, was tust du?
– Ich lese einen Hundertseiter von Cesare Pavese.
– Und?
– Wollte ich schon vor Jahren in den Container schmeißen.
– Und?
– Die Leute sind Ende zwanzig und haben ein Stubenmädchen.
– Hätt ich auch gern. Von wann ist das Buch?
– 1942.
– Gottogott.
– Lauter Hohlköpfe, Villa am Meer und liegen am Strand und tun gar nichts.
– Ich hab den ultimativen Bäderladen aufgetan.
– Erzählt wird das von einem Studienrat, stell dir vor.
– Es gibt ja so geile Fliesen heute. Sag mal, war da nicht Krieg?
– Nicht im Buch.
– Willst du nicht vorbeikommen und aussuchen helfen?
– Pavese hat sich umgebracht.
– Ach komm.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (ital. 112.500). – Ausgaben:

Cesare Pavese: Am Strand. Roman. Aus dem Ital. von Arianna Giachi. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1983.

Cesare Pavese: Am Strand. Roman. Aus dem Ital. von Arianna Giachi. München: Ullstein-Taschenbuchverlag 2001.

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Erzählen

Düsseldorf, 18. April 2012, 17:35 | von Luisa

Im Feuilleton der Samstags-FAZ hat Rainer Hank sehr schön erzählt, welche Erzählungen wirklich zählen und wie ein erfolgreicher Erzähler arbeitet. Der erfolgreiche Erzähler ist PR-Mann und schreibt keine Bücher, sondern Leute. Wirkliche Leute im wirklichen Leben. Ihr Erzähler erfindet, wer sie sind und wie das, was sie tun, zu verstehen ist. Wie alle Erzähler arbeitet er zwar mit Worten, aber am Subjekt, denn das Objektive existiert nicht, alles ist Deutung. Der Erzähler hat gute Arbeit geleistet, wenn seine Erfindungen konsistent sind und der Erfundene sie überzeugend vertritt.

Um dies zu erreichen, muss der Erzähler geheim bleiben. In der FAZ aber gab es nicht nur eine halbe Seite Text über den Geschichten­erfinder Alexander Geiser, sondern auch sein Foto. Das Foto steht farbig und nicht besonders groß auf der Website der Agentur, für die er arbeitet. Schwarz-weiß aufgeblasen auf eine halbe Zeitungsseite wirkt das Gesicht wie eine Maske. »Ihn gibt es nicht« steht darunter. Ziemlich gruselig.

Während ich noch auf das Foto starre, denke ich darüber nach, was für ein Erzähler der FAZ-Redakteur Hank ist. Er hat eine spannende Story erzählt. Er hat Geiser gezeigt, dass er auf Augenhöhe mit ihm ist. Für die Leser, die nicht so genau wissen, wie die Wirtschaft funktioniert, hat er das Entlarvungsspiel gespielt. Und im Einklang mit dem Foto hat er eine fabelhafte Roman- oder Serienfigur geschaffen, die ich gern ein bisschen lesend begleiten würde. Die Seite ist ein Gesamtkunstwerk, eindeutig. Hoffentlich to be continued.
 


Yellow Dots

Den Haag, 27. Januar 2012, 16:15 | von Luisa

Niesel auf Autobahnen und Gewerbegebiete, Bäume kahl, Kühe weggesperrt. Holland im Januar: grau. In Den Haag pfeift ein übler Wind, also lieber gleich ins Museum.

Dort, im Mauritshuis, überwintert das berühmte holländische Licht auf Vermeers »Ansicht von Delft«. Fast zwei Drittel des Bildes nimmt der Himmel ein, außerdem gibt es Wasser zu sehen (die Schie) und einen teils besonnten, teils schattigen Streifen Delfter Dächer hinter der Stadtmauer. Irgendwo darin soll das »petit pan de mur jaune« stecken, eine Mauerecke, so gut gemalt, »daß sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme«, was der Schriftsteller Bergotte gerade noch wahrnimmt, bevor er zusammenbricht und Proust zu einem seiner kürzesten Sätze inspiriert: »Er war tot.« (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Die Gefangene).

Zweifellos ist es das meistzitierte Mauerstück der Literatur, zweifelhaft ist, ob es außerhalb der Literatur überhaupt existiert. Dieter E. Zimmer beispielsweise suchte lange und gründlich und behauptete in der SZ: Nein. Kein Gelb, nirgends. Lange vor ihm sind jedoch verschiedene Autoren an verschiedenen Stellen fündig geworden.

Seit den zwanziger Jahren pilgern ganze Pulks von Proustiens nach Den Haag, um die Mauerecke zu suchen, »welche mit so viel Können und letzter Verfeinerung ein auf alle Zeiten unbekannter und nur notdürftig unter dem Namen Vermeer identifizierter Maler einmal geschaffen hat«.

Proust jedenfalls nutzte das Mauereckchen zu einem Ausflug in die Transzendenz, indem er von der Perfektion, mit der die Mauerecke gemalt ist, auf die Möglichkeit einer jenseitigen Welt schloss, in der dem Künstler das Verlangen nach solcher Perfektion eingepflanzt wurde. Kitschig auch der Satz über die in den Schaufenstern der Buchhandlungen aufgestellten Bücher Bergottes, die nach seinem Tod »wie Engel mit entfalteten Flügeln« die Auferstehung der Autorseele andeuten.

»Gezicht op Delft« ist das größte Bild, das Vermeer je gemalt hat (98,5 × 117,5). In zwei Meter Entfernung auf einem Rundsofa sitzend (wie das, auf welches Bergotte niedersank), sehe ich es von unten, während der Maler den Blick von oben wählte, wahrscheinlich den aus einem im zweiten Stock gelegenen Fenster. Diese unten-oben-Simultanschau ergibt einen ganz eigenen Effekt, der sich noch zu der Tiefenwirkung addiert; man blickt gleichzeitig als Maulwurf und als Möwe bis hinter die Nieuwe Kerk.

Aus der Nähe ist dann zu sehen, wie der Glanz und das Leuchten auf Mauern und Dächer und Wasser zustande kommen: Zahllose gelbe Pünktchen, getupft mit einem Pinsel von höchstens drei Haaren, sind über die Fläche verstreut. Dazwischen schwimmen nicht sehr realistische Farblinien, z. B. hellblaue an einer Schiffsreling. Der Effekt ist geheimzinnig en mysterieus und stimmt milde gegen metaphysische Mauerecken.


Das Mauritshuis wird ab April renoviert und für lange Zeit geschlossen. Die Bilder werden dann im Gemeentemuseum gezeigt.

 


100-Seiten-Bücher – Teil 20
Marguerite Duras: »Der Liebhaber« (1984)

Düsseldorf, 19. Januar 2012, 21:40 | von Luisa

In einem Interview mit Bernard Pivot verrät Marguerite Duras, dass der Roman zunächst »La photographie absolue« heißen sollte. Gemeint ist das Foto, das nicht gemacht wurde, dessen fragmentarische, aus Wiederholungen komponierte Beschreibung aber das Gedächtnis des Lesers erobert. Ein Foto von 1929, das die fünfzehnjährige Marguerite auf einer Fähre über den Mekong zeigt. Die Flussüberquerung gehört zu ihrem Schulweg, hier lernt sie den Liebhaber kennen.

»Der Liebhaber« ist ein irreführender Titel. Die Leidenschaft des zwölf Jahre älteren chinesischen Millionärssohns für die Tochter einer fran­zösischen Lehrerin beschert dem Buch die schillernde Oberfläche und den Sensationserfolg. Tabubrüche, Hitze, Hochmut der weißen Rasse, Saigon und seine Geheimnisse – um sich davon betören zu lassen, nehmen die Leser auch die Familiengeschichte in Kauf, die darunter glüht und viel wichtiger ist. Bernard Pivot kann es nicht lassen, nach immer noch mehr Einzelheiten über die Mutter, die Brüder zu fragen. Er bemerkt nicht, wie sehr das die siebzigjährige Autorin schmerzt. Sie weist ihn zurecht, zwei Minuten später beginnt er aufs Neue. Was bedeutete die Überfahrt über den Fluss? Quitter ma mère, sagt sie mit einer Trauer, als sei es gestern geschehen.

Die Mutter empfiehlt die Mathematik, die Tochter entscheidet sich für das Schreiben. Viele Schriftsteller, so behauptet sie, verfassen Werke, ohne wirklich zu schreiben, Sartre zum Beispiel (Pivots Haare sträuben sich). Auch ihr selbst sei es nicht in allen Büchern gelungen. Aber in diesem. Zauberei!, ruft Pivot. Wie haben Sie das gemacht? Dabei steht ja schon auf Seite 15, worauf es ankommt: Das Geschriebene muss einen Ort finden, wo es sich »verbergen« kann und wo seine »funda­mentale Anstößigkeit« respektiert wird. Solche Sätze sind exotisch. Man muss ihr Brennen auskosten, sonst hilft auch der Chinese nicht.

Länge des Buches: ca. 172.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. S. 3–194 (= 192 Textseiten).

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. München: Süddt. Zeitung GmbH 2004.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Roman. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 19
Eduard von Keyserling: »Am Südhang« (1916)

Düsseldorf, 12. November 2011, 10:51 | von Luisa

Eduard von Keyserling wird abwechselnd sanft vergessen und wieder entdeckt – insofern ist »Wellen« (der Titel seines bekanntesten Romans) auch eine schöne Beschreibung seines Nachruhms. Dass dieser nicht intensiver wurde, verhinderte der baltische Graf, indem er stets dieselbe Geschichte erzählte. Man stelle sich vor, Thomas Mann hätte dem »Verfall einer Familie« noch andere folgen lassen – der Nobelpreis wäre dahin gewesen.

Eine Keyserling-Geschichte spielt auf östlichen Landgütern unter müden Adligen, handelt von Amouren, die nicht lustvoller sind als die Ehen, von Todesfällen, Langeweile, Sommerhitze und Schwermut. Herrliche Gärten, intakte Natur und das strahlende Licht über der Ostsee werden durchaus geschätzt, helfen aber nicht gegen den ennui. Frauen tun nichts, Männer wenig mehr, manchmal sorgen ein Duell oder ein Suizid für ein wenig Aufregung. Geweint wird reichlich, auch von Männern, aber die Tränen erschüttern nicht mal die, die sie vergießen.

Vielleicht weil »Am Südhang« alle diese Elemente perfekt vereint, wurde die Erzählung von Florian Illies als Keyserlings Meisterstück gerühmt. Aber mir gefällt »Schwüle Tage« viel besser, weil da endlich mal nicht nur Melancholie herrscht, sondern auch Komik. Ein teils muffliger, teils munterer Siebzehnjähriger berichtet, dessen naiver Charme entschieden mehr Anteilnahme weckt als der Leutnant Karl Erdmann, mit dem sich der allwissende »Südhang«-Erzähler auch ziemlich zu langweilen scheint. Beide Geschichten warten übrigens am Ende mit einer Leiche auf und natürlich wird dann geweint, aber die Tränen, siehe oben.

Länge des Buches: ca. 148.500 Zeichen. – Ausgaben:

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Berlin: S. Fischer [1916].

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Mit einem Nachwort von Richard Brinkmann. Stuttgart: Reclam 1963.

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Coesfeld: Elsinor 2006.

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Nummernzauber: Autoren ohne Namen

Düsseldorf, 12. Oktober 2011, 20:03 | von Luisa

Die Wiener Literaturzeitung VOLLTEXT, durchaus im Chaos zuhause (dieses Jahr bloß vier Ausgaben statt sechs), präsentiert sich in der gerade erschienenen Nr. 3 ungewohnt systematisch: Die Verfasser der Artikel werden nicht beim Namen genannt, sondern sind streng durchnummeriert. Das liest sich dann so: »Mit offener Blende. Die Verschränkung von Wahrnehmung und Erinnerung in Peter Kurzecks Roman Vorabend. Von Nummer 13.«

Im Editorial erklären Nummer 2 und Nummer 3 (Herausgeber Thomas Keul und Redakteurin Teresa Profanter), warum: »Klingende Namen von AutorInnen – und von Verlagen – steuern unsere Wahrnehmung und Wertschätzung von Texten, kein vernünftiger Mensch wird das gänzlich abstreiten wollen. Wie irritierend stark dieser Namenzauber allerdings wirkt, wird erst sinnfällig, wenn man ihm die Grundlage entzieht, indem man die Namen tilgt.« Die Rezension also als nackter Text, ohne die »Aura« des Verfassernamens.

Schönes Experiment. Aber werden da nicht die falschen Namen getilgt? Gehören die »klingenden Namen« nicht den Buch-Autoren? Oder war das mal und besitzen heute doch eher jene die »Aura«, die in der E-Kultur die Mitspieler casten? Lese ich eine Rezension, weil mich Dietmar Dath interessiert oder weil ich wissen will, was Elmar Krekeler so denkt? Mal so, mal so und keins von beiden, würde ich in schlichter Entschiedenheit sagen. Jedenfalls: Wenige Namen sind es, die selber leuchten, sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite, und glücklich jene, denen ihre Sonne scheint, so oder so.

Schon zaubern Nummer 2 und 3 die nächste Überraschung aus dem Hut: »Wir haben die Auswahl der zu besprechenden Titel diesmal nicht selbst besorgt, sondern in die Hände von Schriftstellerinnen und Schriftstellern gelegt, die ohne inhaltliche Einschränkung unsererseits jene Bücher ausgewählt haben, die sie selbst gerade interessieren.«

Und dann wird auch verraten, wo die Namen zu finden sind: nicht in Spiegelschrift oder auf dem Kopf stehend wie in den Heftchen unserer Kindheit, sondern auf www.volltext.net, akkurat aufgelistet mit Viten und Werken. Völlig korrekt also, und so richtig und nötig das ist, ist es ein bisschen enttäuschend wie meistens, wenn Geheimnisse gelüftet werden. Insgeheim hoffte ich doch auf Scheherazade oder den Großen Bösen Wolf.

Hätten eigentlich hauptberufliche Rezensenten diese Medieninstal­lation unterstützt? Hätten sie darauf vertraut, dass der Leser die »Who’s who«-Liste aufrufen wird, oder hätten sie abgewunken wg. Angst vor Umsonst? Ist das Handling von Autoren leichter, sind sie fügsamer, und wenn ja, warum? Oder haben sie einfach mehr Lust zu rezensieren, weil sie es seltener tun, und auch mehr Sinn für das Ausscheren aus Immerzu-und-jede-Literaturbeilage-wieder-Mustern? Und wessen Name verleiht nun wem Glanz? Noch einmal: Wäre es nicht reizvoller, das Verfahren umzukehren? Mal ein Buch zu rezensieren, ohne Titel und Verfasser zu nennen? Ohne die öden Pflichtnummern der Inhaltsangaben und ohne Bezüge zum letzten und vorletzten Werk? Als tänzerisches Nachsinnen und reine Kür für Kritiker? Läse ich gern.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 16
Georges Rodenbach: »Das tote Brügge« (1892)

Düsseldorf, 1. Oktober 2011, 09:35 | von Luisa

Brügge ist so ziemlich die lebendigste Stadt Belgiens, wenn man Lebendigkeit nach Körperdichte pro Straßenkilometer definiert. Das ganze Jahr über wird es von Touristen berannt, sein Charme gleicht inzwischen dem von Venedig. Melancholie verbreitet höchstens das Wetter.

Das Buch weiß es anders: »Bruges-la-Morte« lautet der Originaltitel, Korngolds darauf basierende Oper heißt »Die tote Stadt«. Ein noch junger Witwer namens Hugues zieht aus Paris nach Brügge, weil dessen menschenleere Plätze die passende Kulisse für seine Trauerarbeit darstellen. Flandrischer Nebel, Dämmerung über den Kanälen, dazu eine Wiedergängerin der Toten, die den schlaffen Hugues zu ruinieren droht: Lautlos und andantissime schleicht die Geschichte ihrem melodramatischen Ende entgegen. Vielleicht weil Rodenbach spürte, wie dünn sie ist, bekräftigte er sie mit Fotografien der Stadt, die immer noch reizvoll sind.

»Brügge sehen … und sterben?« hieß vor ein paar Jahren ein Film, der mit dem Buch nur über ein paar Ecken verwandt ist, aber alles besser macht. Witwer Hugues nervt, während die Gangster Ray und Ken, jeder auf seine Weise, das Herz gewinnen. Spannung, Blutausstoß und Handlungskomplexität erreichen ebenfalls eine solide Höhe. Was zum Schluss im Belfried und auf dem Marktplatz geschieht, ist natürlich ein bisschen ekelhaft. Doch den Weg dahin bebildert die Kamera mit allerschönsten Ansichten der Giebelhäuser und engen Gassen, die eine so morbide Atmosphäre erzeugen wie sie Rodenbach wohl anstrebte: »Erdrosselt sank sie zu Boden.« Das Buch war ein Erfolg.

Länge des Buches: ca. 141.000 Zeichen (frz. 123.000). – Ausgaben:

Georges Rodenbach: Das tote Brügge. [Übertr. von Oppeln-Bronikowski.] Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1918.

Georges Rodenbach: Das tote Brügge. Einzig autoris. Übers. aus d. Franz. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Mit e. Nachw. von Günter Metken. Stuttgart: Reclam 1966.

Georges Rodenbach: Brügge – tote Stadt. Aus dem Franz. von Dirk Hemjeoltmanns. Nachw. von Rainer Moritz. Bremen: Manholt 2003.

Georges Rodenbach: Brügge – die Tote. Übertragen von Reihard Kiefer in Zusammenarbeit mit Ulrich Prill und einem Nachw. von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2005.

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100-Seiten-Bücher – Teil 14
Julien Green: »Der andere Schlaf« (1931)

Düsseldorf, 8. September 2011, 00:35 | von Luisa

Hallo Hauch, dachte ich, als das letzte Wort gelesen war, weh weiter aus jenem verwilderten Garten, wo ein junger Mann auf der Wiese liegt und schläft, während der andere, jüngere, der davon erzählt, sich über ihn beugt, bis sein Schatten den Schlafenden zudeckt, dann aber aufsteht und davon geht, langsam, durch andere Gärten, in der Gewissheit zukünftiger Leiden, aber auch in der plötzlichen Erkenntnis, dass er tatsächlich eines Tages sterben wird und also die Leiden endlich sind. Eine Liebesgeschichte, ein Coming-out aus alter Zeit (1931), erzählt in langen, sanften Schwindel erzeugenden Sätzen, die das Hirn runterdimmen zu allerschönstem Dämmern, im Bett zu lesen oder auf einem Schiffsdeck mit nichts als dem Meer vor Augen oder, am besten, in einem Liegestuhl im Sommergarten zwischen wuchernden Hecken, wo es nach trockenem Holz riecht und ganz still ist und man auf angenehme Weise nur die Hälfte mitkriegt von dem, was die Seiten füllt (obwohl ja die Personen mit einer Schärfe und Kälte analysiert werden, dass einen immer mal wieder der Frost schüttelt). Träumend von einem Schatten, der dunkelt und kühlt, umsponnen vom elastischen Faden französischer Erzähltradition, spürt man am ganzen Leibe, wenn man sich zwischendurch reckt und ein bisschen gähnt, dass es, bis auf das unschlagbare Eine, kaum etwas Schöneres gibt als die Hingabe an einen kurzen, brillanten, trägen Roman.

Länge des Buches: ca. 161.000 Zeichen (Schmid-Übersetzung). – Ausgaben:

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Deutsch von Carlo Schmid. Berlin; Frankfurt/M.: Suhrkamp 1958.

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Aus dem Französischen von Peter Handke. München; Wien: Hanser 1988.

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Deutsch von Peter Handke. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2008.

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