100-Seiten-Bücher – Teil 16
Georges Rodenbach: »Das tote Brügge« (1892)
Düsseldorf, 1. Oktober 2011, 09:35 | von Luisa
Brügge ist so ziemlich die lebendigste Stadt Belgiens, wenn man Lebendigkeit nach Körperdichte pro Straßenkilometer definiert. Das ganze Jahr über wird es von Touristen berannt, sein Charme gleicht inzwischen dem von Venedig. Melancholie verbreitet höchstens das Wetter.
Das Buch weiß es anders: »Bruges-la-Morte« lautet der Originaltitel, Korngolds darauf basierende Oper heißt »Die tote Stadt«. Ein noch junger Witwer namens Hugues zieht aus Paris nach Brügge, weil dessen menschenleere Plätze die passende Kulisse für seine Trauerarbeit darstellen. Flandrischer Nebel, Dämmerung über den Kanälen, dazu eine Wiedergängerin der Toten, die den schlaffen Hugues zu ruinieren droht: Lautlos und andantissime schleicht die Geschichte ihrem melodramatischen Ende entgegen. Vielleicht weil Rodenbach spürte, wie dünn sie ist, bekräftigte er sie mit Fotografien der Stadt, die immer noch reizvoll sind.
»Brügge sehen … und sterben?« hieß vor ein paar Jahren ein Film, der mit dem Buch nur über ein paar Ecken verwandt ist, aber alles besser macht. Witwer Hugues nervt, während die Gangster Ray und Ken, jeder auf seine Weise, das Herz gewinnen. Spannung, Blutausstoß und Handlungskomplexität erreichen ebenfalls eine solide Höhe. Was zum Schluss im Belfried und auf dem Marktplatz geschieht, ist natürlich ein bisschen ekelhaft. Doch den Weg dahin bebildert die Kamera mit allerschönsten Ansichten der Giebelhäuser und engen Gassen, die eine so morbide Atmosphäre erzeugen wie sie Rodenbach wohl anstrebte: »Erdrosselt sank sie zu Boden.« Das Buch war ein Erfolg.
Georges Rodenbach: Das tote Brügge. [Übertr. von Oppeln-Bronikowski.] Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1918.
Georges Rodenbach: Das tote Brügge. Einzig autoris. Übers. aus d. Franz. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Mit e. Nachw. von Günter Metken. Stuttgart: Reclam 1966.
Georges Rodenbach: Brügge – tote Stadt. Aus dem Franz. von Dirk Hemjeoltmanns. Nachw. von Rainer Moritz. Bremen: Manholt 2003.
Georges Rodenbach: Brügge – die Tote. Übertragen von Reihard Kiefer in Zusammenarbeit mit Ulrich Prill und einem Nachw. von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2005.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)