100-Seiten-Bücher – Teil 20
Marguerite Duras: »Der Liebhaber« (1984)

Düsseldorf, 19. Januar 2012, 21:40 | von Luisa

In einem Interview mit Bernard Pivot verrät Marguerite Duras, dass der Roman zunächst »La photographie absolue« heißen sollte. Gemeint ist das Foto, das nicht gemacht wurde, dessen fragmentarische, aus Wiederholungen komponierte Beschreibung aber das Gedächtnis des Lesers erobert. Ein Foto von 1929, das die fünfzehnjährige Marguerite auf einer Fähre über den Mekong zeigt. Die Flussüberquerung gehört zu ihrem Schulweg, hier lernt sie den Liebhaber kennen.

»Der Liebhaber« ist ein irreführender Titel. Die Leidenschaft des zwölf Jahre älteren chinesischen Millionärssohns für die Tochter einer fran­zösischen Lehrerin beschert dem Buch die schillernde Oberfläche und den Sensationserfolg. Tabubrüche, Hitze, Hochmut der weißen Rasse, Saigon und seine Geheimnisse – um sich davon betören zu lassen, nehmen die Leser auch die Familiengeschichte in Kauf, die darunter glüht und viel wichtiger ist. Bernard Pivot kann es nicht lassen, nach immer noch mehr Einzelheiten über die Mutter, die Brüder zu fragen. Er bemerkt nicht, wie sehr das die siebzigjährige Autorin schmerzt. Sie weist ihn zurecht, zwei Minuten später beginnt er aufs Neue. Was bedeutete die Überfahrt über den Fluss? Quitter ma mère, sagt sie mit einer Trauer, als sei es gestern geschehen.

Die Mutter empfiehlt die Mathematik, die Tochter entscheidet sich für das Schreiben. Viele Schriftsteller, so behauptet sie, verfassen Werke, ohne wirklich zu schreiben, Sartre zum Beispiel (Pivots Haare sträuben sich). Auch ihr selbst sei es nicht in allen Büchern gelungen. Aber in diesem. Zauberei!, ruft Pivot. Wie haben Sie das gemacht? Dabei steht ja schon auf Seite 15, worauf es ankommt: Das Geschriebene muss einen Ort finden, wo es sich »verbergen« kann und wo seine »funda­mentale Anstößigkeit« respektiert wird. Solche Sätze sind exotisch. Man muss ihr Brennen auskosten, sonst hilft auch der Chinese nicht.

Länge des Buches: ca. 172.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. S. 3–194 (= 192 Textseiten).

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. München: Süddt. Zeitung GmbH 2004.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Roman. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Eine Reaktion zu “100-Seiten-Bücher – Teil 20
Marguerite Duras: »Der Liebhaber« (1984)”

  1. Weberin

    Für mich das Buch überhaupt.

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