100-Seiten-Bücher – Teil 120
Camillo Boito: »Sehnsucht« (1883)

Düsseldorf, 5. August 2017, 18:45 | von Luisa

Der Originaltitel lautet »Senso«, also nicht »Sehnsucht«, denn die Contessa Livia aus Trient schmachtet nicht, sondern nimmt und liebt mit allen Sinnen, wie man sagte, als das Buch erschien (1883), und natürlich liebt sie nicht ihren Ehemann, sondern einen schlanken österreichischen Leutnant in weißer Uniform, weil Oberitalien 1866, als das alles passierte, noch habsburgisch war. Der Untertitel: »Das geheime Tagebuch der Contessa Livia« erklärt, dass die Contessa die ganze Affäre selber aufgeschrieben hat, was sie schon anfangs mit diesem gelungenen Satz zusammenfasst: »Ich bedurfte der Liebe.«

Der Liebste heißt Remigio und ist »feig« und »pervers«, wie die Contessa klar erkennt, aber gerade das usw. Livia ist auf Hochzeitsreise in Venedig und erfrischt sich im Canale Grande in einem speziellen Damenbad, Sirena geheißen, als Remigio unter dem Lattenzaun her in ihre Kabine schwimmt usw., und »nie war ich so gesund und fröhlich und zufrieden mit mir«, stellt sie hinterher fest, aber so kann es naturgemäß nicht bleiben.

Als Visconti 1954 »Senso« verfilmte, hat er die Planschszene weggelassen, weil sein Film eine ganz andere Livia zeigt, eine empfindsame, und Remigio heißt da nicht Remigio, sondern Franz und mit Nachnamen Mahler, aber die Musik ist trotzdem von Bruckner. Und während die Novelle bloß »eine kleine Geschichte« erzählt, wie Bodo Kirchhoff einst im »Spiegel« meinte (trotzdem »eines der Bücher meines Lebens«), ist der Film Großes Kino, also Breitwand, Farbe, zwei Stunden lang und eben komplett Visconti. Dass er zu Recht »Sehnsucht« heißt, liegt an den Kleidern, die Alida Valli trägt, an den bodenlangen Schleppröcken und dem schönsten Nachthemd ever, entworfen von Piero Tosi, der hier für den »Gattopardo« üben durfte und immer noch lebt, und Dank sei ihm.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Camillo Boito: Sehnsucht. Das geheime Tagebuch der Contessa Livia. Novelle. Aus dem Italienischen von Bettina Kienlechner. Mit einem Nachwort von Ursula März. München: dtv 2017. S. 5–83 (= 79 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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