Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 12):
»Kuhauge« (1984)
Jena, 12. Dezember 2013, 08:05 | von Montúfar
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 91)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
»Kuhauge« ist der erste Teil der Trilogie »Eine Erziehung in Deutschland«. Und das Bildungsromaneske ist nur die eine Seite dieses furiosen Buches, die andere ist die erschütternde Darstellung einer verhinderten Jugend während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Beides wird so genial miteinander verquickt, dass man meinen könnte, die Erzählung stamme von Johann Wolfgang Koeppen.
Kuhauge ist aber auch der Spitzname des Helden, der nur entfernt etwas mit seinem Verfasser zu tun hat, denn obwohl er 1931 in Berlin geboren wird usw., steht seine Mittelinitiale nicht für Joachim, sondern für »Jörn«: Bernd Jörn Walther. Dieser nun leidet zwar an »Nervositätsschnupfen« (S. 13), meistert aber alle Widrigkeiten in seiner Familie und im Krieg. Als er wegen der zunehmenden Bombardierung Berlins zu Bekannten nach Görlitz muss, einem Oberst a. D. und dessen Gattin, fallen seine Lateinstudien trotzdem nicht aus.
Wenn nach dem Essen der Terrier namens Stalingrad die nackten Füße seines Herrchens begattet, brütet Bernd über der Passivform von »amare«, mit Erfolg: »Als Stalingrad erloschen war, nahm der Oberst a. D. Bauschan ein altes Küchenhandtuch, und Bernd fiel es ein: ›amatur‹.« (S. 41) So entdeckt der Junge am Ende der Erzählung seine Geistigkeit und seine Körperlichkeit und stürzt sich genussvoll in beide. Die letzte Szene wird nicht verraten. Aber der erste Satz ist so wunderschön, dass er hier zitiert werden muss: »›Das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut, das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut‹ – Koboldbösartigkeit überglitzerte die Kinderstimme des zehnjährigen Bernd.« (S. 7)