Musil to Zweig: »Drop dead!«

Lyon, 24. Februar 2010, 14:04 | von Charlemagne

Ab und zu, wenn ich nicht gerade neuere deutsche Literaturgeschichte in Harlem zusammenflicke, lese ich die »London Review of Books«. Die liegt hier immer herum, selbst die fünf ältesten Ausgaben sehen aus, als wären sie nie gelesen worden und so kann man ein paar schöne Stunden verbringen.

Zunächst hatte ich auch etwas Interessantes darin gefunden, hatte aber keine Einleitung. Nachdem die Einleitung hier aber alles ist, bin ich aus dem Lesesaal ins Leben, in der Hoffnung, über eine schöne Einleitung zu stolpern.

Als ich dann vor ein paar Minuten an einer Französin vorbeiging, die sich eine Pepsi aus dem Automaten zog, dachte ich mir, Wahnsinn, großartig, endlich muss ich nicht mehr über eine Einleitung für diesen wunderbaren Satz aus dem Artikel von Michael Hofmann, »Vermicular Dither«, nachdenken und kann ihn hier einfach zitieren (LRB, Vol. 32 No. 2):

»Stefan Zweig just tastes fake. He’s the Pepsi of Austrian writing.«

Wie Michael Hofmann da, angesichts der Neuübersetzung von »The World of Yesterday«, mit Stefan Zweig abrechnet, großes Vergnügen. Am schönsten ja, wie sich selbst Robert Musil von Zweig nicht nur die Laune, sondern ganze Kontinente verderben lässt:

»The veteran Germanist Hans Mayer remembers a visit to Musil in Switzerland in 1940; Musil couldn’t get into the USA, and Mayer was suggesting the relative obtainability of Colombian visas as a pis aller. Musil, he wrote, ›looked at me askance and said: Stefan Zweig’s in South America. It wasn’t a bon mot. The great ironist wasn’t a witty conversationalist. He meant it … If Zweig was living in South America somewhere, that took care of the continent for Musil.‹«

Eine alte Anekdote, klar, aber man kann sie ja ab und an mal wieder hervorkramen, so wie das eben Anekdoten-Hofmann in der LRB gemacht hat.

Usw.

Trick 17 erfolgreicher Leserbriefschreiber

Konstanz, 23. Februar 2010, 19:24 | von Marcuccio

Die neue Krabbelgruppe trifft sich ab sofort immer sonntags auf den einschlägigen Spalten der FAS:

Leserbriefzitat (eigenes Foto)
(FAS vom 07.02.2010, S. 34)

Das Original geht zwar mit Tieren, doch Babyfotos heben die Chancen auf Abdruck im Sinne der hier schon mal durchexerzierten Rules of Cuteness erheblich. Wer ganz sicher gehen will, nimmt außerdem an einer distinktionstauglichen Vornamenberatung teil (»Karl-Friedrich«). Und Achtung: Der Trick funktioniert nur sonntags. Ein Foto in den werk­täglichen Leserbriefspalten – das gab’s in 60 Jahren FAZ glaub ich noch nie.

Unser Mann in New York: »It’s vild here!«

Lyon, 22. Februar 2010, 14:02 | von Charlemagne

Habe nach dem Mittagsschlaf, inspiriert durch David Wagners gerade bei Twitter stattfindenden Umzug, ein paar alte Ausgaben der »New York Review of Books« durchgearbeitet und bin dort auf einen lange vergessenen Aufsatz von Zadie Smith gestoßen, »Speaking in Tongues«. Wie immer bei Zadie Smith: sehr gut, im Ton wie im Inhalt usw. usf., aber besonders interessant war folgende Stelle, die sich am Obama-Wahlabend abspielt:

»I was at a lovely New York party, full of lovely people, almost all of whom were white, liberal, highly educated, and celebrating with one happy voice as the states turned blue. Just as they called Iowa my phone rang and a strident German voice said: ›Zadie! Come to Harlem! It’s vild here. I’m in za middle of a crazy Reggae bar – it’s so vonderful! Vy not come now!‹

I mention he was German only so we don’t run away with the idea that flexibility comes only to the beige, or gay, or otherwise marginalized. Flexibility is a choice, always open to all of us. (He was a writer, however. Make of that what you will.)«

Den Namen dieses deutschen Autors erwähnt Zadie Smith nicht. Ich hatte aber heute morgen ein bisschen in »Klage« geblättert und war beim Eintrag vom 19. April 2007 hängen geblieben.

Rainald Goetz hat diesen Eintrag mit »Holzfällen« überschrieben und also von Bernhard gehandelt sowie von einem fragenden Daniel Kehlmann, »der mit seinen praktisch textfreien Büchern die gehobene Angestelltenkultur vertritt«. Wie auch immer, in diesem Zusammen­hang fiel mir eine Interviewstelle wieder ein, siehe den »Spiegel« Nr. 46/2008, S. 175:

SPIEGEL: Herr Kehlmann, Sie sind extra nach New York geflogen. Wie haben Sie die Wahlnacht erlebt?

Kehlmann: Zunächst bei einer privaten Party auf der Upper East Side, dann auf einer großen Wahlparty in einem Lokal in Harlem. Es war überwältigend, in diesem Moment in Harlem zu sein, wirklich überwältigend. Das war ja nicht nur ein Augenblick, es dehnte sich über Stunden.

Soweit diese kleine Synopse zwischendurch, und egal, ob es nun vild oder vonderful oder einfach nur überwältigend war, eigentlich sollte man eine andere Stelle dieses kurzen Interviews genauer durchkauen, aber dazu hätte ich länger schlafen müssen.
 

Die menschliche Seite der Supply-Side Economics

Lyon, 21. Februar 2010, 15:26 | von Charlemagne

Mein Lieblingsbäcker hier in Lyon begrüßt mich immer als »Monsieur Charlemagne«, wegen Akzent und Brotwahl. Ab und zu legt er mir eine Handvoll Chouquettes mit in den Beutel und fragt so strahlend, wie nur Franzosen strahlen können, ob »tout va bien?«, und das passt dann gar nicht dazu, dass er mich an Nouriel Roubini erinnert.

In der Zwischenzeit hatte nämlich jenseits des Atlantiks eine bestimm­te Form der Berichterstattung, der Finanzkrisenjournalismus, eine vorreitende Rolle eingenommen. Im Unterschied zum klassischen Journalismus aus dem Wirtschaftsressort, geprägt durch so trockene wie besserwisserische Publikationen wie das »Wall Street Journal«, »Barron’s«, »Forbes« und uninspirierte Artikel, die zum zehnten Mal erklären, wie sich eine Handvoll Credit Default Swaps, kurz CDS, in eine Collateralized Debt Obligation, kurz CDO, verpacken lassen, spielt der Finanzkrisenjournalismus nun auch stets auf die, uargh, »menschliche Komponente« an.

Und lässt sich dabei nicht durch Fakten davon abhalten, wunderbarste Stücke am Rande der Fiktion zu schreiben, um das Thema doch irgend­wie interessant zu machen. Deutlich wurde das zum ersten Mal, als das »New York Times Magazine« ein Portrait über den Finanzkrisen­vorausseher Nouriel Roubini, ominös »Dr. Doom« betitelt, brachte und ihn wie folgt beschrieb:

»With a dour manner and an aura of gloom about him, Roubini gives the impression of being permanently pained, as if the burden of what he knows is almost too much for him to bear. He rarely smiles, and when he does, his face, topped by an unruly mop of brown hair, contorts into something more closely resembling a grimace.«

Nun wird als »Dr. Doom« eigentlich Marc Faber bezeichnet, der den »Gloom Boom & Doom Report« verfasst, ein großer Mahner und Warner auf dem Finanzgebiet, der seit ein paar Jahrzehnten vor allem dafür bekannt ist, immer schnell den Untergang des Amerikanischen Imperi­ums auszurufen und die Börse im Keller zu sehen, bevor die überhaupt weiß, wo sie hin will.

Faber ist ein bisschen der Cowboy unter den großen Investoren, früher gern mit Pferdeschwanz und heute immer noch mit heftigem Schweizer Akzent auf Bloomberg zu sehen. Was seine Vorhersagen angeht erin­nert er einen allerdings eher an »The Boy Who Cried Wolf«, und wer prinzipiell jedes Jahr einen Börsencrash voraussagt (siehe Roubini), hat halt irgendwann mal recht, lässt sich bestimmt auch mit Regres­sionsanalyse nachweisen, hehe.

Aber egal, die Beschreibung von Nouriel Roubini rechtfertigt ja sehr deutlich, dass auch seine Benennung als »Dr. Doom« in Ordnung geht. So sind also Ökonomen? The »dismal science« scheint ja wirklich aufs Gemüt zu schlagen. Überhaupt, nicht schlecht für jemanden der, so »Gawker«,

»(…) draws a cosmopolitan crowd to the frequent parties at his Tribeca loft – an apartment with walls indented with plaster vulvas, incidentally.«

Moment mal. Was hängt da an der Wand? Das Schöne am Finanzkri­senjournalismus ist ja, dass man von fast allen Akteuren, vor allem Wunderkind Andrew Ross Sorkin, immer sofort Antworten auf Anfragen erhält, das neue Berichterstattungsmodel arbeitet nämlich immer; Roubini also zur Klarstellung, via Facebook:

»I work very very hard and I also enjoy life. My home is also partially a cultural salon where I host book parties, debate and election night events, independent film screnings [sic!], live music nights, theater/performance acts, fashion shows, dinner parties and even plain old fashioned dance parties.

I have this professional Dr Doom nickname but I am quite a cheerful person with a few close friends and eclectic group of friends who, like most New Yorkers, are members of the creative class. The innovations of lawyers and bankers can be as creative as those of visual or performing artists, at times too creative you may say given the current financial meltdown. So I live life to its fullest. To paraphrase Seinfeld; anything wrong with that?« (zitiert nach Gawker)

Auch wenn mein Lyoner Bäcker mich an Roubini erinnert: Er hat braune Locken und keinen »mop«. Ob er »Seinfeld« kennt: keine Ahnung. Und was er an seiner Wand hängen hat, will ich wirklich nicht wissen.

Die »Süddeutsche« vom 13./14. Februar 2010

Hamburg, 19. Februar 2010, 13:09 | von Dique
 
–»Aren’t you relieved to know that you’re not a golem?«
–»Yes, I am relieved to know that I am not a golem.«
(»Stranger than Fiction«)

Letzter Samstag, ich hatte wie immer die FAZ gelesen. Die Samstags-FAZ ist das mittlerweilige Lieblingsobjekt weiter Teile des Umblätte­rers (with FAS losing ground), die Ausgabe von letzter Woche war aber nur okay, nicht wie sonst richtig superst. Später ging ich dann in eine Kneipe auf ein paar Heringe, und da hing die »Süddeutsche« im Zeitungshalter. Ich hatte die S-Zeitung länger nicht gelesen, und sie hatte ja in letzter Zeit wegen verschiedenster Dinge auch eine Menge Bashing abbekommen.

Fakt ist, die Ausgabe von letztem Samstag hatte ein FEUILLETON­FEUERWERK zu bieten, das sich bis in den Wirtschaftsteil zog. Dort fand man einen Artikel von Helga Einecke über Botticelli, der, na ja, einfach sehr gut war. Das Bild zum Artikel zeigte einen Ausschnitt aus dem Altargemälde für die Zanobi, auf dem sich Botticelli offensichtlich selbst verewigt hatte, kurz, ein Selbstportrait, und ein ganz feines.

Er hat da sehr moderne Gesichtzüge und schaut dem Zuschauer fest in die Augen, dazu trägt er herrliche gelb-goldene Klamotten, wie Johan Nilsen Nagel in Hamsuns »Mysterien«. Im Text ging es um wirtschaft­liche Aspekte und Ungereimtheiten im Leben des Künstlers und dessen Erfolg, der ihm von Vasari zwar bescheinigt wurde, der ihn aber als Menschen eher unvorteilhaft portraitiert hatte, vielleicht wegen seiner Konkurrenzfähigkeit zu dem von ihm, wieder Vasari, geliebten und gehypten Michelangelo.

Im Feuilleton selber gab es dann einen langen Bericht von Alex Rühle über Wuppertal, über die miese Finanzlage und die daraus resultierende wahrscheinlich erste Schließung eines Schauspielhauses in einer Großstadt. Ein Tristesse-Artikel, der beim Lesen tatsächlich so einen beängstigenden Untergangszukunftskosmos eröffnete, ein nicht gerade erstes, aber ansehnliches Zeichen von Ernsthaftigkeit diesen ganzen Verschuldungswahn betreffend.

Außerdem werden gerade die »Sandokan«-Romane neu übersetzt und erscheinen im Wunderkammer Verlag, Burkhard Müller hat einen davon rezensiert, der geschrieben sei »aus dem Geist der Großen Oper«, d. h. es komme auf Logik und Folgerichtigkeiten nicht unbedingt wirklich an. Ich wusste bis dato nicht, wer der Autor der Reihe war, Emilio Salgari, dem Artikel nach eine Art italienischer Karl May, in Verona geboren und nie irgendwo hingekommen, aber knapp 80 Abenteuerromane geschrieben, die überall auf der Welt spielen, von denen der »Sandokan«-Zyklus am erfolgreichsten war. Ein schönes Portrait dieses Mannes und des, im direkten Abgleich mit Karl May, Schreibtischkolonialismus der zu spät gekommenen Nationen Deutschland und Italien.

Auf der Panorama-Seite stand noch ein Artikel über Muttermilch, der mit der schön verschwenderischen Abbildung einer Madonna von Andrea Solari illustriert war, hängt im Louvre:

Andrea Solari: La Madonna del cuscino verde (Louvre)

Eine superste Ausgabe der S-Zeitung also, die ich da beim Hering im Zeitungshalter weggelesen habe. Die Ausgabe war auch trotz so später Stunde noch vollzählig und korrekt sortiert, eben dank Zeitungshalter. Auf der Website eines Zeitungshalterherstellers findet man diese einführenden und hier jetzt abschließenden weisen Worte:

»Wer von uns Zeitungslesern hat sich im Café, beim Friseur, im Wartezimmer des Arztes oder an anderen Orten mit öffentlich ausliegenden Presseerzeugnissen noch nicht fürchterlich geärgert, wenn er bei der Lektüre dieser Zeitung und Zeitschriften feststellen mußte, das Teile fehlten oder sich das Lesegut in einem ungeordneten oder erbärmlich zerfledderten Zustand befand?

Solche Unbill, die Konsumenten gemeinschaftlich genutzter Printmedien gelegentlich widerfährt, hätte sich in einer Vielzahl der Fälle sicherlich verhindern lasse, hätte die auslegende Stelle auf ein Produkt zurückgegriffen, das seit Jahrhunderten den Zeitungen den Rücken stärkt: den Zeitungshalter.«

(Bild: Wikimedia Commons)

Die Helden des Supermarkts

Konstanz, 18. Februar 2010, 20:32 | von Marcuccio

Gestern, Mittwoch! Ein großer Tag für alle David-Wagner-Fans. Die FAZ hob den metallenen Einkaufskorb aufs Titelblatt (siehe bei Meedia).

Für alle, die den Klassiker »Vier Äpfel« noch nicht kennen: Der Ein­kaufskorb aus Metall ist der tragische Supermarkt-Held, der auf S. 28 f. den Kampf gegen die Armada der modernen roten Plastikkörbe verliert. Ein Grund war wohl auch das schlechte Handling:

»Die beiden dünnen Haltegriffe waren mit einer dünnen, hartgummiartigen Schicht überzogen, trotzdem schnitten sie heftig ein.«

Noch mehr Helden des Supermarkts dann eine Zeitung weiter, im Feuilleton-Aufmacher der »Welt« (»Bundesrepublik Aldi«) ordnet Josef Engels die Autorenfoto-Strategie der Gebrüder Albrecht in die litera­rische Tradition ein:

»Andere Länder haben (…) J. D. Salinger und Thomas Pynchon (…). Deutschland hat zwei alte Herren aus Essen.«

Der eine der beiden Aldi-Herren feiert dieser Tage seinen mutmaßlich 90., deswegen – jubiläumsüberpünktlich wie gewohnt – überhaupt eine Aldi-Exegese. Der eigentliche Rundgang liest sich dann ein bisschen wie David Wagner für Arme:

»Nach dem Eingang links: Der Kaffee. Dann die Marmelade. Dann die Kekse. Gegenüber der Wein. Und so weiter.«

Mehr Regale gibt’s leider nicht, dafür ein paar Ausführungen zur Geschichte der deutschen Teilung (seit 1961: Aldi Nord und Aldi Süd) und ihren Spätfolgen: Vitello tonnato bis heute nur für die reichere Hälfte des Landes: Aldi Süd.

Abschließend beleuchtet wird die Gentrifzierung des Aldi-Publikums anhand ausgewählter Schlüsseltexte: Das Aldi dente Kochbuch als Ausdruck, dass Aldi plötzlich satisfaktionsfähig wurde usw. usf. Vielleicht bringt ja auch David Wagner noch ein Aldi-Sequel (»Vier Äpfel bei Aldi«), darauf würde ich mich ehrlich freuen.

Rembrandt, Kirchner, Giacometti

Hamburg, 18. Februar 2010, 10:05 | von Dique

*

Rembrandt's Homer Simpson

Der sieht doch ziemlich gut aus dieser Rembrandt, vor allem bekommt man den Alterungseffekt mit Photoshop noch besser hin als mit Tee, dem beliebten Papieralterungsmittel, bei Skulpturen gern als Melange aus Tee und Hühnerkot.

Neulich sah ich einen Beitrag über eine gefälschte Grafik von Otto Mueller, der anscheinend sowieso gerade immer begehrter wird, langsam zieht er mit Kirchner gleich, wenn man das so sagen darf, jedenfalls erzielte er bei den Frühjahrssales Rekorde, seine »Badenden« brachten bei Christie’s gerade knapp dreieinhalb Millionen Dollar, und er wird, wie ja auch Kirchner, sehr gern gefälscht, besonders natürlich die Grafik, mit Tintenstrahldrucker und besagtem Tee.

Das ging vielleicht ein bisschen unter bei all dem Bohei um Giacomettis »Schreitenden«, um die 104 Millionen, für die ihn die Commerzbank aus dem Bestand der übernommenen Dresdner verscheuert hat, das teuerste Kunstwerk ever, heißt es zumindest, aber das meint natürlich nur: bei einer Auktion, schließlich ging die Bloch-Bauer von Klimt für 135 Millionen weg und angeblich kurz danach, unter der Hand, ein Jackson Pollock für noch mehr.

Aber egal, die Summe für den Giacometti ist eigentlich unerhört, das ist schließlich nicht im entferntesten eine Einmaligkeit von Original oder sonst irgendwas, sondern ein fucking Bronzeguss, und davon gibt es einfach mal noch fünf weitere Exemplare (aber die standen »eben nicht … dreißig Jahre lang in Frankfurt«, im Vorstandsgebäude der Dresdner Bank). Pretty strange, ein Topportrait von Raffael, seit 50 Jahren das erste Ölwerk von ihm auf dem freien Markt, dieses Bildnis Lorenzos de‘ Medici, machte vor ein paar Jahren gerade mal schlaffe 27 Mille. Und Rembrandt hier hat sein Portrait des Homer gar unter eine Creative Commons-Lizenz gestellt, da hört sich doch alles auf.

(Bild: David Barton, limpfish.com, CC by-nc-sa)

Coen-Retrospektive: Grafischer Epilog

Hamburg, 17. Februar 2010, 07:32 | von San Andreas

Gestern haben wir hier den täglichen Film-für-Film-Durchmarsch durch den kompletten Coen-Kanon beendet. Heute folgt noch ein kleiner Epilog, ab morgen geht es dann weiter mit anderen Feuilleton-Abenteuern.

(Hi Austin! Hi Dique! Hi Marcuccio! Hi Niwoabyl! AUFWACHEN, die Ferien sind vorbei, hehe.)

Die Coens muss man nicht quantifizieren, es ist sogar irgendwie ein Frevel, aber wer eine schöne Übersicht über alle Filme und ihre Resonanz bei Publikum und Kritik haben möchte, bitte sehr (auf die Grafik klicken zum vergrößern, lizenziert unter der CC by-sa 3.0):
 

Alle bisherigen 14 Coen-Filme, grafisch dargestellt
Die 14 Coen-Filme: Einspielergebnisse (Box Office Mojo),
Userwertungen (IMDb), Tenor der Kritik (Rotten Tomatoes)

 
Die Statistik verdeutlicht noch mal ein paar Dinge, etwa den Kritiker- und Publikumsflop des sündteuren Films »The Hudsucker Proxy«. Es gibt da natürlich auch ein paar Unzulänglichkeiten, die nicht berück­sichtigte Inflation etwa, außerdem ist »A Serious Man« noch nicht weltweit angelaufen usw. usw.).

In der berüchtigten Top 250 der IMDd befinden sich im Moment übrigens drei Coen-Filme:

111. No Country for Old Men
118. Fargo
141. The Big Lebowski

*

Was kommt als Nächstes von den Coen-Brüdern?

Das nächste große Projekt befindet sich bereits in Produktion und heißt »True Grit«. Einen Film dieses Titels gibt es freilich schon. Viele Filmfans zeigten sich entrüstet: Niemand könne John Wayne das Wasser rei­chen, wozu also ein Remake. Die Coens brachten vor, dass der Film so gut nicht sei und die Romanvorlage von Charles Portis viel beeindruckender.

Ihr Film wird eine neue Adaption des Stoffes werden, der davon handelt, wie ein 14-jähriges Mädchen den besten US Marshal des Landes (Jeff Bridges) anheuert, um den Mörder ihres Vaters (Josh Brolin) zu fassen. Auf der gefahrvollen Reise gesellt sich ein Texas Ranger (Matt Damon) zu den beiden. Der Kinostart des Western­dramas ist für Weihnachten dieses Jahres geplant.

Mit »The Yiddish Policemen’s Union« soll eine weitere Literaturadaption folgen. Michael Chabon zeigte sich hellauf begeistert, dass die Coens sein preisgekröntes Buch verfilmen wollen, welches einen bizarren Mordfall in einem hypothetischen jüdischen Reservat in Alaska zum Thema hat. Klingt auf jeden Fall nach eins a Coen-Material.

Im Regal liegt ebenfalls ein Remake des britischen Gaunerfilms »Gambit«, seinerzeit besetzt mit Shirley MacLaine und Michael Caine. Ethan schrieb wohl das Skript dazu, das einen Coup in zwei Versionen erzählt: einmal, wie er geplant ist, und einmal, wie er tatsächlich ver­läuft. Die Coens werden nicht Regie führen, was vielleicht gar nicht so schlecht ist.

Seit geraumer Zeit schon existiert ein Coen-Skript mit dem Titel »Suburbicon«, für das George Clooney nicht müde wird die Werbe­trommel zu rühren. Er selbst war eine Zeitlang als Regisseur im Gespräch, doch mittlerweile scheinen die Coens wieder am Ruder zu sitzen. Es ist die Rede von einer »really interesting, really funny, very dark comedy«.

Eine Doku über die Coens aus dem Jahre 1999 zeigte in einer Ein­stellung ein Regal, in dem etwa 40 Drehbücher schlummerten. Einige von ihnen haben mittlerweile das Licht der Leinwand erblickt. Andere Titel wie »Coast to Coast«, »Leap in the Dark«, »Meet Bobby Buttman«, »The Concierge« oder »Respect Your Godfather« könnten sich in Zukunft noch materialisieren. Außerdem gibt es ein Gerücht über einen »Lebowski«-Spin-Off um Jesus Quintana, über ein »Hail Caesar«, ein weiteres Clooney-Projekt, und über eine Art Sequel zu »Barton Fink« mit dem Titel »Old Fink«, von dem Joel und Ethan selbst sagen, sie würden damit warten, bis John Turturro sehr, sehr alt ist.
 

25 Jahre Coen-Kino (14):
A Serious Man (2009)

Hamburg, 16. Februar 2010, 07:36 | von San Andreas

A Serious Man (Icon)

Ab dem Moment, als seine Frau ihm eröffnet, sie würde Sy Ableman ihm vorziehen, gerät Professor Gopniks Leben aus den Fugen. Er ist derart vom Pech verfolgt, dass man glau­ben könnte, jemand habe etwas gegen ihn. Ist es Gott? Dies herauszufinden, wendet sich Larry an die Würdenträ­ger seiner jüdischen Gemeinde …

Coen Country. Ein namenloser Vorort von Minneapolis, Minnesota. Wenn es ein Coen Country gibt, dies muss es sein.

Coen Klüngel. Roger Deakins (Kamera), Carter Burwell (Musik)

Coen Quote. »Look, look, something is very wrong! I don’t want Santana Abraxas, I’ve just been in a terrible auto accident!« (Larry weiß die Offerten des freundlichen Columbia-Kundendienstmitarbeiters nicht recht zu würdigen)

Coen Gold. Dannys Bar Mitzwa. Die Zeremonie, mit der der Junge die jüdische Religionsmündigkeit erwerben soll, wird durch seinen Marihuana-Konsum auf dem Synagogenklo ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Der große Moment seines Tora-Vortrages ist so liebevoll subjektiv inszeniert (Höhepunkt ist das ohrenbetäubende Geräusch, das die Jad, der Tora-Zeigestab, auf dem Pergament macht), dass den Coens enge autobiografische Motive untergeschoben wurden. Sie dementierten.

Classic Coen? Auf den Plakaten an den U-Bahn-Haltestellen steht: »Von den Machern von ›Fargo‹, ›The Big Lebowski‹, ›No Country for Old Men‹ und ›Burn After Reading‹«. Diese Filme sprechen zwar für die Klasse der Coens, wecken jedoch die falschen Erwartungen. Tatsäch­lich wurden Zuschauer beobachtet, die frustriert den Saal verließen: kein Blut, kein Bowling, kein Ballern, kein Brad Pitt.

»A Serious Man« ist eine ruhige Affäre. Der Film ist elegant, milde skurril, niemals laut oder extravagant. Die Pointen sind subtil, lauern aber an jeder Ecke der Geschichte. Es geht um Schicksal und seine Unausweichlichkeit. Es geht um Familie und ihren Zerfall. Es geht um Integrität, es geht um Wissenschaft und Religion. Es geht um Zähne und Antennen, es geht um Loyalität und Pubertät. Es geht um Xenophobie und Nudismus in der Nachbarschaft, und um Jefferson Airplane.

Stoff für einen dreistündigen Ensemble-Film, möchte man meinen, aber dies ist die Geschichte eines einzelnen Mannes. Lawrence Gopnik ist ein Mann der Vernunft, er lebt ein redliches Leben, ist ein rechtschaffe­ner, ein seriöser Mann. Er erwartet eine Anstellung auf Lebenszeit als Professor der Physik, seine Familie gedeiht prächtig, nach jüdischer Tradition, alles ist gut.

Denkt er. Als seine Frau ihn wissen lässt, es wäre Zeit über eine Trennung zu reden, ist das erst der Anfang einer verheerenden Kette von Kümmernissen. An der Uni wird er Opfer einer Rufmordkampagne, seine Kinder praktizieren Ungehorsam, er muss einen renitenten Studenten erdulden, der ihn mal besticht und mal erpresst, sein lebensunfähiger Bruder kommt erst nicht aus dem Badezimmer (»I’ll be out in a minute!«) und dann mit dem Gesetz in Konflikt, sein Redneck-Nachbar macht ihm einen Teil seines Grundstücks streitig, er verursacht einen Verkehrsunfall, Anwaltskosten fressen seine Reserven auf, um ihn herum fangen die Leute an zu sterben. Und ständig ruft dieser Dick Dutton vom Columbia Record Club an!

Es ist Larry nicht zu verdenken, dass er die Frage stellt, die sich jeder schon einmal gestellt hat, der vom Unglück heimgesucht wurde: Warum passiert gerade mir das alles? Antworten erwartet er bei den Rabbis seiner Gemeinde, denn die lange jüdische Geschichte und Tradition, so rät ihm eine Freundin, wären ein einziger Quell unschätzbarer Lebenshilfe.

Der erste Rabbi, dem er gegenüber sitzt, kramt in seinem Phrasen­baukasten und fördert eine Handvoll abgegriffener Glaubensfloskeln zutage: »You have to see these things as expressions of God’s will.« Und setzt hinzu: »You don’t have to like it, of course.« Larry möge sich doch eine andere Perspektive suchen, denn Gott wäre überall – selbst in diesem herrlichen Parkplatz da draußen.

Hilfreicher ist der ältere Kollege, Rabbi Nachtner, auch nicht. Er erzählt eine abstruse Geschichte über hebräische Gravuren auf der Innenseite der Zähne eines Goys, eines Nichtjuden. Die Anekdote hat kein Ende, keine Moral und keine Erklärung, Nachtner resümiert lediglich, dass manche Rätsel einfach nicht zu lösen wären und im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verlören. Bestürzt, dass Nachtners große Lebenserfahrung und Kenntnis der Schrift nichts Erhellenderes zu bieten haben, besteht Larry auf einer Antwort. Der Rabbi wiegelt ab: »Sure! We all want the answer! But Hashem doesn’t owe us the answer, Larry. Hashem doesn’t owe us anything. The obligation runs the other way.«

Die Default-Ausflucht aller Religionen, postuliert, um sich unangreifbar zu machen. Dem Menschen stünde es nicht zu, Gottes Wege zu hinterfragen – ganz im Sinne des Zitats von Mittelalter-Rabbi Rashi, das dem Film vorangestellt ist: »Receive with simplicity everything that happens to you.« Doch Larry ist das zu einfach. Dass er, der er ja überzeugt ist, das ihm widerfahrende Unglück widerspräche der Idee eines gütigen und gerechten Gottes, mit einem lapidaren Hinweis auf dessen Mysterium abgespeist werden soll, lässt seine rationale Seele rebellieren. Dazu hat er als Pädagoge wohl das Gefühl, Gott erfülle seinen Lehrauftrag nicht korrekt: Kein Fachmann würde je ohne Begründung schlechte Noten verteilen. Sonst: Erkenntnisgewinn gleich Null, Besserung nicht zu erwarten. Larrys Frustration kondensiert sich in der händeringenden Frage: »Why does he make us feel the questions, if he’s not gonna give us any answers?«

Dinge haben Ursachen, Dinge haben Konsequenzen. Alles liegt klar zutage, wenn man nur im Besitz aller Fakten ist. Dass es so einfach doch nicht ist, auch nicht in Larrys säkularem Umfeld der Wissenschaft, zeigt ein Schlüsselmoment des Films, der eine frühere Szene um Schrödingers Katze noch steigert. Larry behandelt Heisenbergs Unschärferelation, schreibt fiebrig Formeln an eine Tafel und erklärt: »The Uncertainty Principle. It proves we can’t ever really know …« – in diesem Moment schneidet die Kamera in die Totale, gibt den Blick frei auf die gewaltige, restlos mit Formeln bedeckte Tafel – »… what’s going on.«

Larrys Beweis ist so elaboriert und spannend wie Nachtners Zahn-Anekdote, läuft aber auf dieselbe ernüchternde Feststellung hinaus: Wir tappen im Dunkeln. Endgültige Gewissheit ist eine Illusion; den Katzenkasten zu öffnen oder der Welt mit Messgeräten zu Leibe zu rücken, ist genauso irreführend und vergeblich wie der Versuch, Gott in die Karten zu kucken. Wobei der vermutlich gar kein Blatt auf der Hand hat, so wie es aussieht … Die Coens treiben es nicht weiter mit ihrer Gotteslästerei, erlauben sich lediglich noch einen Seitenhieb auf die jüdische Egozentrik. »What happened to the goy?«, fragt Larry. Nachtner darauf: »The goy? Who cares?«

Larry schafft es nicht, zum ältesten und weisesten Rabbi vorzudringen (Grund: »He’s thinking.«), sein Sohn aber erhält als frischgebackener Religionsmündiger automatisch das Privileg. Die bedeutungsschwange­ren Worte, die der alte Marshak ächzend von sich gibt, sind schwer zu verstehen, aber sie entpuppen sich als Textzeilen von Jefferson Airplanes »Somebody to Love«. Marshaks Wissen ist also tatsächlich allumfassend. Und das Zitat, das er bringt – »When the truth is found to be lies, and all the hope within you dies.« – spiegelt orakelhaft Larrys zum Scheitern verurteilte Suche nach der Wahrheit (im Original heißt es ›joy‹ anstelle von ›hope‹; möglicherweise eine bewusste Manipulation der Coens, um die Verbindung deutlicher zu machen).

Danny bekommt sein konfisziertes Transistorradio zurück, und schon ist er mit der wertvollen Weisung »Be a good boy.« ins verantwor­tungsvolle Leben entlassen. Es steht zu vermuten, dass dieses Leben weniger von frommen Dogmen geprägt sein wird als noch das seines Vaters, wenn schon der mit dem Glauben hadert und nur noch die Tradition lebt, nicht die Überzeugung. Religion kann die Lebensfragen der Menschen nicht mehr beantworten. Der ›Summer of Love‹, der in San Francisco ausgebrochen ist, hat selbst das Hinterland des Mittleren Westens erreicht, die Kinder entdecken nun erst mal sich selbst, sind mit Haarewaschen, Musik und Drogen beschäftigt.

Seltsam deplatziert wirken diese Moden in der aseptischen Bungalow­siedlung mit ihren langweilig sauberen Rasenparzellen (»Property line’s the poplar.«), die offenkundig jenem jüdisch geprägten Vorort von Minneapolis nachempfunden ist, in dem Joel und Ethan aufge­wachsen und zur Schule gegangen sind. Tatsächlich heißen einige von Dannys Schulfreunden wie ihre damaligen Kameraden. Und Anwalt Ronald Meshbesher, dessen Namen sich die Coens nicht besser hätten ausdenken können, praktiziert tatsächlich in Minneapolis.

Derlei Reminiszenzen bestätigen, was die Ausstrahlung des Films nahelegt: »A Serious Man« ist der bislang persönlichste Film der Coens, und es ist bei aller Ironie auch der warmherzigste. Der Film hat Larry Gopnik gern, selbst wenn er ihm übel mitspielt. Und seine Welt hat Ecken und Winkel, in denen Joel und Ethan ihre Launen ausleben können: Da fahren Kameras durch Hörkanäle, setzen unangekündigte Traumsequenzen neckische Akzente, da werden Personen in ein eher unvorteilhaftes Licht gesetzt (Onkel Arthur beim Baden, buäh) und nicht eben behagliche Details in den Vordergrund gerückt (sein Schleimabsauggerät).

Etliche Bonbons finden sich auf der Tonspur: vom Rascheln des Perlenvorhangs von Mrs. Samsky bis zu dem Tinggg-Geräusch, das der Kiddush-Becher macht, den Danny Rabbi Nachtner eher entreißt als dass er ihn ihm gibt. Ferner erforschen die Coens abermals den Klang von Namen (Dick Dutton, Solomon Schlutz), experimentieren mit idiomatischer Phonetik (»Mere surmise, Sir.«) und merkwürdigen Stimmen (der überraschende Bass von Marshaks Sekretärin, Sy Ablemans einlullende Schmalzstimme).

Joel und Ethan geben sich auch kryptisch: Dem Film als Prolog vorangestellt ist eine unheimliche Episode aus einem osteuropäischen Schtetl des 19. Jahrhunderts, aus einer Zeit also, in dem der Glaube bzw. der Aberglaube noch uneingeschränkten Einfluss auf das Leben der Menschen hatte. Die kleine Geschichte ist nicht traditionell, ist von den Coens ausgedacht und setzt den Ton, aber ihre Beziehung zum Rest des Films bleibt unklar. Ähnlich mysteriös ist Onkel Arthurs Lebenswerk, der Mentaculus, ein wahnwitziges Büchlein voller numerischer Kritzeleien, die vielleicht gleichermaßen an die jüdische Kabbala und Larrys konfuse Tafelbilder erinnern sollen.

Fragezeichen umwölken auch den ominösen Schluss des Films. Larry lässt sich dazu hinreißen, im Falle des renitenten Studenten seine Prinzipien ein wenig zu lockern, die monetäre Notlage zwingt ihn dazu. Seine akademische Integrität angekratzt, erhält er prompt eine zutiefst beunruhigende Nachricht von seinem Arzt, während draußen ein herannahender Tornado den Himmel verdunkelt. Sollte alles ein tragisches Ende finden, bevor die drängende Frage geklärt ist, warum guten Menschen Böses zustößt? Der Film zumindest findet sein Ende. Schwarzblende, und aus.

Was machen wir daraus? Erhält Larry die göttliche Quittung für sein Zweifeln, und mit ihm die gesamte Gemeinde? Oder gibt es halt manchmal Tornados in der Gegend? Als Fingerzeig mag gelten, dass im April 1967 tatsächlich eine Serie von Wirbelsturmen das südliche Minnesota heimsuchte; deute man das, wie man will … Bibelfeste Kritiker jedenfalls versäumten nicht zu erwähnen, dass Larrys unglückliche Geschichte ganz offensichtlich dem Buch Hiob nachempfunden sei (vernachlässigend, dass Larry weder zu Gott hält noch schlussendlich reich belohnt wird). Andere bemühen wieder die alte Leier vom jüdischen Selbsthass und beklagen, der Film wäre von nichts als jüdischen Karikaturen bevölkert.

Dabei ist das Casting nur der charaktervollsten Physiognomien, nur der ausdrucksstärksten Gestalten die halbe Miete jedes Coen-Films – in diesem Fall in wohltuender Abwesenheit von Stars und Sternchen, stattdessen unter Mithilfe vieler ortsansässiger Laien. Warum genau Arlen Finkle zum mausgesichtigen Pharisäer gerät, der Schuldirektor zum ohrbehaarten Runzelgreis und seine Sekretärin zur mächtigen Matrone im Blümchenkleid – die Wege der Coens sind unergründlich.

Larry Gopnik nun (anrührend und komisch zugleich: Michael Stuhlbarg) ist einer der wenigen Charaktere im Coenversum, die ihr Dasein in einem größeren Zusammenhang zu fassen versuchen. Üblicherweise reflektierten Coen-Figuren die Absurdität ihrer Situation nicht (oft, weil ihre eigene Idiotie ihnen dabei im Wege stand). Ed Crane machte sich in »The Man Who Wasn’t There« schon zaghaft Gedanken über sein Leben, Sheriff Bells Weltschmerz in »No Country for Old Men« ist bereits das zentrale Thema des Films.

Larry katapultiert die Sinnfrage weit über die Grenzen des Films hinaus, macht die Implikationen der Geschichte relevant für alle, die vielleicht in ähnlicher Weise mit dem Schicksal hadern. Ironisch und leichtfüßig genug, um nicht zu vielen Zeitgenossen auf den Schlips zu treten, laviert sich der Film durch Themen, die im Coen-Kino durchaus kein Standard sind. Nie stand es in dem Ruf, selbstreflexiv und fast grüblerisch dem Sinn des Lebens auf der Spur zu sein, sich keck mit Weltanschauungen anzulegen oder überhaupt nur gegen den kulturellen Strich zu bürsten. Womöglich sind Joel und Ethan mit »A Serious Man« tatsächlich erwachsen geworden? Masel tov!

Coen Culture. Die Liste von Schülern, die Larry beim Wickel hat, verzeichnet als letzten Namen eine Mary Zophres. Die Frau ist die Kostümdesignerin des Films und, offenbar eine verlässliche Kraft, auch der vorangegangenen acht Coen-Filme (für den nächsten ist sie auch schon gebucht). Mary Zophres also verpasste Judith Gopnik die hässlichen Wollblusen, Sy Ableman die schreienden Südseehemden und Larry seine zu kurzen Hosen. Psychische Schäden trugen die Darsteller offenbar nicht davon, wie der Abspann verrät: »No Jews were harmed in the making of this motion picture.«
 

25 Jahre Coen-Kino (13):
Burn After Reading (2008)

Hamburg, 15. Februar 2010, 07:53 | von San Andreas

Burn After Reading (Icon)

Osbourne Cox verliert seinen Job bei die CIA. Seine Frau Katie, die ihn mit Harry Pfarrer betrügt, spioniert seinen Rechner aus. Die CD mit den Daten gerät in die Hände von Linda Litzke, die sich damit Geld für eine Operation erpres­sen will und dazu die Hilfe ihrer Kollegen Ted und Chad einfordert. Als Harry auf Chad trifft und Cox auf Ted, geraten die Dinge rasch außer Kontrolle …

Coen Country. Washington D.C. Keine urtypische Coen-Location, aber als Sitz der CIA eine sinnfällige Wahl. Der Horizont der Charaktere scheint von der Weltoffenheit der Hauptstadt allerdings unbeeindruckt.

Coen Klüngel. George Clooney (Harry), Richard Jenkins (Ted), Frances McDormand (Linda), J.K. Simmons (CIA Superior), Carter Burwell (Musik)

Coen Quote. »Osbourne Cox? I thought you might be worried … about the security … of your shit.« (beim Ausüben des korrekten Jargons offenbart Chad Feldheimer noch gewisse Unzulänglichkeiten)

Coen Gold. Der Kalte Krieg, wieder aufgewärmt. Die alten Feindbilder stecken noch im Volk, mit der Loyalität ist es aber nicht weit her. Was zu tun ist, haben Linda und Chad den alten Agentenfilmen abgekuckt; die Disk mit den mutmaßlich hochbrisanten Daten wird dem russischen Botschafter zugeschanzt (dessen Frage »Mac or PC?« ein typisches i-Tüpfelchen aus dem Hause Coen). Die weniger einfältigen Beteiligten – Cox und der CIA – reagieren gleichermaßen perplex: »The Russians …?!?«

Classic Coen? Man kann »Burn After Reading« für eine eher harmlose, starbesetzte Komödie halten, die einen öden Sonntagnachmittag zu retten imstande wäre. Aber wenn der Film einen nach 96 Minuten relativ abrupt entlässt, bleibt man möglicherweise etwas irritiert zurück. Gelohnt hat es sich schon irgendwie, aber anders als erwartet.

Der Film benimmt sich nicht wie eine Komödie, verbreitet keine richtige gute Laune, sein Kapital sind keine Lacher. Er erzählt einfach nur diese abgefahrene Geschichte und nimmt dabei auf nichts Rücksicht, was der Zuschauer vorhergesehen haben könnte. Immer wenn er glaubt, ein vertrautes Muster zu erkennen, machen einem die Coens einen Strich durch die Rechnung.

Beispiel. In Komödien gibt es oft Überraschungen, die keine sind: Der Mann, der sich im Wandschrank versteckt, wird entdeckt werden, das ist klar. Was wir erleben, ist eine Überraschung aus zweiter Hand, und die ist viel lustiger: Als Eingeweihte empfinden wir die Suspense vor der Entdeckung, können uns mit Wonne in beide Parteien hineinver­setzen. Was für die Charaktere überraschend ist, ist für uns komisch: Komisch ist die Situation, komisch sind die jeweiligen Reaktionen der Figuren. Und spannend ist die Frage, wann und auf welche Weise die Entdeckung stattfinden wird. Das Lachen kommt dann automatisch.

Die Coens inszenieren in »Burn After Reading« konsequent um derlei Standards drumrum; sie haben keinerlei Skrupel, das befreiende Lachen des Publikums mit dem brutalst möglichen Schockeffekt abzuwürgen. Um Fassung ringend, versucht der Zuschauer zu rekonstruieren, was er da eben gesehen hat: Die Folgen sind gar nicht abzusehen. Dieses perfide Manöver saugt auf einen Schlag alle Komik aus der Szene und etabliert für den Zuschauer unversehens das, womit der, in seinem Tran, angesichts des gewohnten Szenenaufbaus partout nicht gerechnet hatte: eine Überraschung!

Und so schlägt die Geschichte manch originelle Haken, treibt wunderbar verschrobene Blüten. Wie schon Jeff Lebowski der denkbar unpassendste Mann war, einen Chandler-Fall zu lösen, sind die Figuren dieses Films nicht eben prädestiniert für den Agentenalltag. Es sind allesamt Idioten, mit Verlaub, wenn auch mitunter nette. Jede Person hängt dabei fest in einem unerfüllten Leben: der Geheimdienstmitarbeiter, der gerade geschasst worden ist, die Fitnessstudio-Managerin, die sich ihre Schönheits-OP nicht leisten kann, ihr Chef, der seine Liebe zu ihr nicht eingestehen kann, der Ehemann, der von der erfolgreichen Frau vernachlässigt wird, der infantile Fitnesstrainer, der nicht einmal realisiert, dass sein Leben unerfüllt ist.

Was passiert, wenn sich die kleinkarierten Motive dieser Jedermänner und -frauen im Umfeld von Geheimdienst, Körperkultur und Internet-Dating überlagern? Nichts Sinnvolles, und wie abstrus die Ereignisse von außen wirken müssen, erfahren wir Eingeweihten, indem wir zwei Briefings des CIA-Chefs beiwohnen dürfen.

Das sind interessanterweise die lustigsten Szenen des Films; in ihnen kondensiert sich der Clou des Films. Aus dem Nichts heraus entsteht unter schlichten Gemütern, die zu viele Agentenfilme gesehen und zu ernst genommen haben, ein Plot um so brisantes wie de facto nicht existentes Material. Und die echten Agenten haben nicht den Schimmer einer Ahnung, was da vor ihren Augen abläuft. Fazit: Für eine Geschichte um Erpressung, Konspirationen, Intrigen und Spionage braucht es keine Agenten. Es braucht nur einen MacGuffin, alles weitere kommt von selbst.

Im letzten Briefing rafft der Film Ungezeigtes: Zwei der Hauptpersonen segnen das Zeitliche, Linda Litzke bekommt ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt, und bevor man noch fragen kann, was aus Clooneys Charakter geworden ist, geht die Kamera auf größtmögliche Distanz, macht uns klar, wie unwichtig diese kleine Geschichte war. Keine Konsequenzen.

Und das ist auch der Anspruch des Films. »Burn After Reading« ist ein kleiner und feiner Film, ein in sich geschlossenes Vergnügen, das sich durch eine Handvoll sonderbar irritierender Momente im Gedächtnis verhakt, aber sonst nicht lange nachwirkt. Eine Fingerübung für die Gebrüder Coen, aber eine liebevolle. Das Drehbuch fiel während der Scripting-Sessions für »No Country …« mit ab, und die Wunschkandi­daten, denen Joel und Ethan die Hauptrollen auf den Leib schneider­ten, nahmen mit Kusshand an. Oft alte Bekannte: George Clooney nach »O Brother …« und »Intolerable Cruelty« bereits zum dritten Mal (als Abschluss dessen, was die Coens scherzhaft als ›trilogy of idiots‹ bezeichneten), Richard Jenkins ebenfalls zum dritten Mal, und Frances McDormand gar zum siebenten Mal (nicht hinderlich sicher die Tatsache, dass sie mit Joel Coen verheiratet ist).

Brad Pitt ist der Neue. Und hat offensichtlich einen Heidenspaß, einen liebenswerten Kleingeist darzustellen, dessen extrem kurze Aufmerk­samkeitsspanne seinen Ambitionen als Erpresser nicht eben zuträglich ist. Immer einen isotonischen Durstlöscher im Anschlag, scheitert er zwar an jeder Herausforderung, gewinnt durch seine Arglosigkeit allerdings mühelos das Herz des Zuschauers.

Wie gemein von den Coens, gerade ihm ein tragisches und gewaltsa­mes Ende zu bereiten. Missbrauchen die Regisseure etwa die Bereit­willigkeit des Publikums, sich ihnen für 90 Minuten auszuliefern? Sind sie zynisch und herzlos? Als Gegenfrage sei erlaubt, seit wann die Unberechenbarkeit einer Geschichte kein zu begrüßender Vorteil mehr wäre. Die Spielzüge der Coens hängen nicht im Korsett einer von Konventionen und moralischen Grundsätzen bestimmten Erzähltradi­tion; die Geschicke ihrer Figuren scheinen eher von blindem Schicksal bestimmt, sie selbst setzen nur die Prämissen. So gewinnt selbst eine letztlich unerhebliche Geschichte wie »Burn After Reading« eine lebensechte, natürliche Qualität. Sie erscheint wie frische Kost im eintönigen Multiplex-Einerlei, sie ist ein süßsaurer Kornapfel zwischen Popcorn und Taco-Chips mit Käse.

Coen Culture. Nach beeindruckenden neun Filmen in Folge stand bei einem Coen-Film einmal nicht Roger Deakins hinter der Kamera. Gerade, als alle Darsteller Zeit hatten, war er nicht verfügbar, weil er sich für »Revolutionary Road« verpflichtet hatte. Für den Schnitt aber zeichnet wieder einmal Roderick Jaynes verantwortlich, ein treuer Weggefährte der Coens, so verlässlich und kompetent – wie nicht existent. Hinter dem Pseudonym verbergen sich Joel und Ethan selbst, und trotz Jaynes‘ Nichtexistenz wurde er zweimal für den Oscar nominiert. Nur bei dreien ihrer Filme (»Raising Arizona«, »Miller’s Crossing«, »The Hudsucker Proxy«) nahmen die Coens die Mithilfe anderer Cutter in Anspruch.