25 Jahre Coen-Kino (12):
No Country for Old Men (2007)

Hamburg, 14. Februar 2010, 08:12 | von San Andreas

No Country for Old Men (Icon)

Llewelyn Moss, tapferer Texaner, stolpert in der Wüste über einen schiefgegangenen Drogendeal und reißt sich einen Koffer Geld unter den Nagel, worauf sich ein psychopathi­scher Killer namens Anton Chigurh an seine Fersen heftet. Provinzsheriff Ed Tom Bell versucht sich einen Reim auf das Ganze zu machen, während Carson Wells, der Chigurh kennt, versucht, das Schlimmste zu verhindern …

Coen Country. West Texas, 1980. Zurück im hitzeflimmernden »Blood Simple.«-Territorium, aber viel abgelegener, im Grenzland zu Mexiko.

Coen Klüngel. Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Do you have any idea how crazy you are?« (Carson Wells‘ Beitrag zur Rubrik ›Berühmte Letzte Worte‹)

Coen Gold. Anton Chigurh verwickelt einen unbescholtenen Tankstelleninhaber in ein Gespräch. Sowie Chigurh eine freundliche Phrase an sich abperlen lässt, verliert der Wortwechsel den Boden sozialer Konvention. Eine Irritation macht sich breit, die in Verwirrung und Angst umschwenkt, als Chigurh ihn zu einem Münzspiel nötigt. Der gute Mann hat der Autorität Chigurhs rein gar nichts entgegenzu­setzen, und es ist sein Glück, dass er nicht weiß, dass er gerade um sein Leben spielt.

Classic Coen? Zu sagen, mit »No Country for Old Men« hätten die Coens zu alter Stärke zurückgefunden, wäre nicht besonders präzise. Zwar zeigten sie sich tatsächlich wieder stark, ja unglaublich stark, aber es waren neue Stärken. Denn mit dieser Produktion betraten die Gebrüder Coen in vielerlei Hinsicht Neuland.

»No Country …« ist die erste echte Literaturadaption der Coens (mit »True Grit« steht bald eine zweite ins Haus). Das Skript hält sich sehr eng an Cormac McCarthys hartgesottenen Roman und wurde, abweichend von der gewohnten Arbeitsweise der Coens, nicht im Hinblick auf bestimmte Darsteller verfasst. Der Film ist bei weitem der brutalste und gewalttätigste ihres Œuvres, es ist ihr wortkargster und auch, trotz einiger Spitzen schwarzen Humors, ihr düsterster. Es ist viel Bewegung und Dramatik in dem Film, nie waren die Coens näher an einem Actionthriller. Und nie war ihr Einsatz von Musik sparsamer; stattdessen herrscht eine Atmosphäre atemloser, drückender Spannung.

Auf der Besetzungsliste finden sich untypischerweise keine alten Weggefährten der Coens (mit Ausnahme von Stephen Root, der in »The Ladykillers« eine Chefpersönlichkeit spielte, wie hier auch). Unbedingte Authentizität war das Gebot der Stunde, und so griffen andere Prioritäten. Die Region, West Texas, ist Teil der Charaktere; gerade für die Figur des Sheriffs kam nur eine Handvoll Darsteller in Frage, die diese Verbundenheit glaubhaft darzustellen in der Lage sein würden; ein Talent für den Dialekt allein reichte da nicht.

Tommy Lee Jones wurde praktisch am Handlungsort geboren; sein Sheriff Ed Tom Bell ist eins mit dem Land, steht im Zentrum des Films. Er ist der Gute; seine kompetente, unerschütterliche, trockene Art erdet den Film, und in seiner Figur kristallisiert sich der melancholische Grundsentiment der Geschichte. Bells Eingangsmonolog und seine Gespräche mit Kollegen beklagen den Exodus alter Werte: Die Moderne fresse Texas auf, selbst das Verbrechen sei nicht mehr greifbar, es sei irrational geworden. Oder war es das schon immer?

Einmal erzählt Sheriff Bell seinem jungen Kompagnon von dem Paar, das in Kalifornien Zimmer an ältere Menschen vermietet hatte, nur um sie umzubringen, im Hof zu verscharren und ihre Rentenschecks zu kassieren. Sie hatten ihre Opfer zunächst gefoltert. Warum, wisse er nicht: »Maybe the television set was broke.«

Es ist jene unfassliche, dämonische Qualität des Verbrechens, die Sheriff Bell mehr und mehr resignieren lässt, und es ist auch präzise jene Qualität, die im Film Anton Chigurh verkörpert, dessen absonderlicher Name ihn bereits als Fremdkörper kennzeichnet. Javier Bardem ist kein Texaner; sein Chigurh spricht ohne Akzent und Emotion, seine Kleidung ist auffällig unauffällig, sein Auftreten ausdruckslos, sein Schritt ohne Schwung. Seine seltsame Frisur indes entwickelt fast eine eigene, furchteinflößende Persönlichkeit.

Chigurh ist eine Maschine. Seine zähe Determiniertheit, seine Wertelosigkeit unterscheidet ihn nicht von Spielbergs Weißem Hai, selbst seine Augen starren genauso leblos. Wenn er mit einem spricht, zeigt er keinen Sinn für Humor, Ironie oder Smalltalk, sein Lächeln strahlt keine Freundlichkeit aus, sondern Terror. Chigurhs Agenda ist dabei nicht unbedingt die des Sadisten; er findet keine Freude am Leid anderer. Das Verstörende an seinem Handeln ist, dass es bei allem Wahnsinn erschreckend rational organisiert ist.

Rhetorik lässt den Mann unbeeindruckt, es gibt keine Diskussion. Er steht unbeirrbar zu seinen Prinzipien, keine irdischen Werte würden ihn je umstimmen (»I won’t tell you you can save yourself, because you can’t.«). Böse ist das lediglich aus der Perspektive eines Moralisten, nüchtern betrachtet ist es nur konsequent, er handelt ohne Ansehen der Person. Kommt diese mit dem Leben davon, ist das nicht Gnade, sondern Zufall. Anton Chigurh ist das Schicksal persönlich.

Er ist das Übel, dem wir nicht entrinnen können. Er verkörpert die nackte Barbarei, die bleibt, sobald alle Moral wegbricht, er stellt die Regression des Menschen in ein Stadium ohne Empathievermögen dar, und mithin das Extrem der Entwicklung, der Bells Generation ohnmächtig gegenübersteht. Ihr Lamento reflektiert die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen dunklen Seite.

Zwischen den Polen, die Bell und Chigurh darstellen, schwankt Llewelyn Moss (Josh Brolin), ein abgebrühter Vietnam-Veteran, der sich und seiner Frau ein besseres Leben wünscht. Wieso also nicht etwas Drogengeld beiseite schaffen? Moss bewegt sich gerissen wie ein Coyote, verschmilzt mit seiner Umgebung, sichert sich die Beute. Welch Ironie, dass es gerade ein Impuls der Empathie und des Mitleids ist, der ihn in Teufels Küche bringt.

Nichts ist frappierender an der Dramaturgie des Films als die Tatsache, dass die Konfrontation der drei Hauptfiguren, auf die der Plot zuzusteuern scheint, niemals stattfindet. Chigurh spürt Moss zwar auf, doch dessen Instinkte retten ihn jedes Mal um Haaresbreite. Als sich die beiden einander für Sekunden auf Sichtweite nähern, verletzten sie sich in einem haarsträubenden Schusswechsel so stark, dass sie für einige Zeit damit beschäftigt sind, ihre Wunden zu pflegen und schlicht und einfach zu überleben.

Währenddessen versucht Sheriff Bell, die Spur von Moss aufzunehmen, um ihn vor seinen Verfolgern (auch eine Bande von Mexikanern ist hinter Moss her) in Sicherheit zu bringen. Als er ihn endlich findet, sind es gerade ein oder zwei Minuten, die er – und wir – zu spät kommen. Llewelyn Moss ist tot.

Die Coens beweisen Hitchcock’sche Chuzpe, die Identifikationsfigur des Publikums lange vor Ende des Films dahinzuraffen, doch nicht etwa in der dramatischsten Szene des Films, sondern in überhaupt keiner Szene. Ihr Skript kennt keine Konvention. Unerbittlich schreitet es voran, erklärt nicht viel auf seinem Weg, springt unvermittelt von Ort zu Ort, wechselt in die Subjektive oder montiert parallel, wenn es ihm passt.

Über weite Strecken fällt kein einziges Wort, die Kamera beobachtet die Charaktere, wie sie Gerätschaften basteln, sich Medikamente oder Kleidung beschaffen, die Beute verstecken, auf etwas warten, sich verarzten, Spuren deuten und verfolgen. Allein dieses rein filmische Erzählen entwickelt eine immense Sogwirkung; wenn die Überlappung der Handlungsstränge dann dem Publikum Informationsvorteile verschafft, kennt die Spannung keine Grenzen.

Aber es ist keine Spannung von der Sorte, die Spaß machen soll. Sie ist unbarmherzig, sie ist rau, und sie ist Teil der Geschichte. Der Film macht den Plot nicht dramatischer als er ist, sein Puls bleibt konstant, keine Musik peitscht die Handlung auf Höhepunkte hin, keine Schnitt­folgen beschleunigen die Wahrnehmung. Es sind allein Bilder, die den Zuschauer seine Armlehnen zerdrücken lassen. Das ist nacktes, hartes Kino.

Diese ›no-nonsense‹-Herangehensweise verbindet den Film mit dem Coen-Erstling »Blood Simple.«, ganz abgesehen vom ähnlichen Schauplatz und dem launigen Eingangsmonolog. Und auch andere Dinge verraten letzten Endes die Coen’sche Urheberschaft. Die punktgenau ausgesuchten Nebencharaktere – die Motelbetreiber, die Farmer, die Hotelangestellten, die Grenzbeamten, die Tankstellen­inhaber – verleihen den brillant aus der Vorlage kondensierten Wortwechseln eine skurrile, eindeutig texanisch-provinzielle Note, die nur einen Deut an der Karikatur vorbeischrammt.

Und dann sind da die vielen Details, die nur den Coens auffallen: die schwarzen Schlieren auf dem Linoleum, die die Absätze des sich im Todeskampf windenden Deputys hinterlassen, die ›lebendige‹ Snackverpackung auf dem Tankstellentresen, die Reflexion von Chigurhs Silhouette in Moss‘ Fernsehgerät, der Abdruck des Schloss­zylinders an der Holztäfelung. Oder Chigurhs Besorgnis um die Unversehrtheit seiner Alligatorstiefel; mit ihrer Hilfe verkürzen Joel und Ethan elegant die Szene um Carla Jeans Schicksal. Der Killer tritt aus dem Haus, prüft seine Sohlen auf Blutspuren, und verschwindet. Das hat Stil und Größe: Die Coens prahlen nicht verschwenderisch mit expliziten Gräueln; der Schock einer Handvoll Einstellungen erhält das Entsetzen aufrecht.

Chigurh wird den Film praktisch ungeschoren verlassen, seine Gegner entweder tot – oder pensioniert, wie Sheriff Bell. Dem gehören auch die letzten Worte; er erzählt seiner Frau von einem Traum, den er hatte; und selbst der vergönnt ihm keine Erleuchtung, keinen Trost, keine Rettung. Denn er wacht vorher auf, frustriert und hilflos wie zuvor: Er ist zu alt für dieses Land. Abspann.

Einige Zuschauer waren gleichermaßen frustriert. Der Film hatte die losen Enden nicht verknüpft, hatte die Thriller-Konventionen unter­laufen, hatte die falschen Leute sterben lassen, hatte an der falschen Stelle geendet. Was ist das für eine krude Moral? Und was war nun eigentlich mit dem Geld passiert?

Aber den Konventionen Genüge tun hieße, den Sinn der Geschichte zunichte zu machen. Es ist dies das erste Mal, dass sich die Coen-Brüder in den Dienst von so etwas wie einer Botschaft oder einer tieferen Einsicht stellen. Der Film, so packend, so authentisch und minutiös inszeniert er auch ist, dreht sich nicht nur um sich selbst. Er mag als ausgekochter, hakenschlagender Thriller funktionieren, doch weist er zwischen den Zeilen über sich hinaus, sinniert über das Entmenschlichte im Menschen.

Das ist in erster Linie seiner Vorlage geschuldet, doch ist die oft beschworene Kongenialität nicht trivial. Nur zu leicht ist der feine Grat zwischen resignierendem Weltschmerz und zynischem Fatalismus überschritten. Joel und Ethan treffen genau den Ton, scheinen McCarthys grimmig-realistischer Weltsicht tief verbunden. Die menschliche Natur ziert eine dunkle Facette, und man kann sie nur akzeptieren; verstehen oder gar tilgen lässt sie sich nicht. Happy End? Nicht im Leben … und im Kino auch nicht.

Coen Culture. Joel und Ethan Coen ziehen aus dem Stand mit Orson Welles und Warren Beatty gleich, was die Anzahl der Oscar-Nominierungen für ein und denselben Film angeht. Von den vier Nominierungen – Bester Film, Bester Regisseur, Beste Adaption und Bester Schnitt – gewinnen sie drei, während Welles (für »Citizen Kane«) und Beatty (für »Reds«) seinerzeit jeweils nur einen abgesahnt hatten.
 

Eine Reaktion zu “25 Jahre Coen-Kino (12):
No Country for Old Men (2007)”

  1. Gisela

    Lieber San Andreas,

    habe vorgestern diesen Film gesehen (ja, ja, bin etwas langsam) und heute deinen Artikel entdeckt. Vor-züg-lich, eine Lust zu lesen.

    Trotzdem einige Fragen:
    Steht Bell wirklich im Zentrum des Films? Er kommt doch immer zu spät, greift überhaupt nicht in die Handlung ein, spielt keine Rolle für Llewellyn und Chigurh. Man könnte ihn einfach streichen und die Spannung bliebe unberührt. Er ist kein ernst zu nehmender Verfolger. Wichtig ist er allein für die Atmosphäre. Streut Melancholie und Trauer über all das Geballer. Und trägt das Licht und die Wärme weiter (Traum), allerdings nur als Schimmer aus dem Totenreich. Also die Frohe Botschaft, Milligrammversion.

    Chigurh ist nur begrenzt eine realistische Figur. Er gleicht der Münze in der berühmten Szene: die personifiziert ja Schicksal oder Tod und Leben usw., bleibt aber eine simple Münze „was sie auch ist“. So ist Chigurh das Böse; wenn er davongeht, glauben wir nicht, dass irgend jemand ihn je kriegt, er ist unsterblich, Knochen hin oder her, dennoch bleibt er eine Art Mensch.

    Und warst du wirklich immer entsetzt? Lässt es einen nicht umso kälter, je höher der Leichenberg wächst? Ging mir so.

    Aber genial, wie der Übergang erfolgt von Llewellyn, „zu dem man hält“, auf Bell, der nix ausrichtet. So ist es, sagt der Film. Grand soupir.

    Mit Dank und besten Grüßen,
    Gisela

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