Vossianische Antonomasie (Teil 1)

Konstanz, 9. Juni 2009, 09:04 | von Marcuccio

 

  1. der deutsche Bob Woodward
  2. der Stalin der Reformation
  3. der Capote der Generation Golf
  4. die schwäbische Jelinek
  5. das Pompeji des Einzelhandels
  6.  

Der grooooße John Flaxman

London, 7. Juni 2009, 10:05 | von Dique

Die Flaxman-Ausstellung hatte ich ja schon erwähnt, und im Kunst­BlogBuch gab es auch gerade eine schöne Kritik mit einigen Erinnerungsfotos vom Ausstellungsraum.

Die Schar der Flaxman-Bewunderer scheint mir sehr klein zu sein, selbst Bekannte mit kunsthistorischem Hintergrund schenken mir ein eher mitleidiges Lächeln, wenn ich von den Umrisszeichnungen, Reliefs und Wedgwood-Designs von John Flaxman schwärme, als gäbe es kein Morgen.

Der GROOOOSSE Flaxman war sogar mal der Running Gag eines Freun­des, mit dem ich ein Wochenende lang in der Stadt unterwegs war. Deshalb freute ich mich dann auch diebisch, als weder die Felsgrot­tenmadonna (wird restauriert) noch das »Supper at Emmaus« (war verliehen) während seines Besuches in der National Gallery zu sehen waren. Ätsch!

Die erste Flaxman-Ausstellung sah ich 2003 im Sir John Soane’s House in London. Hier waren es die Umriss­zeichnungen (outline drawings), die mich sehr beeindruckten. Diese klaren und weichen Umrisslinien, auf weißem Grund, dezent gerahmt, klassizistischer Minimalismus. Die Feinheit der Linie fasziniert mich auch immer wieder an den Zeichnun­gen von Ingres, aber das ist ein anderes Kapitel.

In der Ausstellung im Soane’s gab es außerdem ein Gipsmodell des Schildes von Achilles zu sehen, welches so extraordinary wirkte, eben weil es noch nicht gegossen war, es noch nicht metallen glänzte, sich also die Konturen, die Figuren des reichlich berelieften Schildes um­risshaft in der weißen, beschliffenen Oberfläche abzeichneten. Es stellte sich ebenso reduziert und minimalistisch dar wie seine Umriss­zeichnungen, mit welchen er Dante (Göttliche Komödie) und Homer (Odyssee) illustrierte.

Flaxman: Ulysse descend aux enfers, par les conseils de Circé ; pour y consulter l'ombre de Tyrésias
« Ulysse descend aux enfers, par les conseils de Circé ;    
pour y consulter l’ombre de Tyrésias »    

Wenn man Glück hat, findet man sogar mal eine schöne Ausgabe im Antiquariat und begibt sich bei der Lektüre (oder einfach nur beim An­sehen) automatisch in beste Gesellschaft. Denn wie ich erst kürzlich las, lernte Anselm Feuerbach in seiner Kindheit die homerische Welt anhand von Flaxman-Illustrationen kennen.

Feuerbach werde ich hier demnächst mal mit Lawrence Alma-Tadema vergleichen, aber erst wenn endlich die große Coen-Brothers-Werk­monografie von San Andreas gelaufen ist, zum ersten Mal angekündigt im November letzten Jahres! Quousque tandem, San Andi, abutere patientia nostra!

(Bildquelle: Wikimedia Commons)

Helmut Krausser: Tagebuch des März 2003

Paris, 6. Juni 2009, 10:52 | von Paco

(Anonym verfasste Inhaltsangabe. Ohne Gewähr. Siehe Einleitung.)

H. Krausser: März – Tagebuch des März 2003. München, belleville, 2003.

1.3.: Erfindet die Abk. Fugäzo für Fußgängerzone. "2002/2003: mein bestes Stück, mein bester Roman, mein bester Gedichtband. Nun geht’s bergab, das wird lustig." Nimmt jede Lesung an: "Ich werde alt und brauche das Geld."

2.3.: Schaut DSDS. Aphorismen am Bsp. "Stichwortkartenhochhal­terin" Suzanna/Harald Schmidt: "Nein, die Menschen waren früher nicht weniger dumm, inzwischen wurde ihnen jedoch eingeredet, sie dürften es sein, ohne sich schämen zu müssen." Gedanken zur Übersetzung eines Gedichtes von Robert Frost. Anläßlich Übersetzungsproblemen: "Gedichte sind Geschenke an die Muttersprache. Man kann es nicht oft genug sagen." (20) [handschriftlich dahinter:] x x x SUPER!!!

3.3.: Benutzt weiter Fugäzo: "ist doch nicht so schlecht, das Wort, klingt wie: puh, geht so".

4.3.: Fast alle Ziele erreicht, die er einmal hatte, & das TaBuProjekt ist ja wirklich bald zu Ende. Zitiert aus Hemingways Die grünen Hügel Afrikas. Größenwahn wegen UC: "Ständig erbleiche ich vor mir, bete mich an, opfere mir, kreische und tobe, küsse jedes Wort wie einen Gottesbeweis, fühle, wie das Universum unter jedem meiner Sätze etwas kleiner wird" usw. (28)

5.3.: Hat in den letzten Monaten alle Max-Goldt-Bücher gelesen ("ein großer Autor").

6.3.: "Die erste Kritik zu UC bekommen, Spiegel Online. Sehr gut. Die restlichen werde ich nicht lesen." (35) Arbeit an einer Cäsar-Version, überlegt, nach dem 3. Akt abzubrechen, da Akt 4 & 5 "entweder nicht aus der Feder Shakespeares stammen oder Jahre später von Schauspielern aus ihrer schummrigen Erinnerung niedergeschrieben wurden. Entstellt." (36)

7.3.: Autografensammler Ralph & Jaqueline, die begabte Ohrstecherin (41–44).

8.3.: Bezieht Stellung gegen die "verblödungsgesellschaft" (49). Anläßlich Chaplin & seinen 10 Kindern: "Kinder sind scheiße für die Kunst." (50)

9.3.: Kündigt nächsten Gedichtband an, der aus rechtlichen Gründen nicht Nachtkonzert heißen darf. Schaut African Queen.

10.3.: Besuch im Tierpark. American Psycho II aus der Videothek ("der letzte Trash").

11.3.: Zum Irakkrieg, gegen die Demonstranten, die "Happenings politischer Naivität" feiern, will sich aber auch nicht für den Krieg aussprechen und zieht sich auf seine "Chronistenpflicht" zurück. "Konstantin W. behauptet, im Irak wünsche sich kein Mensch, befreit zu werden. Ich glaube, für sowas wie ihn müßte man den Begriff Friedensverbrecher erfinden." (58) "Und neue Sirupsorten von Monin, die kulinarische Signifikanz dieser Saison." (59)

12.3.: "Ich würde gerne mal lesen, daß ich ein sehr ironiefähiger Autor bin." (61) Zerlegt den Anfangssatz von Kafkas Prozeß, weil er ihn für nicht schlecht, aber auch nicht für genial hält. Er findet K., der "ohne daß er etwas Böses getan hätte" verhaftet wurde, zu eindimensional und findet: "Man würde sich heute zugunsten der erzählerischen Komplexität Optionen offen halten." "denn ohne daß er bewußt etwas Böses getan hätte. Zum Beispiel." (62) "Aber mal grundsätzlich: wenn heutzutage nicht besser geschrieben werden könnte als zu Kafkas Zeiten, hätte kein Fortschritt stattgefun­den." (63)

13.3.: Bekommt die UC-Autorenexemplare. Sieht Chicago.

14.3.: Mail von Tykwer aus NY. Bukowski-Apotheose und Lob Eugen Roths.

15.3.: Vollzitat, Beitrag zu Oliver Twist für eine Anthologie ("Wir werden, was wir lesen. Danke, Charles Dickens"). Noch ein Vollzitat: 6 Strophen aus Heines Disputation.

16.3.: Privatrezension von Franzens Corrections.

17.3.: Ihm wird von der SZ-Kritik berichtet ("moderates Lob", Anleihen an Finchers The Game und David Lynch).

18.3.: Zum Andersen-Märchen in UC. Nach Berlin. Ally McBeal.

19.3.: Zum Irakkrieg. (94)

20.3.: Zitat auf 96.

21.3.: Nach Leipzig, Buchmesse. "Judith Herrmann im Profil gesehen. Was für eine Nase." Abends Lesung.

22.3.: Lesung mit Georg Oswald aus Heiner Links Frl. Ursula.

23.3.: Zurück nach Berlin. "In der Welt ein Interview mit Franzen zum Krieg, das ungefähr meiner Position entspricht."

24.3.: Oscar-Vereihung. Die neue Placebo-CD. "Kriegsberichterstattung: Die Nachrichtensprecher lächeln schon wieder bei den Anmoderationen." (106)

25.3.: "Er. Salz. Heim. Liebling." "Um Himmels Willen. Niedergehender Ideenschauer diverser nichtsnutziger Niedrigideen."

26.3.: Inventur in der Dachstube, Aufzählung von Zeug.

27.3.: "Lektüre: Kehlmann. Ich und Kaminski. Hervorragend. Klug, witzig, bissig, mit großem Talent für Dialoge, wunderbar komponiert, dabei ganz leicht zu lesen, unbelastet von substanzlosen Tricks." (123)

28.3.: UC auf Platz 6 der SWR-Bestenliste.

29.3.: Liest den FAZ-Verriß (von wem?) & die gute Kritik im Standard. Liest das "überhypte" Debüt des 24-jährigen Foer. – Zu Irak: "Wieder viele Demonstrationen in Deutschland. Einige Menschen wünschen sich laut die Niederlage der Amerikaner. Wie müssen solche Hirne beschaffen sein?" (131)

30.3.: "Kain oder Abel? Die Frage aller Fragen. Die einzige. Lieber tot und schuldlos sein? Oder leben, auf Teufel komm raus?" (134)

31.3.: Gegen den Schluß in der neuen Céline-Übersetzung: statt "… damit niemand mehr davon berichten kann …" stünde dort jetzt "… damit das alles ein ende hat." (137) – Nach Straubing zur Lesung. Lobt wieder Foers Buch, tadelt es dann: "Die letzten 100 Seiten sind grau-en-haft." (139) Endet mit dem Céline-Schluß der alten Übersetzung.

 

Helmut Krausser: Tagebuch des Februar 2002

Paris, 5. Juni 2009, 11:18 | von Paco

(Anonym verfasste Inhaltsangabe. Ohne Gewähr. Siehe Einleitung.)

H. Krausser: Februar – Tagebuch des Februar 2002. München, belleville, 2002.

Motto Hebbel, sehr schön.

1.2. "Trauma" Haltestelle. Geister. Unzufriedenheit mit Theater Heute. Jahresrückblick 2001, ua.: "Das Nibelungendrama, an dem ich mehr als fünf Jahre herumgewerkelt habe – dann Sturzgeburt." (10) Überlegt, aus dem PEN auszutreten.

2.2. Vergleich UC – Mulholland Drive.

3.2. "mein bestes Stück, Unser Lied (Das Nibelungendestillat) steht noch aus. Es ist manchmal wirklich nicht schlecht, Helmut Krausser zu sein." (22)

4.2. Polemik gegen FAS, Thomas Steinfeld. Treffen Goebbels – Kafka 1922: "Stelle ich mir sehr spannend vor."

5.2. T C Fischer als Regisseur für die Schmerznovelle. Zu Heaven von Tom Tykwer.

6.2. Malta. Heaven-Berichte: "die endgültige Inthronisierung Toms als Deutschlands Vorzeigeregisseur" (34)

7.2. Fahrt nach Valletta. Sekundärkommentare, Zwischenrufe, kleingedruckt (39–42, 61, 73, 85, 110, 119, 121, 123, 125, 128, 130). – "neue Arbeitsweise" für UC: Maler statt Komponist.

8.2. –

9.2. "die Tagebücher sollten doch vor allem für mich selbst geschrieben sein" (46). Napoleon "visionierte als Erster die Vereinigten Staaten von Europa. (…) Lützows barbarischen Freischärlern wurden in Deutschland Denkmäler gesetzt. Ekelhaft." (47) Über die deutsche Drehbuchszene.

10.2. Vanilla Sky.

11.2. The 51st State.

12.2. Kommentar zu einer Heidegger-Stelle aus Über den Humanismus.

13.2. Zurück aus Malta. Zu Oscar-Nominierungen: "Lord of the Rings, bildgewaltig, doch letztlich öder Film nach einem primitiven Buch, sahnt massiv ab." (66)

14.2. Zur Sprachkritik an Schmerznovelle. Nachrufgedicht auf Jandl. [handschriftlich dahinter:] vgl. Trübst. S. 120–129

15.2. Welt von morgen: z. überb.? – Kommentar zu Haider, Olympischen Spielen (Curling) und Sex & the City.

16.2. Anruf Hettche (Updike, Pynchon). Kraussers politisches Programm.

17.2. Charakteristik der Berlin-Mitte-Typen. Italienisch für Anfänger.

18.2. Ernst-Jünger-Stipendium. 4 Seiten E-Mail-Zitate. Zu Heinz Schlaffer.

19.2. –

20.2. Mit El Conde über Immobilien.

21.2. Über Theodor Mommsen. 2 Seiten über Heaven. Das geplante Drehbuch für Franka Potente: Frau in der Brandung.

22.2. Über eine etwaige Liebeslyrik-Anthologie bei Rowohlt.

23.2. Zitate: "Ich glaube …" (4 Zeil.) Zitat: "Der 11. September …" (3 Zeil.) Über einen Artikel von Matthias Horx, zitiert ihn dann 3 Seiten lang.

24.2. Nationalgalerie, Guggenheim-Museum. "Der Einfluß amerikanischer Serien auf meinen Alltag hat in diesem Jahr arg abgebaut." (119)

25.2. Über Strauß-Opern (Salome, Elektra, Ariadne, Arabelle, Capriccio).

26.2. FAZ-Klassenfoto.

27.2. –

28.2. 1,5 Seiten über Resident Evil.

 

Helmut Krausser: Tagebuch des Januar 2001

Paris, 4. Juni 2009, 11:24 | von Paco

(Anonym verfasste Inhaltsangabe. Ohne Gewähr. Siehe Einleitung.)

H. Krausser: Januar – Tagebuch des Januar 2001. München, belleville, 2001.

1.1. Hat Shakespeares Cäsar "metrisch präzise" neu übersetzt.

2.1. Gibt ein Beispiel für seine Cäsar-Version. "Ist es so unzeitgemäß pathetisch, an eine eigene historische Mission zu glauben? Nein, man glaubt ja nicht an eine Mission, man hat sie –" (21).

3.1. Erwägte Rettung eines Habichts.

4.1. Beim Kunstmann-Verlag, verspricht, Texte für ein Bilderbuch zu liefern: "Bin bescheuert." (29) Die letzten beiden Seiten unlesbares Geschwurbele.

5.1. Absage an M P (Politycki?) zum Autorentreffen in Elmau.

6.1. –

7.1. "Todo sobre mi madre war einer der blödesten Filme, die ich je gesehen habe" (46).

8.1. "Girgl (Georg Oswald?) schickt eine Mail, hat noch einen Fehler in der Schmerznovelle gefunden, keine Minute zu früh." (51)

9.1. Lektüre Hemingway (Green Hills). "Kafka. Der Säulenheilige der Totalversager." (58)

10.1. Besuch bei Franka Potente.

11.1. Mit Hans-Georg Rodek in der Pressevorführung Traffic. "Bernhard-Stücke sind einfach: Scheiße." (66)

12.1. Vergleich Welt – Tagesspiegel – Süddeutsche, die Welt kommt dabei gut weg.

13.1. Polemik gegen den "Talentierten" G (Grünbein?).

14.1. Anruf von Helmut Markwort vom Focus.

15.1. –

16.1. "Feier zum Hörspiel des Jahres." (85)

17.1. "ein Depp wie Zizek" (93).

18.1. "Routine ist etwas sehr gefährliches." (96)

19.1. "Im Hugendubel gesehen: Oliver Kalkofe mit Freundin." (100)

20.1. "Der Monat steht wohl unter dem Motto >>Fragwürdige Filme prüfen<<." (106)

21.1. "Schnöseltum à la Tristesse Royale" (111).

22.1. Webcams (Schachturnier): "dieses Wunder" (116).

23.1. Über eine Tacitus-Übersetzung vom "delirierenden Radikallatinisten" Karl Büchner.

24.1. Schreibt an einem "Franka-Drehbuch" (128). – Die vier Schlußinterpretationen der Schmerznovelle. (evt. mit L G vergleichbar?)

25.1. Über seinen Zeit-Artikel zum Klonen von Embryonen. – "Und der Altar des Notebooks leuchtet" (136).

26.1. Erwähnung der Homepage www.perlentaucher.de. Diplomarbeit zu Haltestelle. "Mein Leben ist ein Projekt, also ein Kunstwerk" (144).

27.1. Zitat aus Canetti-Autografen.

28.1. Superbowl im TV.

29.1. Zitate und Kommentare zu Marais Tagebüchern: "Von seiner Frau redet er nie, obwohl seine Ehe sehr glücklich gewesen sein soll." (161) Dialog: "Die Sache mit dem Zwergchamäleon" (164).

30.1. "Idee für einen Filmanfang" "Klingt nach Pulp-Fiction-Stil, durchaus, warum nicht?" (167)

31.1. "Langweiliger Monat, dieser Januar." (172)

[handschriftlich darunter:]
Es ist sehr sympathisch, d. Krausser lieber fernsieht anstatt Bücher zu wälzen. Z.: "Kann man überhaupt noch Schriftsteller sein, ohne die Simpsons zu kennen?"

 

Notizen:
Helmut Krausser: Tagebücher Januar 01—März 03

Paris, 3. Juni 2009, 15:22 | von Paco

»Bei den von dir markierten Stellen
Wusste man nie, warum sie’s war’n«

(Jens Friebe)

In einem Antiquariat im 5ème habe ich letzte Woche Helmut Kraussers Tagebuch des Oktober 1997 (belleville 1998, nummeriertes Exemplar Nr. 356) entdeckt, fand das sehr schön und habe es gleich mitgenom­men, 4,50 Euro.

Darin lagen überraschenderweise zwei doppelt ineinander gefaltete A4-Blätter, billiges Druckerpapier, auf dem jemand (ein Kritiker? ein Fan? ein Student?) ein paar Inhaltsangaben zu anderen Krausser-Tagebüchern aufgelistet hat (Arial-Schrift, ca. 12 Punkt, Schriftbild schon etwas verblichen). Es handelt sich um die Diarien vom Januar 2001, Februar 2002 und März 2003. Notizen zum Oktober 1997 selbst sind nicht dabei.

Die in den Aufzeichnungen wiedergegebenen Zitate (ruppig aus ihren Kontexten gerissen, aber wenigstens meist mit – von mir nicht überprüften – Seitenangaben versehen) wurden vielleicht alle aus einem bestimmten Blickwinkel heraus gesammelt. Auch wenn es sich also nur um eine subjektive Auswahl handelt, blitzt beim Lesen oft genug die bonmotische Kraft und Ironiefähigkeit (hehe, vgl. dann die Notiz zum 12. März 2003) des Tagebuchautors Krausser durch.

Ich fand die Listenlektüre jedenfalls sehr super, und die sofort auf­brandende Frage: »Wer bitte hat sich solche Notizen gemacht?« ließ mich nicht mehr los. Ich habe die Blätter heute alle abgeschrieben und gebe deren Inhalt hier ab morgen wieder, ohne Gewähr für deren korrekte Wiedergabe. Alles sollte aber so transkribiert werden, wie ich es auf den Blättern gefunden habe. Ich kann die Krausser-Zitate leider gerade nicht in den entsprechenden Tagebüchern selbst nachprüfen, weil ich sie nicht vor Ort habe. Mir kryptisch oder unverständlich erscheinende Stellen habe ich as is mit abgeschrieben. Ansonsten habe ich im Januar ’01 und im März ’03 zwei Passagen ausgelassen, ohne dafür jetzt hier im Einzelnen die Gründe angeben zu wollen.

Außerdem weggelassen habe ich »Kap[itel?]«-Angaben, die an einigen Stellen handschriftlich angebracht worden sind. Meist in Bezug auf Tage, in denen Krausser über Filme geschrieben zu haben scheint. Vielleicht handelt es sich bei den Aufzeichnungen also um eine Materialsammlung zum Thema »Krausser und der Film« o. ä.

Inhalt (ab morgen)

Januar (Tagebuch des Januar 2001)
Februar (Tagebuch des Februar 2002)
März (Tagebuch des März 2003)

 

Im »Spiegel« Nr. 22 (25. 5. 2009):
Kurbjuweit über Mißfelder

Paris, 30. Mai 2009, 07:18 | von Paco

Montag am Jardin du Luxembourg gewesen und endlich mal wieder den »Spiegel« gekauft (Nr. 22/2009). Es sollte eigentlich mein Roman für diese Woche werden, doch dann habe ich ihn gleich am Montag ausgelesen gehabt, im südlichen Bereich des Jardin, in der Nähe des triumphierenden Löwen von Auguste Caïn.

Ein komplettes Heft zu lesen, diese unendlich schöne Spiegel-Sprache, war wieder mal ein Moment höchster Erphyllung des Alphabetentums. Und neben der beinharten Titelstory über den Schuss des mittlerweile als Stasimensch enttarnten Polizisten auf Benno Ohnesorg gab es auf den Seiten 68 bis 75 einen weiteren absoluten Hammertext, der hier­mit automatisch für unsere 2009er Feuilleton-Top-Ten nominiert ist:

Der Schattenmann

Niemand hat so zielstrebig Karriere in der CDU
gemacht wie Philipp Mißfelder. Er ist auf dem Weg nach
ganz oben, aber dafür muss er sich ständig der
Kanzlerin anbiedern. Ein Bericht über den Zustand des
Menschen in der Politik. Von Dirk Kurbjuweit

Es ist ein exemplarischer Text über einen neuartigen homme politique. Mißfelder, der derzeitige JU-Vorsitzende, sei als Vertreter dieses Typus »die Zuspitzung, die Verdichtung des politischen Systems«.

Es geht auch um einen Zeitungsmoment, den »Tagesspiegel« vom 3. August 2003, in dem das Interview publiziert wurde, in dem Mißfelder den armen 85-Jährigen keine künstlichen Hüftgelenke auf Staatskosten mehr gönnen wollte. Und es geht um die drei Handys, mit denen der Parvenü ständig hantiert.

Kurbjuweit hat seine Langzeitstudie entlang der These geschrieben: »Die Leere des Menschen könnte bald zu einer Voraussetzung für den Erfolg in der Politik werden.« Und es gab sicher auch schon andere Texte über dieses Thema, Klagen über eine austauschbare, leiden­schaftslose Politikergeneration. Aber die Exemplarik des Kurbjuweit-Textes ist atemberaubend. Nie wieder muss jemand dieses Thema beackern, ein Link auf Kurbjuweit wird in Zukunft völlig ausreichen.

Usw.

Das Kleiderproblem

London, 28. Mai 2009, 13:56 | von Dique

»Auch zur Polizei hatte Irrsigler ja nur gehen wollen, weil ihm mit dem Beruf als Polizist das Kleiderproblem als gelöst erschien.«

Einen Uniformberuf wählen, um das Kleiderproblem zu lösen, was für ein Ansatz! Irrsigler ist eine Figur aus »Alte Meister« von Thomas Bern­hard, ein Museumswärter im Wiener KHM. Diese Art livrierter Mitarbei­ter ist überhaupt spannend (also natürlich völlig unspannend), jetzt mal ganz allgemein, diese Leute, die da den lieben langen Tag neben diesen Bildern stehen, auf Stühlen neben Türen sitzen oder langsam durch ein paar Museumsräume schleichen.

Manche wissen dann auch ganz gut über die hauseigene Sammlung Bescheid. Nach all den Jahren haben sie sich einen Wissensschatz angeeignet, immer wieder Führungen gesehen, Diskussionen haus­eigener Experten vor den Bildern vielleicht auch, vielleicht auch ein bisschen selbst etwas angelesen, sie besitzen aber normalerweise keinerlei Referenzwissen.

Mir passierte das neulich im Hampton Court. Der Wärter, der eben noch eine tolle Story über eines der Bilder erzählte – er kam ungefragt, nachdem er uns sehr lange vor einem bestimmten Bild stehen sah –, hatte überhaupt keine Peilung von ähnlichen Bildern aus der National Gallery zum Beispiel, obwohl das so offensichtlich war, besonders nachdem er derart passioniert über jenes eine Bild im Hampton Court gesprochen hatte.

Bei dem Bild handelt es sich übrigens um das Vollportrait einer jungen, wohl schwangeren Frau. Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich um Elisabeth I. handelt, welche zu dieser Zeit gerade unehelich schwanger war, und der Sohn sei kein anderer als Francis Bacon. Das Bild ist ein Schlossdachbodenfund, es schlummerte dort quasi Jahr­hunderte und es gibt dazu keinerlei Dokumentation, but that’s a different story.

Die Figur des Irrsigler ist jedenfalls ein sehr gutes Abbild dieses zu­meist im älteren Semester befindlichen uniformierten Museumsperso­nals. Tja, und wir haben in unseren Jobs oder Funktionen immer noch das Kleiderproblem, so geil, das Kleiderproblem.

Massakerminiaturen (3)

Berlin, 23. Mai 2009, 21:00 | von John Roxton

Entweder Glück oder ein verdammt guter Richtschütze. Der Einschlag aus dem Nichts riss die Hügelkuppe mit einem Kreischen auseinander und die entfesselte Gischt aus Erde machte jede Orientierung, jede bewusste Unterscheidung des Raumes unmöglich. Der Tisch, auf dem eben noch der Leutnant gelegen hatte, flog zerlegt in Einzelteile durch die Luft. Platte und Beine zeigten irgendwo oben eine artistische Figur und erstarrten. Lächerlich. Sie hatten das Möbel extra aus einem der niedergebrannten Gehöfte auf die Höhe gezerrt, um ihm eine möglichst ebene Auflage für sein Gewehr zu geben. Hatte der Leutnant über­haupt gefeuert? Er konnte sich nicht erinnern. Der Scharfschütze er­schießt den Lafettenmann. Was für ein Plan. Der zweite Treffer been­dete das Taumeln und rammte ihn mit dem Kopf voran in die Erde. Es war, als hätte Antaios selbst ihn niedergerungen und ihm seine erbar­mungslosen Finger aus Dreck in Augen, Mund und Nase gestoßen.

*

Jedes Jahr am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009) – #4 (2010)#5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013)#8 (2014)#9 (2015)#10 (2021)

Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (3/2009)

Paris, 22. Mai 2009, 09:19 | von Paco

les pâquerettes dans le pré

1. Zulu–Romeo–Romeo! Nach dem ersten und zweiten hier nun das dritte Vorwort zum lfd. Feuilletonjahr.

2. Der Umblätterer – Feuilletonismus und Maulwurfsforschung.

3. Wie jedes Jahr am 23. Mai, dem Tag der Gründung der BRD, wird es morgen eine schöne Massakerminiatur von John Roxton geben.

4. Dialog, unfreiwillig mit angehört: »Und du?« – »Ich komm aus Göttingen.« – »Göttingen kenn ich, da studiert meine Mutter.«

5. Zehn Jahre Tristesse Royale (24.-26. April 1999). »Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten.« (S. 138)

6. Er schrie mich völlig ungehalten an: »Celan war WAHNSINNIG! Das dürfen Sie NIE VERGESSEN! WAHNSINNIG!«

7. Schon jetzt die größte Gurke des gesamten Jahres, allein wegen des unfreiwillig rekursiven Titels: »User-generated Nonsense«, der Telepolis-ähm-Aufsatz von einem Oliver Bendel. Bitte unbedingt in der überragend kommentierten Version von Andrea Diener lesen.

8. »Der Themenwechsel ist eine hohe Kunst und der Schlüssel zu fast allen anderen Künsten.« (César Aira, »Humboldts Schatten«)

9. Ein heißer Kandidat für den besten schlechten TextTM des Feuilletonjahres: Wolfgang Büscher war jetzt mal im St. Oberholz in Berlin-Mitte und hat in der »ZEIT« über seine Erfahrungen berichtet. So geil. (via 6 vor 9)

10. Wer sich über unsere megalomanischen »Lost«-Recaps beschwert: Diese TV-Serie ist einfach der größte erzählerische Wurf der letzten Jahre, daran kommt man nicht vorbei, wie sogar Marcel Gauchet neulich in Libé (28. April, S. 31) schrieb, über US-Serien allgemein, aber speziell auch über »Lost«: « J’y retrouve ce qui continue de m’enchanter dans les grands romans populaires français du XIXe siècle : l’art et les pouvoirs du récit, avec un sens plus poussé, souvent, de l’épaisseur des personnages. »

11. »Saving Private Ryan: Kriegsklamotte ohne Bud Spencer.« (aus einer Inhaltsangabe)

12. »Browserschwein!« Rief neulich ein bekannter Software-Entwickler, als sein Firefox abstürzte.