Massakerminiaturen (4)

Berlin, 23. Mai 2010, 21:24 | von John Roxton

Es ließ sich später nicht mehr feststellen, wie die Granate ins Feuer geraten konnte. Der rotglühende Ofen war explodiert wie ein kaputter Dampftopf und entfaltete in dem kleinen Schankraum die Wirkung eines Kartätschenvolltreffers. Aus den aufgelesenen Körperteilen und der hastig vorgenommenen Zuordnung der gefundenen Habseligkeiten wurde die Zahl der Toten im offiziellen Bericht mit sechs angegeben. Trotz der schützenden Theke waren der Wirt und seine Tochter von der Wucht der Explosion zerrissen worden. Drei Soldaten des Jäger­bataillons konnten anhand der Uniformstücke und der verbogenen Zinnkrüge mit dem Signet ihrer Einheit identifiziert werden. Auf einen vierten Mitspieler des Würfelspiels ließ sich nur durch die Aufzeichnung der Spielstände auf einem Bierfilz schließen. Der einzige Überlebende, ein politischer Geschäftsführer des Straßenbahnkonzerns, konnte wegen eines handtellergroßen Lochs im Gesicht bis zum Rückflug der Untersuchungskommission nicht vernommen werden.

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