Die Mona Lisa des Fußballs

Konstanz, 19. Januar 2010, 11:44 | von Marcuccio

Sport vs. Feuilleton: der Ressortvergleich. Der Sportteil bolzt Synonyme, das Feuilleton kultiviert Antonomasien.

Begegnet bin ich diesem offenen onomastischen Geheimnis gerade wieder in meiner, ja, Regionalzeitung, in einer Art Eigensprachanalyse des Sportteils. Es ging darum, dass mit Schumis Comeback nun natürlich auch »der Kerpener« wiederkommt. Der ewige Kerpener. So wie der Leimener und die Brühlerin und diese ganzen Synonyme überhaupt. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis.

Paul Biedermann kommt wahrscheinlich noch nicht überall als der Hallenser durch den Synonym-Scanner. Aber Sportfans wissen auch, dass man solche Synonyme (legendär auch: der Rostocker, der Merdinger, der Scherzinger) immer solange lesen, hören, schlucken muss, bis der (Doping-)Arzt kommt.

Richtig assoziieren

Was kann der Sport außer Synonymen? Er kann Vergleiche, wenn zum Beispiel Christoph Daum sagt: »Ronaldo ist wie Mona Lisa.« Was kein so ganz schlechter Vergleich war, auch wenn man eine Mona Lisa im Gegensatz zu vielem anderen Pariser Zeug ja noch eher selten auf dem Transfermarkt gesehen hat und auch das mit dem ins Stadion »hängen« noch mal genauer zu bedenken wäre.

Aus Vergleichen, die erst erklärt werden müssen, macht das Feuilleton zum Glück meistens schon vorher eine Antonomasie: »Die Mona Lisa des Fußballs« oder so. Da fragt keiner nach und jeder hätte in etwa natürlich trotzdem richtig assoziiert, was zu assoziieren war: zu exponiert, zu teuer, in Fachkreisen viele Gegner, aber alle wollen sie trotzdem sehen usw. usf.

Wenn im Sportjournalismus Antonomasien bemüht werden, kommt meist etwas Ungelenkes heraus: »Die Tour de Ski ist die Vierschanzentournee der Langläufer.« (ZDF) Man macht auf Antonomasie, landet qua Prädikation dann aber doch wieder nur beim profanen Vergleich. Da war RTL mit der »Formel 1 des Winters« schon mal weiter. Apropos.

Höher, schneller, weiter

Muss denn erst wieder ein Peter Richter zeigen, was die Disziplin Hochsprung alles kann. Sein Dubai-Artikel in der vorletzten FAS barg nämlich nicht nur den wohl zeitgemäßesten Eintrag ins neue Guiness-Buch der Rekorde:

»Von den technischen Daten her ist der Burj Khalifa (…) das, was beim Autoquartett der Superstecher war.«

Nein, es gab auch mal wieder eine Antonomasie vom Feinsten, Bezug nehmend auf westliche, europäische Vorbehalte gegen dieses neue höchste Haus der Welt und überhaupt gegen alle Gegner der Emirate und ihre Strategie, sich da jetzt die abendländische Kultur einzukaufen (Stichwort: Louvre-Dependance in Abu Dhabi):

»Man darf davon ausgehen, dass die üblichen Ressentiments dem neuen Prunk am Golf gegenüber in etwa dem entsprechen, was einem italienischen Mönch des 18. Jahrhunderts durch den Kopf gegangen sein mag, wenn er daran dachte, wie jenseits der Alpen, in [Achtung!] den Dubais des Nordens neureiche Potentaten italienische Kunst und Kultur zusammenkauften.«

Schreibt Peter Richter, den die Sportjournalisten an dieser Stelle wohl standesgemäß den Elbflorenzer nennen müssten, hehe.

Regionalzeitung (Teil 21) — SZ-Spezial

Leipzig, 18. Januar 2010, 08:53 | von Austin

 
  101.   erläutert der Regierende Bürgermeister fachmännisch

  102.   drängeln sich etwa 900 Gäste

  103.   und verrät, dass sie gleich drei Handys bei sich trägt

  104.   verspeist gutgelaunt zwei Portionen Schnitzel mit Kartoffelsalat

  105.   zu später Stunde
 

alles gefunden in:
Süddeutsche Zeitung, 14. Januar, S. 9,
über die »Nacht der Süddeutschen Zeitung«

 

Kaffeehaus des Monats (Teil 50)

sine loco, 17. Januar 2010, 09:01 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Cantona, Leipzig, verschwommen wie immer (keine Zeit), thx to walloftime.net

Leipzig
Das Café Cantona in der Windmühlenstraße.

(Jubiläumswoche beim Umblätterer. 5 Jahre Goldener Maulwurf und
nun noch das 50. Kaffeehaus des Monats. Im Cantona wurde vor
einigen Jahren das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque gegründet.
Und zwar unmittelbar im Anschluss an ein Gespräch über die einzige
lustige Stelle in der »Pietisterey im Fischbein-Rocke«, dem bekanntes-
ten Werk der Gottschedin. – Ansonsten empfehlen wir, den im Cantona
erfundenen Drink HEIDEGGER zu nehmen, »an awesome yet some-
what taxing double shot drink that combines VODKA and KORN«.)
 

»Dabei gibt es auch ostdeutsche F.A.Z.-Leser!«

Konstanz, 15. Januar 2010, 16:08 | von Marcuccio

Neue Eskalationen an der Leserbrieffront. Nachdem schon länger kein Relaunch mehr stattfand, sorgt jetzt die Edition der Feldbriefe selbst für Zündstoff.

F-Zeitung vom 14. Januar 2010, S. 17: Ein Leser aus »Friedrichsdorf (Hessen)« beschwert sich in studienrätlicher Ironie über die »dezente Unterweisung in deutscher Geographie«:

»Wie hilfreich sind doch die Hinweise in Artikeln oder unter Leserbriefen, die da lauten: ›im thüringischen Erfurt‹, ›Magdeburg (Sachsen-Anhalt)‹ oder ›Dresden/Sachsen‹. Wer im Westen wüsste sonst, wo diese Provinz-Hauptstädte liegen? Nur seltsam, man liest nie: ›im bayerischen München‹ oder von ›Stuttgart (Baden-Württemberg)‹. Dabei gibt es doch auch ostdeutsche F.A.Z.-Leser! Sind die am Ende gar die klügeren Köpfe?«

(Tipp übrigens für alle Einsender, die unbedingt veröffentlicht werden wollen: Anspielungen auf den FAZ-Slogan machen einen Abdruck so gut wie sicher. Überschrift dieses Leserbriefs war: »Die klügeren Köpfe.«)

Und als wollte die Leserbriefregie noch eins draufsetzen, platziert sie untendran dann wirklich noch eine Zuschrift aus Chemnitz, ganz ohne Zusatz »Sachsen«. Der Brief selbst sozusagen die Live-Antwort auf so viel geografische Ranschmeißerei. Gleichzeitig ein wunderschönes Lautgedicht, rauschendes Wasser auf Maxim Billers Mühle (»Ossifizierung der Leserbriefspalten«):

»was wir (…) nicht wollten, das waren die westdeutschen Kolonialherren, die dritt- und viertklassigen Hanswurste, die meinten, uns das Essen mit Messer und Gabel beibringen zu müssen. Nein, einem solchen Deutschland wollten wir gewiss nicht angehören!«

Szene-Aussteiger bestätigen immer wieder, dass es vor allem diese Geheimpoesie ist, die die Loge der Leserbriefschreiber und die Fanloge der Leserbriefleser so stark gemacht hat.

Im Schlitten Gustav Mahlers

Chemnitz, 14. Januar 2010, 19:50 | von Austin

KüchwaldAus gegebenem Anlass Winterspaziergang im Küchwald, in der einsetzenden Dunkelheit, und einen Tag später im sonnigen Schnee.

Auf dem iPod: Gustav Mahlers 10. Sinfonie. In der Aufnahme mit dem RSO Berlin und Riccardo Chailly. 20 Jahre alt. Ein schöner Vergleich zum sensationellen Konzert letzten September zu Saisonbeginn mit dem Gewandhausorchester – unser Konzert des Jahres 2009 (gemeinsam mit Mahlers 1. Sinfonie fünf Wochen später).

Man glaubt dann, mit dem Beginn des 1. Satzes im Ohr, man könnte jetzt immer weiter hineingehen in den Wald, zauberbergmäßig, bis dann nur noch Schnee ist.

Dann denkt man, diese Musik könnte aber auch ein prima Soundtrack sein zu einem Film von Tim Burton, vielleicht war es das ja auch schon.

Und dann fällt auf, dass das Leipziger Konzert entschieden härter dirigiert war, schärfer. Elementarer. Der Wahnsinns-Trommelknall auf dem Übergang vom 4. Satz zum Finale, dieser großartige Moment des Übergangs, der schon auch ein Ende ist, war im Gewandhaus ein Schlag aus dem Nichts, herzschlagaussetzend; vor 20 Jahren ist es noch auch Schönklang, abgefedert.

Am nächsten Tag, im Sonnenschein, ein leicht anderer Charakter. Alles beschwingter, liegt wohl am Wetter. Der Weg führt an einer Wildfutterstelle vorbei und an einer Bank steil über einem gefrorenen Bächlein, und Walter Kappachers »Fliegenpalast« fällt einem da wieder ein, ein seltsames Buch, trotz Büchner-Preis. Ein Sommerbuch, das doch viel mehr ein Winterbuch ist. Glaube im Nachhinein auch immer, das Buch habe von Richard Strauss erzählt und nicht von Hofmannsthal. Muss mich da immer mühsam dran erinnern und korrigieren.

Trotzdem denke ich, jetzt fahren gleich Strauss und Hofmannsthal in einem offenen Schlitten mit lauter klingelnden Glöckchen vorbei, freundlich winkend seltsamerweise, ganz anders als bei Kappacher. Aber da ist natürlich nur der blinkende Schnee in der Sonne.

Dann ist Chailly bei diesem unglaublichen Finale angekommen. Doch Musik vom Tode. Wenn die Flöte einsetzt, 2:13ff – der Wahnsinn, diese Passage.

Andere Top-Stellen, als Softskills für den Smalltalk zum Neujahrs-Stehempfang: Die Streicherlinien zum Beginn des 1. Satzes, insbes. 2:26ff. Der Schluss des 4. Satzes mit einem super Paukensatz ab 10:41. Das gesamte lange Verglimmen des Finales, ab 19:38.

Dann ist die Sinfonie durch, es ist Stille, und ich gehe ins »Kellerhaus«, diese leckere Pilzrahmsuppe bestellen, wie zuletzt mit Marcuccio und Paco, als sich die Beiden unmittelbar vor dem Dessert heftigst über diesen Wolfgang-Büscher-Artikel zerstritten.

Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2009

Leipzig, 12. Januar 2010, 06:35 | von Paco

Endlich kommt er wieder ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf, zum nunmehr *fünften* Mal:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2009:

1. Maxim Biller (FAS)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henryk M. Broder (Tagesspiegel/Spiegel)
4. Wolfgang Büscher (Zeit)
5. Hans Ulrich Gumbrecht (Literaturen)
6. Nora Reinhardt (Spiegel)
7. Tom Kummer (Freitag)
8. Birk Meinhardt (SZ)
9. Felicitas von Lovenberg (FAZ)
10. Dietmar Dath (FAS)

Der 2009er war wieder ein hervorragender Jahrgang des deutsch­sprachigen Feuilletons. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007 und 2008 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Auch in diesem Jahr hat sich das Consortium bei der Auswahl und beim Ranking auf ein paar Wochen hin verfeindet, hehe. Auf unserer Longlist standen noch andere unbedingt lesenswerte Feuilletontexte, etwa die ganz hervorragende Robert-Enke-Berichterstattung von Ralf Wiegand in der SZ, Alexander Smoltczyks »Ciao bella«-Artikel im »Spiegel«, Niklas Maaks Text über das Ende der deutschen »Vanity Fair« (FAS, 22. 2. 2009, S. 29), das Broder-Biller-Doppelinterview im SZ-Magazin oder Jochen-Martin Gutschs »Spiegel«-Artikel über Boris Becker.

Und dass die Schweiz 2009 so sehr mit sich selbst beschäftigt war (bröselndes Bankgeheimnis, Libyen-Affäre, Minarette), hat irgendwie auch das NZZ-Niveau gedrückt. Entdeckt haben wir aber Samuel Herzog, der zwar stets wenig Raum bekommt für seine Kunstbericht­erstattungsartikel in der NZZ, den aber ganz hervorragend ausfüllt.

Usw.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

Fünf Jahre Feuilleton-Meisterschaft:
Das beste Feuilleton aller Zeiten

Leipzig, 7. Januar 2010, 02:25 | von Paco

Am 12. Januar 2010 kürt Der Umblätterer zum fünften Mal die zehn besten Texte aus dem Feuilleton des vergangenen Jahres. Als Steilvorlage dafür hier ein kleiner Essay über den täglichen Zeitungskauf, über »Brechertexte« und die weltweit hervorragendste Publikationsbastion.

»Einmal alle Zeitungen, bitte.« Die FAZ, die SZ, die taz immer zuerst, später die NZZ, die FR und auch die »Welt«, montags den »Spiegel«, donnerstags die »Zeit«, freitags den »Freitag«, sonntags die FAS. In dieser sowieso unvollständigen Aufzählung fehlen auch nicht-deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften, die französischen, italienischen und spanischen Blätter mit ihren Sparfeuilletons, die »New York Times«, der »Guardian«, der »Spectator« usw. Es passiert einfach selten, dass wir darin etwas so Geschärftes, Getriebenes, Wahnwitziges wie in den deutschsprachigen Kulturressorts finden.

Dort gibt es ihn noch, diesen schwer zu beschreibenden Willen zum unbedingten Feuilletonismus. Hier wird für die drei Leser geschrieben, die auch noch die hinterletzte Anspielung verstehen und dann auch noch wohlfeil oder richtig schlimm finden.

Wenn man genau liest, stehen jeden Tag unfassbare Dinge im deutschen Feuilleton. Und seit dem Zeitungsjahr 2005 küren wir jährlich die zehn angeblich™ besten Texte aus der Kulturbericht­erstattungsszene. Ursprünglich erschien die Bestenliste im Online-Feuilleton satt.org, aus dem dann ein Feuilleton-Thinktank ausgegliedert wurde, das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque. Dessen Hauptinteresse: die Zeitungen von gestern, vorgestern und vorvorgestern.

Der »Goldene Maulwurf«

The Golden MoleHier im Umblätterer schreiben wir – nicht hauptsäch­lich, nur nebenbei – über die Kandidaten für die Feuilleton-Top-10. Anfang Januar, nach der Durchsicht aller Silvesterausgaben letzter Hand, wird der Inhalt unseres jährlichen Feuilleton-Readers ein paar Tage lang intern diskutiert und danach veröffentlicht, am 12. Januar 2010 zum fünften Mal.

Dem besten Text des Feuilleton-Jahrgangs verleihen wir dann den »Goldenen Maulwurf«, auch wenn wir immer behaupten, dass die Top-10 nicht gerankt, sondern nur durchnummeriert ist. Dazu gibt es zehn Mini-Laudationes, zu denen im letzten Jahr unser Leser »heiner« bemerkte:

»Von mehreren Artikeln wird ausdrücklich und ohne entschlüsselbare Ironie behauptet, sie seien schlecht. Trotzdem stehen sie auf einer Bestenliste. Was soll das.«

Genau das ist es: Nur beim Lesen des Feuilletons regt man sich über seine Hassautoren auf, über den von der FAZ, die von der SZ und den vom »Spiegel«, und liest sie dann trotzdem jedes Mal wieder mit unbändiger Neugier. (Nebenbei: Nicht ohne Grund haben die Absoluten Beginner dem deutschen Feuilleton ihren Song »Fäule« gewidmet, hehe.) Das Feuilleton ist die schönste Intellektuellen-Soap, und man hat es nur wirklich verstanden, wenn der Name des Journalisten unter dem Text mindestens genauso wichtig ist wie das, was er oder sie geschrieben hat.

Luxus auf Zeitungspapier

Der »Goldene Maulwurf«, unsere Wühltiertrophäe, ist – sicher zum Vorteil aller Beteiligten – eine rein virtuelle. Und sie handelt nicht von rein journalistischen Glanzleistungen, von gewagten Reportagen oder Textergüssen aus Krisengebieten – dafür gibt es schon genügend Auszeichnungen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Kulturjournalismus und einem darin stattfindenden stilistischen und epistemologischen Überhang, um die Feuilletontradition, für die immer die Goldenen Zwanziger herhalten müssen, Tucholsky und eine Handvoll anderer Flaneure und Theaterkritiker. Dabei ist das gegenwärtige Feuilleton, dieser Luxus auf immer noch vorwiegend Zeitungspapier, das beste Feuilleton aller Zeiten, immer noch und immer wieder.

Jeder Journalist muss täglich neu ein Problem lösen: einen Text abliefern und dabei so gut wie möglich aussehen. Dabei ist im Feuilleton wie in keinem anderen Ressort auch Platz für Neuansätze und Experimente, die, wenn sie gelungen sind, laut und nachhaltig in den Lesealltag hineinbrechen. Das passiert vielleicht nur einmal im Monat. Aber wenn es passiert, wenn es zwischen dutzenden anderen Texten, nach wochenlanger Durchsicht von lediglich Rezensionsfried­höfen und Jubiläumsartikeln, wenn man dann diesen einen Brechertext liest, feiert und wiederliest, dauernd andere damit nervt und dauernd von anderen damit genervt wird, wenn dieser Zeitungs- oder Zeitschriftentext, gedruckt irgendwo hinten links zwischen fünf anderen Artikeln, monatelang im Gedächtnis bleibt, dann heißt das was.

Die Preisträger 2005–2008

2005 war das ein Verriss des Kritikers Stephan Maus. Sein Gegenstand war ein unbedeutendes Buch von Augusten Burroughs. Der in der SZ veröffentlichte Verriss begann mit den Worten: »Hi, ich bin Stephan. Ich bin Kritiker.«

2006 war das ein Text des polnischen Journalisten Mariusz Szczygieł, den die Wiener »Presse« nachgedruckt hatte, ein Text, den sich in seiner Unheimlichkeit sonst nur Jorge Luis Borges hätte ausdenken können: die Beschreibung des Tagebuchs einer Krakauer Hausfrau, die über 57 Jahre hinweg emotionslos all ihre Tätigkeiten verzeichnet hat.

2007 ist Renate Meinhof für die »Seite Drei« der SZ eine hinreißende Reportage über einen 90-jährigen Wagnerianer gelungen, die sich einmal nicht mit der Erbfolgepolitik oder einer Premierenkritik beschäftigte, sondern mit dem letzten verbliebenen Rest von echtem Publikum.

Und 2008 hat Iris Radisch mit ihrer ungerechten, aber unübertroffen emphatischen Rezension von Jonathan Littells »Wohlgesinnten« den Text des Jahres verfasst. Ekkehard Knörer nannte ihn »den dämlich­sten Text des Jahres«, womit er zweifelsohne auch ein wenig Recht hat, und Alban Nikolai Herbst bemerkte: »Wenn Iris Radisch ein Buch mit Schaum vorm Mund verreißt, dann ist das immer ein unabweisbares Zeichen dafür, daß man es lesen muß.« Welcome to the German Feuilleton, der weltweit hervorragendsten Publikationsbastion! Noch neulich traf ich Karl-Heinz Ott in irgendeinem süddeutschen ICE, und nach ein paar anderen Themen kamen wir, en détail, auf diesen einen Artikel der »rasenden Radisch« zu sprechen, wie sie der erboste Klaus Theweleit genannt hat.

Das Feuilletonjahr 2009

Auch 2009 hatte das Feuilleton wieder einige sagenhafte Ideen. Die FAS druckte eine ganze Seite Frühneuhochdeutsch von Grimmels­hausen ab. Das SZ-Magazin hatte endlich mal die Eingebung, Maxim Biller und Henryk M. Broder gemeinsam zu interviewen. Und in irgendeiner FAZ vom Juni fand sich irgendwo mittendrin die rhetorische Frage des Jahres: »Was wäre eigentlich, wenn das Computerspiel eine sowohl ästhetische als auch soziale Zäsur markiert, die dem Einbruch der Zentralperspektive und damit einer neuen Zeit vergleichbar ist?« (Martin Burckhardt)

Über das Jahr haben wir ständig Texte auf die Longlist gesetzt, – ach ja, danke für die vielen Hinweise per Mail (besonders die Peter-Richter-Gutfinder sind da sehr aktiv, hehe) – und davon sind dreißig Artikel übrig geblieben. Von zehn Texten werden wir bald behaupten, dass sie die besten des Jahres sind. Sie stehen dann vielleicht auch wieder mehr oder weniger plausibel für das Feuilletonjahr 2009, so wie unsere Listen für die Jahre davor.

Der »Goldene Maulwurf« könnte dem Namen nach auch ein Vereins­preis ambivalenter Schädlingsbekämpfer sein. Nächsten Dienstag, am 12. Januar, kommt er jedenfalls, nach einem Jahr besessenen Wühlens in einem Berg alter Zeitungen, wieder ans Licht.

Marcel Reich-Ranicki: Frühwerk vs. Spätwerk

St. Moritz, 3. Januar 2010, 09:57 | von Marcuccio

Was für ein Après-Ski-Scherz! Wir natürlich weiter am Tagen, aber irgendein Fan (war es der Wirt der Alpina-Hütte selbst?) hat uns ein Kartenspiel gebastelt, und zwar aus lauter Calanda-Bierdeckeln, doppelseitig mit FAS-Artikeln beklebt: Auf der einen Seite jeweils das Logo der bekannten Randspalten-Rubrik »Fragen Sie Reich-Ranicki« (roter Schriftzug plus MRR-Briefmarkenfoto in s/w). Auf der anderen Seite jeweils die Leser-Frage und die Reich-Ranicki-Antwort.

Offenbar ein Memory, denn nach kurzer Durchsicht zeigt sich, dass das Kartenspiel aus lauter gleichen Fragen besteht: also Fragen, auf die MRR mindestens doppelt reagiert hat.

Vorläufiger Hüttenliebling ist Björn Schroth aus Ffm mit einer Frage, die MRR zweimal ganz unterschiedlich beantwortet hat, einmal auffällig willig (der Enthusiasmus des Frühwerks!), einmal typisch ungnädig (die Null-Bock-Phase des Spätwerks).

Hier die Antwort auf die Frage von 2005 (FAS vom 7.8.2005, auch online):

Welchen zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturkritiker lesen Sie mit Gewinn?
Björn Schroth, Frankfurt/Main

Thomas Anz (Universität Marburg), Ulrich Greiner (»Die Zeit«), Volker Hage (»Der Spiegel«), Jochen Hieber (F.A.Z.), Frank Schirrmacher (F.A.Z.), Renate Schostack (F.A.Z.), Ulrich Weinzierl (»Die Welt«), Uwe Wittstock (»Die Welt«). Übrigens: Alle diese Kritiker kommen aus der von mir zwischen 1973 bis 1988 geleiteten Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen. In aller Bescheidenheit: Meine pädagogischen Bemühungen waren nicht vergeblich. Überdies schätze ich ganz besonders: Joachim Kaiser (»Süddeutsche Zeitung«), Gerd Ueding (Universität Tübingen) und vor allem Peter von Matt. Reicht das?

Und hier die Antwort auf die (fast) gleiche Frage aus der FAS vom 20.12.2009:

Welche zeitgenössischen deutschen Kritiker lesen Sie mit Gewinn?
(Björn Schroth, Frankfurt)

Da könnte ich sechs oder acht Namen nennen, aber wozu sollte ich es tun? Einige würden das freundliche Urteil zufrieden zur Kenntnis nehmen, andere hingegen – bestimmt wäre es die Mehrheit – blieben natürlich verärgert. Wozu soll man sich damit beschäftigen? Es wäre mit Sicherheit besser und nützlicher, auf diese Fragen zu verzichten.

Das Consortium tagt …

St. Moritz, 2. Januar 2010, 08:42 | von Paco

… da, wo es schön ist (Kommando Malojaschlange):

St. Moritz, Zarathustra auf Skiern

Im Hintergrund: Zarathustra auf Skiern. Und von oben scheint der Große Mittag ins Bild hinein. Die Ergebnisse der täglichen Après-Ski-Tagungen erscheinen dann hier ordnungsgemäß am 12. Januar.

Feuilletonistische Grüße,

Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–

Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (6/2009)

Paris, 30. Dezember 2009, 09:12 | von Paco

Ein schönes Bild

1. Der Umblätterer – 5 Jahre Feuilleton-Exzellenz-Initiative. Bald:

2. Am 12. Januar erscheint hier die fünfte Ausgabe unserer jährlichen Feuilleton-Top-Ten. DER GOLDENE MAULWURF wird also wieder verliehen. Letztes Jahr ging er an Iris Radisch für ihren herausragen­den Littell-Verriss. In diesem Jahr haben es bis jetzt 30 Feuilletontexte in die Longlist geschafft (noch sind eineinhalb Tage Zeit, hehe). Die endgültige Auswahl erfolgt dann nach der Lektüre der Silvester­ausgaben. Die Beratungen werden bis zum Schluss andauern, harte Kämpfe innerhalb des Consortiums zeichnen sich schon jetzt ab.

3. »UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat sich für den Weltfrieden ausgesprochen.« (Meldung auf Deutschlandfunk, Anfang/Mitte 90er)

4. Der in Vorwort 4/2009 unter Nr. 9 erwähnte Aufsatz über die Kommentatoren in Alban Nikolai Herbsts Dschungel-Weblog ist fast fertig. ANHs Position wird darin mit einem Wort Zarathustras herausgestrichen werden: »Ich bin nicht auf der Hut vor Betrügern, ich muss ohne Vorsicht sein: so will es mein Loos.« – Der Satz fällt im Vierten Teil des Nietzschebuches, im Gespräch mit dem Zauberer (einem Prä-Internet-Troll), der den Wanderer mit seinem Kohlenbecken-Gedicht zum Narren halten will.

5. »Sie habe nicht alles von Christian Kracht gelesen, aber ›1979‹ habe ihr auch gefallen, sagt Judith Hermann.« – http://bit.ly/5vFvUZ

6. Angesprochen auf Schillers Gedichtfragment »Deutsche Größe« sprach Minister zu Guttenberg von einem »gedichtähnlichen Zustand«.

7. Die 7. Staffel von »Curb Your Enthusiasm« hat neulich spektakelartig geendet, versehen mit mehreren Momenten TV-Geschichte. (Unser Episodenführer.)

8. Nächstes Jahr noch die letzte Staffel »Lost«, und das war es dann erst mal mit den US-Serien. In »Desperate Housewives« geht es ja mittlerweile auch nur noch darum, dass irgendwelche Leute sinnlos in der Vorstadt herumwohnen.

9. Weiter im TEXT.

 
Weitere Vorworte des Herausgebers zum aktuellen Jahrgang

 
I (29. 1.)  —  II (20. 4.)  —  III (22. 5.)  —  IV (29. 9.)  —  V (29. 11.)