Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (2/2011)

Rorschach, 15. Juni 2011, 12:17 | von Paco

Wolken.Heim

1. Der Umblätterer @ Deutschlandfunk, vorletzten Sonntag: Inter­view mit Burkhard Müller-Ullrich (auch via Flash und als MP3; die ganze Sendung ist hier). Thematischer Dreischritt: Chinaersatzverkehr, Medienaffirmation, Abenteuer Zeitungskauf.

2. »Manchmal gehört zu einem guten Feuilletonisten auch ein Stück Verantwortungslosigkeit.« (Thomas Steinfeld zu Alexander Kluge)

3. Die Serie zum 100-Seiten-Kanon ist angelaufen. Am Ende soll ein Kanon mit 100 Büchern à 100 Seiten stehen: a.) Einführung ins Projekt. b.) Übersicht über momentan 305 berühmte Hundertseiter (vielen Dank besonders an Thomas Reschke). c.) Interview mit einem 100-Seiten-Fanatiker.

4. Aha, das ganze Appenzell steht voller Trampoline.

5. »Wie, ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?« (Maria Gazzetti in der FAZ)

6. Der Tyndall-Effekt und die deutsche Romantik.

7. Und in diesem Zusammenhang: »MASSAKERMINIATUREN, Teil 5« (= 2011 Edition).

8. Fragile Falafel. 99 Lautgedichte von Günter Grass. Demnächst.

9. »Bis ihn ein fragwürdiger Auftrag selbst zum Gejagten macht.«

 
Was bisher geschah:
 
Vorwort Nr. 1/2011

 

Der tausendste Buchladen

Hamburg, 9. Juni 2011, 19:46 | von Dique

Und hier nun der Schlussstein unserer Richard-Deiss-Berichterstattung. Schon im Umfeld unseres Interviews zu den 100-Seiten-Büchern hatte er be­kanntgegeben, dass er demnächst offiziell seinen 1000. Buchladen besuchen werde, und zwar »25books« in Berlin. Doch viele Hindernisse wurden dem Humboldt unter den Buchladenforschern in den Weg gelegt. Nach vollbrachter Tat bekamen wir diese Mail, in der die abenteuerlichen Ereignisse spannend wiedergegeben werden:

Datum: 24. Mai 2011
Von: Richard Deiss

Endlich habe ich es geschafft, der 1000. Buchladen ist besucht, und ab jetzt werde ich mir nur noch ausgewählte Läden vornehmen und jedenfalls keinen Buchladenmarathon mehr veranstalten. Der letzte war denn auch noch ziemlich aufreibend:

Am Abend hatte ich den Flug zur Dienstreise nach Berlin verpasst und musste eine frühe Morgenmaschine nehmen. Im Flugzeug schlief ich ein und kam nicht mehr zu meinem Plan, der Stewardess eines dieser Handzählgeräte, mit welchem das Bordpersonal die Passagiere durch­zählt, abzuschwatzen und zu einem Buchladometer umzuwidmen, mit dem ich dann den Besuch des 1000. Ladens feststellen wollte.

In Berlin verlor ich dann nach der Sitzung wertvolle Zeit mit der Suche eines Handzählgerätes, kein Laden hatte sowas vorrätig. Schon lange hatte ich eines im Internet bestellen wollen, dass ich das nicht getan hatte, rächte sich jetzt.

Endlich wurde ich bei Conrad Electronic fündig, der hatte zwei Hand­zählgeräte, aber das, welches ich dann kaufte, sollte mir viel Ärger bereiten, denn immer wieder kam man unabsichtlich auf den hervor­stehenden Nullstellungsknopf, und immer wieder musste ich fast tausendmal klicken, um den richtigen Zählerstand zu generieren. Wenn man zu schnell klickte, verkanteten sich die Zahlen zwischen 1000 und 1001 und man musste wieder von vorn beginnen. Insgesamt sollte ich dann im Laufe meiner Tour fast zehnmal die fast tausend Buchläden durchgedrückt haben.

Es war bereits nach 18 Uhr, als es bei einem Zählerstand von 980 mit der Besichtigung der letzten 20 Läden losgehen konnte. Doch den Laden »Motto« in der Skalitzer Straße fand ich nicht. In der Oranien­straße konnte ich dann wenigstens noch drei Buchläden besuchen. Eigentlich wollte ich in Berlin zehn Buchläden sehen, doch bei meiner Abreise nach Dresden war der Stand erst bei 985.

Von Dresden ging es den nächsten Morgen nach Freiberg, wo ich vier Buchläden besuchte, leider hatte der fünfte ausnahmsweise bereits um 12 Uhr geschlossen, so dass ich immer noch nicht einmal bei 990 lag. In Dresden besichtigte ich dann vier weitere Läden, doch bei einem Zählerstand von 993 machten in der Neustadt schon die meisten Buchläden dicht. Ich beschloss, nach Prag zu reisen, denn dort haben manche Buchläden auch am Sonntag auf.

Nachdem ich dort ein Hotel reserviert hatte, kam ich auf dem Weg zum Bahnhof doch noch an einigen Buchläden vorbei, darunter Walther König im Residenzschloss, und die Zahl war auf 998 gestiegen, fast war die Pragreise überflüssig geworden. In Prag angekommen hatte der Globe Bookstore noch um 23 Uhr geöffnet, und beruhigenderweise war die Zahl von 999 Buchläden erreicht. Doch am nächsten Morgen waren alle Läden auf meiner Liste entweder sonntags geschlossen, hatten noch nicht auf oder existierten gar nicht mehr.

Ich beschloss, frühzeitig wieder nach Berlin zurückzureisen. Dort waren aber zwei Läden, die ich noch sehen wollte, sonntags ebenfalls nicht geöffnet, und meine letzte Hoffnung war »Berlin Story«, der Berlin­buchladen, der wegen Insolvenz von Unter den Linden in eine Parallelstraße gezogen war. Durch diesen Umzug konnte ich ihn als weiteren Buchladen rechnen, und er hat sonntags bis 19 Uhr auf.

Kurz vor sieben kam ich in der Mittelstraße an, doch ein Schild zeigte zu meinem Schrecken, dass der Buchladen an seinen Ursprungsort Unter den Linden zurückgezogen war, ich konnte ihn also nicht als neuen Buchladen ansehen. Wo sollte ich jetzt den 1000. Buchladen herneh­men? Ich beschloss, doch noch zu »25books«, der eigentlich am Sonntag zu hat, zu fahren und die Besichtigung von außen als halben besuchten Buchladen zu zählen und den veränderten »Berlin Story« als weiteren halben.

Überraschenderweise war bei »25books« die Tür auf und ich konnte hineingehen. Ich erzählte dem Inhaber von meinem Anliegen, und er war sogar bereit, mir das Wort ›Buchladometer‹ auszudrucken, damit ich es auf mein Handzählgerät aufkleben und eine entsprechende Aufnahme machen konnte. Leider war sein Pritt-Stift ausgetrocknet und der Text musste mit Spucke befestigt werden und wurde leicht wellig.

Schon wieder war der Buchladometer durch den Rückstellungsknopf auf Null, und ich musste wieder 1000 Mal drücken, bevor ich das Foto machen konnte. Ich kaufte dem Inhaber das Buch »802 Photobooks« ab, und er zeigte mir Poster, die den Inhalt verschiedener Kurzbücher (»Das kommunistische Manifest«, Homers »Ilias« etc.) in winziger Schrift auf einem einzigen Blatt abgedruckt hatten, was ja irgendwie zu eurem Projekt mit den 100-Seiten-Büchern passt. So hatte alles noch ein passendes Happy End genommen mit »25books« als 1000. Buchladen, ich konnte die Phase der Buchladenmarathons endlich abschließen und die Blasen an meinen Füßen auskurieren.

Beste Grüße,
Richard
 

100-Seiten-Bücher – Teil 4
Theodor Fontane: »Grete Minde« (1880)

Hamburg, 7. Juni 2011, 00:35 | von Dique

Ich hatte noch knappe zwei Stunden, und da wollte ich einfach mal endlich »Grete Minde« lesen, 100 Seiten, dafür dürfte die Zeit ja reichen. Ich war mitten im Sog der Geschichte, die sich einem ruhig auslaufenden Ende zu nähern schien. Fünf Seiten vor Schluss musste ich allerdings zur U-Bahn, wo ich dann auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier noch schnell den Rest lesen wollte.

Dazu kam es aber nicht, denn ich traf eine Bekannte und musste mit ihr Neuigkeiten austauschen. Ich hatte das Buch in der Hand, sie fragte: »Und? Gut?« Ich brachte kurz die Story: Der Tod von Gretes Mutter und dann des Vaters, dann die böse Schwägerin, die ihr die Lebensfreude gänzlich nehmen will. Noch sehr jung an Jahren, lässt Grete zusammen mit dem Nachbarsburschen das unschöne Leben bei ihrer Familie hinter sich und schließt sich fahrendem Volk an. Sie wird Mutter, kehrt irgendwann nach Tangermünde zurück und fordert ihren Teil vom Erbe. Das Ende musste ich in meiner Schilderung leider weglassen, ich kannte es ja noch nicht, wollte es aber bei Gelegenheit nachliefern.

Als ich bei der Feier ankam, hatte ich das Buch noch in der Hand, gleich nickte mir der Gastgeber zu, »zeig mal, ach, ›Grete Minde‹, was für ein wahnsinniges Ende, oder?« Ich erzählte das mit den fünf noch fehlenden Seiten. »Mach dich auf was gefasst!«, hieß es da.

Ich konnte mir das überhaupt nicht erklären, die Geschichte schien mir erzählt zu sein, ich rechnete nicht mehr mit einem großen Drama, was sollte da noch passieren? Ich las den Rest auf der U-Bahn-Fahrt nach Hause und rief dann bestürzt sofort meine Bekannte an.

»Grete Minde« ist angeblich eines der schlechteren Bücher von Fontane, aber das stimmt nicht. »Grete Minde« ist ein 100-Seiten-Meilenstein.

Länge des Buches: ca. 192.000 Zeichen. – Ausgaben:

Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik. Mit einem Nachwort von Peter Demetz. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1989. S. 7–138 (= 132 Textseiten).

Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik. Hrsg. von Frederick Betz. Stuttgart: Reclam 2006. S. 3–108 (= 106 Textsei­ten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Listen-Archäologie (Teil 9):
Ernst Jünger in Leipzig

Leipzig, 2. Juni 2011, 00:10 | von Paco

Von 1923 bis 1927 wohnte Ernst Jünger in Leipzig. Er studierte damals Zoologie und sonderte ansonsten politische Pamphlete fragwürdigster Art ab. Am Ende der Leipziger Zeit steht aber auch die literarisch-surrealistische Initialzündung »Das abenteuerliche Herz«, die in ihrer ersten Fassung dann 1929 erschienen ist.

Hier nun jedenfalls mal chronologisch geordnet die fünf sechs gesicher­ten Adressen aus Jüngers Leipziger Jahren, kleine Vorarbeit zu einem größeren Projekt:

1. Gutenbergstraße 3 (heute: Seemannstraße)
2. Sternwartenstraße 77
3. Talstraße 25
4. Sidonienstraße 54 (heute: Paul-Gruner-Straße)
5. Sebastian-Bach-Straße 18
6. Scharnhorststraße 17

Zur Lage der Wohnungen im Stadtgebiet siehe Google Maps bzw. diese kmz-Datei für Google Earth. Die ersten drei Adressen liegen in unmittelbarer Nähe des Instituts für Zoologie. Über die Sternwarten­straße gibt es zum Beispiel eine Anekdote in den »Annäherungen« (1970).

Außerdem ist dieser einschlägige und sehr gute Artikel zum Thema zu empfehlen:

Norbert Dietka: »Ich konnte im Kittel zum Laboratorium gehen«. Ernst Jünger in Leipzig. In: Leipziger Blätter 40 (2002), S. 47–49.

 

Regionalzeitung (Teil 46)

Leipzig, 29. Mai 2011, 19:05 | von Paco

 
  226.   der geneigte Leser

  227.   haben amerikanische Forscher herausgefunden

  228.   liegt ihr von Geburt an im Blut

  229.   gewohnt bissig

  230.   lernten sich kennen und lieben
 

Friedwart Pfaiffenberger (1787):
»Gottgetreu, oder die verhinderte Unthat«

Bochum, 25. Mai 2011, 22:45 | von Paco

»Attention, water pumps!« (U 96, Das Boot)

Steinlaus? Nie wieder. Ich kenne aber noch mindestens drei bisher unentdeckte U-Boote in der letzten Brockhaus-Enzyklopädie (21. Auflage), eins davon ist sogar auch lustig. Im schönen »Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts«, 2001 bei C. H. Beck erschienen, bin ich jetzt auf noch eins gestoßen, nicht schlecht.

In der Wikipedia zum Beispiel geht das ja nicht mehr, Humor funktioniert nicht, wenn er in den Relevanzkriterien nicht vorgesehen ist. Manchmal überlebt so etwas dann eine Weile, am längsten bis jetzt sicher ANHs Artikel über Carl Johannes Verbeen. Aber auch da kam dann nach Jahren noch jemand und hat ihn in den Orkus geschossen (jetzt ist er hier).

Nun also zum »Dramenlexikon«. Da steht irgendwo zwischen Goethe, Gottsched, Lessing, Schiller auf Seite 236 ein Mensch namens:

(Friedwart) Konrad Kasimir Pfaiffenberger (1733–1805)

Ein fränkischer Internatslehrer, und geschrieben hat er eine dreiaktige Prosakomödie, die den Titel trägt: »Gottgetreu, oder die verhinderte Unthat«. Erschienen 1787, Datum der Uraufführung nicht bekannt.

Inhalt: »Das Fürstenpaar Albrecht und Adelheid regiert über Weitzenburg, wo die Ausstellung neu entdeckter Reliquien erwartet wird.« Diese wollen von fünf »unaufgeklärten Räubarabiern« entwendet werden, und nur einer stellt sich ihnen entgegen: der »verwahrloste Gottgetreu«! Es geht alles gut aus. Zur Belohnung erhält Gottgetreu »die Hand der Nichte«.

Künstlerisch gelungen ist die Komödie wohl nicht so richtig, trotz allem: »Didaktische Momente wie die auffallende Lichtmetaphorik stehen unmotiviert neben märchenhaft-exotischen, oft burlesken Elementen, wie zum Beispiel dem Bericht über eine Drachenjagd.« (@Foxi: Ist doch was für deine Drachenforschungen?)

Ich hab all das jedenfalls erst mal so hingenommen, aber das ging natürlich nicht. Name gegoogelt: kein Treffer (außer eben dem einen bei Google Books). Und das darf nicht so bleiben. Mit diesem Eintrag hier sind es jetzt schon zwei direkte Treffer. Freiheit für Friedwart Konrad Kasimir Pfaiffenberger, die Erforschung seines Werks hat gerade erst begonnen.

Nachtrag 27. 5.:
Vergessener Pfaiffenberger (holio.wordpress.com)

 

Massakerminiaturen (5)

Berlin, 23. Mai 2011, 20:58 | von John Roxton

Was hatten sie diskutiert mit den Schlipsheinis von der Leitung. Die Fahrgeschäfte am Kai machen ja auch nicht dicht wegen bisschen Wind. Sie bestanden darauf: Ausschalten! Die rumänischen Schaler wollten aber vor dem Wochenende nicht unterbrechen, sondern fertig werden und dann heim zum Schnaps in die Karpaten oder gottweißwo. Kann man verstehen. Der Alte von den Rumänen bekniete ihn persönlich. Also hat er den Alimak doch noch eine halbe Stunde angelassen, damit die Bande hoch auf die Konstruktion konnte, um den letzten Beton zu machen. Jetzt hat er dieses weiche Gefühl im Steiß, das Gefühl vom frühen Morgen, wenn man die erste Platte oder den ersten Sack Gips im Rohbau die Treppe raufschafft. Weich von hinten die Beine runter und in den Magen hoch. Kreislauf. Atmen. Der Aufzug wurde von einer Bö erfasst und von hier oben sah es aus wie ein Jojo, das über die ganze Breite des Hafenpanoramas schwingt. Der Aufschlag war nicht zu hören. Oder er hörte ihn nicht. Er dachte an den Papierkram, der jetzt bis rüber nach Rumänien zu erledigen war.

*

Jedes Jahr am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009)#4 (2010)#5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013)#8 (2014)#9 (2015)#10 (2021)

In Santa Cruz:
Überflüssiger Bücherkauf mit Gottfried Benn

Stanford, 20. Mai 2011, 12:02 | von Srifo

Aus dem Regen flüchten wir in den etwas größeren Buchladen auf der Pacific Avenue in Santa Cruz, nicht in den weiter unten, der den schönen Grabbeltisch »What is Santa Cruz Reading?« hat, sondern wir gehen zu »Logos«.

Aus parallelem Heimweh hatte mich letztens dort ein Kochbuch interessiert, in dem eine Exilitalienerin aus dem nahegelegenen Oakland eine Gaumenhommage an ›ihr‹ Kalabrien schreibt, wie man abgezogene Tomaten einweckt etc. Auch heute hoffe ich auf derartige Fünde.

Ich habe einen Benn-Band dabei, »Sämtliche Erzählungen« (Rowohlt), runtergekommenes Exemplar mit sich von allein abfriemelndem Zellophan, dem untrüglichen Zeichen der Bücher der Nachkriegsjahr­zehnte. Trotzdem bleibe ich noch auf der Trittmatte von »Logos« in der Hoffnung stehen, dass der Cashier mich als Buchmitbringer wahrnimmt.

Denn »Logos« hat neben Verlagsfrischem nicht nur eine nette Sammlung vertonten Wortes, womöglich um in schamvoller Ehrerbietung Heideggers der Tiefenetymologie des Ladentitels (»Sammeln«, »Rede«, »Wort«) nachzukommen, sondern ebenfalls Bücher für den Zweitbesitz.

Während ich mich wie zufällig von der Matte aus zum »Bargain Books«-Stelltisch neige, erwarte ich daher in sozialfühliger amerikanischer Manier, dass der NickCave-scheitlige Kassentyp den leicht herausgeschobenen Benn unter meinem Arm sieht und ihn als bereits beim Zutreten zu mir gehörig zählt.

Unter meinem so gestellten Blick dorthin öffnet sich aber plötzlich eine Möglichkeit, das Manöver unbedingt gewinnbringend zu vollenden, denn ich sehe »Les Planches courbes« von Yves Bonnefoy, immerhin in der »Bilingual Edition« für $5.98, und stecke es neben Benn an meine Seite. Bonnefoy taugt leicht als Pfand dafür, später beim Kauf auf jeden Fall mit dem »Logos«-Kassenwärter in eine seinerseits willkommene Interaktion zu gelangen. Den Benn könnte ich wie beiläufig dann mit »already mine« ausweisen.

Einer meiner Schuhe ist innen nass, und draußen regnet es immer noch, ich setze mich also wartend auf einen Einräumhocker in »Used Lit. Crit.« und lese eben Benns »Weinhaus Wolf«. Da unten finde ich aber dann bei »Intl.« zwischen »Portuguese« und »Russian« wie handverlesen den Debris deutschsprachiger Exilbibliotheken: Die Jahrgänge 1983 bis 1988 von »Kakteen und andere Sukkulenten«, dem »monatlich erscheinenden Organ der Deutschen Kakteen-Gesellschaft; der Gesellschaft Österreichischer Kakteenfreunde; der Schweizerischen Kakteen-Gesellschaft«; auf dem Brett darüber sogar das komplementäre Kakteenkompendium.

Weiterhin lockt unter den nicht einmal drei Dutzend Bänden: »Attis, seine Mythen und sein Kult«, die Dissertation des späteren Mitheraus­gebers der »Hessischen Blätter für Volkskunde«, Hugo Hepding, verlegt bei der J. Ricker’schen Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann) GIESZEN im Original von 1903 (die anbetrachts der frisch gefüllten Stempelkarte des Harvard-Exemplars offenbar ungebrochen ein Standardwerk ist).

Es gibt auch Kanon im »Logos«, einen Insel-Goethe und Leder-Rilke, aber, recht verwunderlich, sogar den leinenen Band 1 der großen gelbschnittigen Löwener Husserl-Ausgabe »Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge« von 1950. Für $14 ein Topf Gold, denke ich und packe ihn zu Bonnefoy und Benn.

Gekauft habe ich letztlich dann noch den ’67-Klassiker »Hegel im Kontext« (»Wer Hegel verstehen will, der ist noch immer mit sich allein.«) und eine ›beriebene‹ »Publikumsbeschimpfung«, der in zittrig zartem Blei erläuternd »insult!« auf dem Titelbogen notiert ist. Beide edition suhrkamp in grün und angesichts der am Orte beheimateten linken Reformuni aus den 60ern (»das Bielefeld im Golden State«), beide von derselben germanophilen Revolutionärin der Neuen Welt angelegt (fraglich, ob die UCSC-Hegelianer Fluch oder Segen für den »Logos« sind).

Wegen der schön übersättigten Farben blättere ich noch mal durch die Sukkulentendrucke und kehre dann zurück zu Nick Cave, zahle und winke einvernehmlich und vielsagend mit meinem Benn. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber draußen drückt mir eine nasse Trottoirdelle gleich wieder Wasser durch die Sohle, und während wir einige Blocks später im gefüllten Hipstercafé »Pergolesi« ankommen, stößt es mir aus dem »Weinhaus Wolf« auf:

»Individualitäten! Orgasmus zu seiner Stunde, später Weihwasser, auch Teilnahme an Festen. Berufsgruppen! Besteigen nachmittags einen Zug, Geschäftsreise, Geschmack von Rauch, etwas Kühle im Coupé, Landschaft streicht vorüber, Dämmerung –, Tage und Existenzen! Parallele: schuldlos geschiedene Blondine, Mann Syndikus, jetzt Broterwerb ausgenossene Gattin.

Gespenster! Leere! Gliedloses Gewoge! Cäsarisch am Schlips: rotkariert, nicht Punkte; Eigenblust im Römer: Obstsaft, keinen Federweißen! Reize, Gewohnheiten, Verstimmungen der Höchstfall von Besonderheiten! Fruchtwerdendes, anlagemäßiges Müssen nie.«

Usw.
 

Kurzes Interview zum 100-Seiten-Marathon

Hamburg, 18. Mai 2011, 16:36 | von Dique

Richard Deiss ist leidenschaftlicher Zahlenfresser, Sammler und Books-on-Demand-Fanatiker. 20 seiner Bücher sind dort bereits erschienen, darunter Sammlungen von Städte-, Stadtteil- und Gebäudebeinamen. Ein weiteres Faible sind Buchladentouren, bei einer haben wir ihn letzten August begleitet (Teil 1, Teil 2, Teil 3). Nach diesem Wochenende zeigte sein Pedometer 222.222 Schritte an, wie er uns später per E-Mail mit­teilte. Als Richard von unserem Kanon hundertseitiger Bücher erfuhr, fing er sofort zu lesen an.

Der Umblätterer: Richard, du hast jetzt einfach mal so ein paar Dutzend 100-Seiten-Bücher gelesen.

Deiss: Ja, ich bin ja Geograph, lese meistens nur Sachbücher und habe leider nicht Literatur studiert, bin also ein bisschen hinterher mit der Literaturlektüre, da nehme ich als Listenfan solche Kanonsachen immer ganz gern als Anlass, Bildungslücken abzubauen.

In den Weihnachtsferien habe ich Fritz J. Raddatz’ »Tagebücher 1982–2001« gelesen, was mein Interesse für Literatur geweckt hat, und ich habe mich daran erinnert, dass Raddatz damals diese ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher herausgegeben hatte. Dieser blaue Suhrkamp-Band war in den 1980er Jahren meine Kanon-Bibel. Ich kam bis zum 25. Buch, und mich reute es in späteren Jahren immer, dass ich nicht weitergemacht hatte.

Da ich mit den Raddatz-Tagebüchern am 1. Januar durch war und diese Lektüre wie gesagt sehr anregend war, kam es zum Neujahrsvorsatz, in diesem Jahr pro Woche zwei Bücher zu lesen, also nicht nur Hundertseiter, auch längere Bücher, aber das Pensum ist natürlich mit ein paar kurzen Texten dazwischen viel realistischer. 27 Hundertseiter aus eurem 100-Seiten-Kanon habe ich inzwischen durch, also um die 2.700 Seiten (plus 13 Bücher des Kanons, die ich schon vorher gelesen hatte). Deshalb schaue ich immer wieder auf eure Liste, ein Schatz­kästlein der Literatur, das mich einen Edelstein nach dem anderen entdecken lässt.

Der Umblätterer: Zum Beispiel?

Deiss: Begonnen habe ich mit Melvilles »Bartleby«, das hat mich gleich umgehauen. Und ich hatte die Hoffnung, dass sich unter den ausstehenden 100-Seiten-Büchern noch weitere »Bartlebys« finden. Beeindruckt hat mich dann auch »Leutnant Burda« von Ferdinand von Saar. Ich kannte den Autor vorher gar nicht. Der Text liegt gerade ausgedruckt auf meinem Schreibtisch, und immer, wenn ich draufschaue, spricht die Schlüssigkeit der Geschichte mich gleich wieder an, sie ist stimmig erzählt und sehr spannend bis zu ihrem tragischen Schluss.

Der Umblätterer: Du hast den Text zum Lesen ausgedruckt, aus dem Internet?

Deiss: Ja, viele eurer Hundertseiter sind ja online, im Projekt Gutenberg oder bei zeno.org.

Der Umblätterer: Sind das dann zuverlässige Textversionen, oder gibt es da reihenweise Tipp- und OCR-Fehler?

Deiss: Soweit ich es beurteilen kann, ist die Qualität okay, Tipp- oder Scanfehler sind mir bisher eigentlich keine aufgefallen. Ich versuche natürlich trotzdem, möglichst viele der Hundertseiter in traditionellen Buchläden, die es ja weiterhin geben sollte, zu kaufen.

Der Umblätterer: Was ist dir sonst noch in Erinnerung?

Deiss: Nach »Bartleby« habe ich »Unterm Birnbaum« gelesen, auch das unglaublich spannend, und dann Aitmatows »Dshamilja« und Schnitzlers »Traumnovelle«. Alles tolle Bücher. Bei »Dshamilja« setzt Aragon in seinem Vorwort die Latte so hoch, dass man anfangs fast enttäuscht ist, doch das Buch nimmt einen dann doch mit.

Der Umblätterer: Zu welchen Gelegenheiten liest du die Bücher eigentlich so?

Deiss: »Dshamilja« zum Beispiel habe ich an einem Bahnwochenende gelesen. Ich habe an einem Tag Buchläden in drei Städten besichtigt (Trier, Saarbrücken und Ludwigshafen) und hatte ursprünglich kein anderes Buch dabei, da war es zusätzlich spannend, immer noch zu schauen, wo ich für die Bahnfahrt dazwischen schnell noch eines der Kurzbücher auftreiben konnte, denn andere Bücher mochte ich damals gar nicht lesen.

Leider landete ich dann immer in den Thalia-Filialen irgendwelcher Einkaufszentren, die alle gleich aussahen, aber dort hatten sie wenigstens einige der Hundertseiter von eurer Liste im Regal. Die Bücher hatten dann auch gerade die richtige Länge für die Fahrabschnitte zwischen den Städten. Allerdings förderte der Griff ins Kanon-Schatzkästlein auch ein paar dröge Brocken zu Tage.

Der Umblätterer: Welche denn?

Deiss: Zum Beispiel Fontanes »Grete Minde«. Da hatte ich mehr erwartet nach eurer vollmundigen Empfehlung. Schon der Anfang: Zwei Kinder sprechen herzig über Vöglein und Nestlein, es fiel mir schwer, da weiterzulesen. »Unterm Birnbaum« war viel spannender. »Grete Minde« dagegen ist eine heulsusig dahinplätschernde, für mich wenig spannende Geschichte, der am Schluss ein dramatisches Fanal aufgepfropft wird. Würde ich aus dem Kanon eher streichen, ein Fontane reicht.

Der Umblätterer: Und was noch?

Deiss: Auf jeden Fall die Sachbücher. Immer wieder ärgere ich mich bei der Lektüre, wenn ich eine spannende Geschichte erwarte und doch nur ein literaturbezogenes Sachbuch in der Hand halte. Ich würde die Liste auf genau 100 Titel begrenzen und die Sachbücher in eine eigene Liste übertragen und diese dann wiederum auf 100 ergänzen.

Der eben erwähnte ZEIT-Kanon mit 100 belletristischen Titeln wurde dann etwas später um eine Sammlung mit 100 Sachbüchern ergänzt, sehr lobenswert und auch von Raddatz herausgegeben. Bei den Sachbüchern kam ich allerdings auch nicht sehr weit, die lesen sich teilweise mühsamer als Belletristik, auch hier würde eine Liste der kurzen Werke helfen, deshalb bin ich froh, dass ich mit der Liste der Kurzwerke weitermachen kann.

Der Umblätterer: »Grete Minde« wird auf keinen Fall gestrichen, hehe.

Deiss: Schön übrigens, dass einer der ersten eurer Vorstellungstexte gleich Chamissos wirklich »wundersame Geschichte« ist, die habe ich jetzt erst am Freitag gelesen, ein wahrer Edelstein von Geschichte. Am Samstag dann noch Hemingways »Der alte Mann und das Meer«, ein wunderbares Buch, jetzt sind es, wie gesagt, mit den bereits früher gelesenen 38 aus der Liste, und ich möchte dieses Jahr noch auf 50 oder 60 kommen.

Der Umblätterer: Wie liegst du im Plan?

Deiss: Es sieht gut aus. Ich will ja nicht nur Kurzbücher lesen, aber weil ich mich in letzter Zeit darauf konzentriert habe und zum Beispiel zwischendrin dieses leseintensive Bahnwochenende hatte, bin ich meinen Leseplänen voraus, falle aber im Moment wieder ein bisschen zurück, da die Arbeitswoche hektisch ist. Zumindest den Klabund will ich aber bis morgen noch lesen, sind ja nur 45 Seiten.

Der Umblätterer: Wieder ausgedruckt?

Deiss: Ja, von Wikisource aus auf A4 ausgedruckt, da werden aus den 100 Seiten eben 45, die Textmenge bleibt natürlich hoffentlich die Gleiche. Aber vielleicht liest man schneller, wenn man im Hinterkopf die Zahl 45 hat und denkt, dass das ja nicht so viel ist.

Der Umblätterer: Kannst du vielleicht kurz erklären, was ein Hundertseitenbuch ist, in Abgrenzung zu anderen Textmengen?

Deiss: Also für mich ist es nur wichtig, dass es kurz ist, damit ich mit meinem 100-Bücher-Projekt vorankomme, die Abgrenzung auf eurer Liste habt ihr ja selbst definiert, ich glaube es sind Bücher mit zwischen 50.000 und 150.000 Zeichen oder so ähnlich.

Der Umblätterer: Das Maß ist 100.000 bis 225.000, durch lange Experimente bestimmt, unter Zuhilfenahme einiger Arno-Schmidt-Formeln! Was wirst du tun, wenn du hundert Hundertseiter gelesen hast?

Deiss: Durch die Liste bin ich zum Schnitzler-Fan geworden. Letzte Woche habe ich »Leutnant Gustl« gelesen, das war wieder mal großartig. Ich möchte unbedingt alle seine Werke lesen. Wenn ich damit fertig bin, möchte ich die 100 wichtigsten/besten Reisebücher lesen. Eine entsprechende Liste habe ich bereits erstellt und vor fünf Jahren auch schon mit dem Lesen angefangen, kam allerdings auch da erst bis Buch 25. Der Grund war, dass ich zu diesem Zeitpunkt begann selbst Bücher zu schreiben und keine Zeit mehr hatte. Da ich mein eigenes Veröffentlichungsprogramm Ende 2010 abgerundet habe, kann es mit dem Lesen wieder weitergehen, aber wie gesagt, im Jahr 2011 habe die Kurzbücher Vorrang.

Der Umblätterer: Welche drei Titel von der Liste fallen dir jetzt gerade spontan noch ein?

Deiss: Ok, also Stifters »Abdias«, ganz nett zu lesen, aber irgendwie fehlt der Spannungsbogen. Flex’ »Der Wanderer zwischen beiden Welten« …

Der Umblätterer: Flex, was? Wer hat den denn auf die Liste gesetzt! Ach so, ja, das war irgendwie als Ausgleich zu Christa Wolfs »Kein Ort. Nirgends« gedacht, wenn wir uns recht erinnern.

Deiss: Also wieso, ich fand Flex beeindruckend sprach- und bilderstark. Und »Frühstück bei Tiffany« hab ich auch noch lebhaft in Erinnerung, viel besser als der Film und im englischen Originaltext mit tollen Ausdrücken (»I’m the top banana of the shock department«). Aber was rede ich hier lang und breit herum, statt des Interviews hätte ich jetzt eigentlich schon wieder fünf Seiten lesen können.

Ende des Gesprächs. Inzwischen hat uns Richard wissen lassen, dass er nun auch mit »Tonio Kröger« durch sei. Habe ihn trotz unserer ausdrück­lichen Empfehlung wenig angesprochen, die Erzählung. Er stelle sie auf eine Stufe mit »Grete Minde«. Ansonsten werde er nächste Woche seinen 1000. Buchladen besuchen und habe sich dafür den »25books« in Berlin ausgesucht. Warten wir also auf neues Zahlenmaterial vom Pedometer.
 

50 berühmte Mittelinitiale

Leipzig, 13. Mai 2011, 07:20 | von Paco

 
Ernst A. Grandits
Robert A. Heinlein
Ijoma A. Mangold
Frank A. Meyer
George A. Romero
Moritz A. Sachs

Cecil B. DeMille
Johannes B. Kerner
Robert B. Pippin
Isaac B. Singer

Joachim C. Fest
Michael C. Hall
Nicolae C. Ionescu
John C. Reilly

John D. Rockefeller
Franklin D. Roosevelt

Adele E. Goldberg
Alfred E. Neumann
Dieter E. Zimmer

Donald F. Duck
John F. Kennedy

Harry G. Frankfurt
Heinz G. Konsalik

Marcus H. Rosenmüller

Mary J. Blige
Michael J. Fox
Alfred J. Kwak
Fritz J. Raddatz
Clemens J. Setz

Philip K. Dick
Ursula K. Le Guin
Joanne K. Rowling

Hermann L. Gremliza
Samuel L. Jackson

Henryk M. Broder
Pierre M. Krause

Roger O. Thornhill

Reinhard P. Gruber
Horst P. Horst
Samuel P. Huntington

Johannes R. Becher
Douglas R. Hofstadter

William S. Burroughs
Harry S. Truman

James T. Kirk

Moritz v. Uslar

Theodor W. Adorno
George W. Bush

Christian Y. Schmidt

Martin Z. Schröder