Kaffeehaus des Monats (Teil 33)
sine loco, 28. Mai 2008, 11:40 | von PacoWenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Berlin
Die Bäckerei Arrey in der Schönhauser Allee 88.
(Drei Halbe und ein Kaffee.)
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Berlin
Die Bäckerei Arrey in der Schönhauser Allee 88.
(Drei Halbe und ein Kaffee.)
Warum ich von der Eurokolumne der taz so begeistert bin? Kann ich erklären. Da war, gleich in der Auftaktfolge, dieses Foto, das Ottmar Hitzfeld zum »Baselbieter« deklarierte. Baselbieter, Baselbieter. Dieses Wort einfach mal so als Bildlegende einer bundesdeutschen Tageszeitung, ohne dass irgendeine Schlussredaktion das wegredigiert hätte, das spricht absolut für die taz. Denn kaum ein Nichtschweizer weiß, was ein Baselbieter ist: Selbst im nahen Baden-Württemberg dürften nicht viele was mit dem Begriff anfangen können.
Ein Baselbieter kann nur jemand aus dem Kanton Basel-Land sein, und deswegen ist die Idee, Hitzfeld, der aus Lörrach stammt, zum quasi deutschen Baselbieter zu erklären, natürlich eine ganz wunderbare staatsgeografische contradictio in adiecto. Und doch viel mehr als das: Am deutschen Hochrhein spricht man alles außer Hochdeutsch, und wer Hitzfeld jemals hochalemannisch parlierend im Schweizer Fernsehen erlebt hat, der begreift erst, wie bedenkenlos die Eidgenossen ihn, und nur ihn, als ersten Deutschen überhaupt zum zukünftigen Schweizer Nationalcoach verpflichten konnten. Denn der typische Deutsche, der nur Schriftdeutsch kann, ist Hitzfeld eben gerade nicht.
Nur rein statistisch trägt er deshalb auch zur deutschen Gastarbeiterschwemme bei. Wie Tobi Müller in schönen Sätzen zu berichten weiß, machen es die vielen Teutonen den Schweizern ja nicht gerade leicht:
Seit im Land eine Umschichtung in der Zuwanderung von Norden nach Süden einsetzt, seit hochqualifizierte Deutsche en masse in die Schweiz ziehen und die Italiener als größte Einwanderergruppe, zumindest in Zürich, abgelöst haben, seither hört man auch in linksliberalen Kreisen Dinge, die man über Italiener nie gehört hat. Früher hielt man sich ja stets an Max Frisch: Man rief Arbeiter, und es kamen Menschen. Für die Deutschen übersetzt heißt das heute: Man rief Arbeiter, und es kamen Chefärzte. Und: Die sich dann auch noch erfrechen, sich wie solche zu benehmen.
Hitzfeld hingegen ist so etwas wie der lebende Beweis dafür, dass auch deutsche Integration in der Schweiz möglich ist – wenn die Mund- und Umgangsart stimmt, denn an der Sprache hängt nicht alles, aber doch so viel im deutsch-schweizerischen Verhältnis. Insofern ist dem taz-Artikel mit der Ernennung Hitzfelds zum ›Baselbieter h.c.‹ eine schöne Chiffre gelungen.
26. stand unter dem Motto
27. lud zum Träumen ein
28. für Otto Normalbürger ist das alles andere als
29. der aufstrebende Jungautor
30. erinnerte an glorreiche Zeiten
Wir trafen schließlich auf sie dort, wo der Hang in die Ebene übergeht. Die Talsohle war von Bäumen bestanden. Ebenso wie sie eröffneten wir aus dem Galopp heraus im Moment des gegenseitigen Erkennens unverzüglich das Feuer. De Geoffroy und Hanes waren sofort tot. Ich erhielt einen Schlag in den Rücken. Noch im Fallen feuerte ich ohne Ziel das Terzerol ab und sah, wie Faucillon den Degen in der Rechten und eine Pistole in der Linken, die Zügel seines Pferdes mit den Zähnen führte.
*
Fußball-Paralipomena gibt’s heutzutage eigentlich überall, und wohl spätestens das Masern-Szenario im letzten »Spiegel« (20/2008, S. 44) macht klar: Zwar ist die »Euro 08« noch lang nicht angepfiffen, aber trotzdem (oder gerade deswegen) läuft der Nachrichtenzirkus längst rund.
So kommt mit jedem Turnier wieder dieses Festival der Meldungen, die die Welt nicht braucht und doch ganz gerne feiert. Mein liebstes Genre ist ja die Großveranstaltungs-Apokalyptik: Neulich zum Beispiel gingen der Schweiz schon die Kartoffeln für die Stadionpommes aus, davor die Pelle für den Cervelat … (und wer erinnert sich nicht noch an diesen ominösen Stadiontest, mit dem die Stiftung Warentest vor 2 Jahren sogar dem Bundesinnenminister ein Statement abrang, vor allem aber Franz Beckenbauer die legendäre Empfehlung, man solle sich doch besser um »Gesichtscremes, Olivenöl und Staubsauger« kümmern …).
Für alle, die in den nächsten Wochen da wieder mittendrin statt nur dabei sein wollen, empfehle ich heute mal die Original-Veredelungsrubrik dieser Euro 08 im Feuilleton: die »Eurokolumne« der taz.
Die sympathische Serie erscheint immer wieder samstags (hier die Folgen I, II, III, IV, V, VI, VII zum Nachklicken) und ist allein schon wegen ihres ebenso simplen wie genialen Drehbuchs originell: Tobi Müller (CH) und Ralf Leonhard (A) zählen den Euro-Countdown im wöchentlichen Wechsel von der Gastgeberseite her runter und sortieren, stilisieren, zelebrieren dabei EM-Notizen, was das Zeug hält.
Daneben schlagen die beiden nativen Korrespondenten aber auch über den Fußball hinaus schöne Flanken aus der Tiefe des deutschsprachigen Raums, Flanken, auf die ich – als Umblätterer mit Euregio-Einsitz – natürlich noch zurückkommen muss und werde. Just for fun also ab sofort eine kleine Eurokolumnen-Eskorte mit allen Toren, den schönsten Szenen und Hintergründen zum Spiel.
Der Trailer fetzt schon mal. Eine Musterfamilie auf Urlaub im Haus am See, zwei unbekannte junge Männer tauchen auf. Zunächst freundlich, dann zunehmend renitent, verwickeln sie die Familie in irritierende Psychospielchen. Aus Irritation wird Angst, aus Angst schierer Terror. Zum kulminierenden Rhythmus des vierten Peer-Gynt-Satzes prasselt ein Stakkato dramatischer Bilder auf den Zuschauer ein: das irre Lächeln der Eindringlinge, eine großkalibrige Flinte, angstverzerrte Gesichter, ein Messer, hastige Bewegungen, ein Tritt, ein Stoß, ein Schuss, holla! Das sieht nach einem spannenden Kinoabend aus.
Der Film ist das amerikanische Remake von Hanekes eigenem Werk »Funny Games«, vor 10 Jahren in Österreich gedreht. Wer das Original kennt, kratzt sich am Kopf: Ist Haneke zum Mainstream übergetreten? Hat Hollywood ihn mit Millionen gelockt? Hat er den verstörenden, harten Realismus, der erst seinen letzten Kritiker-Erfolg »Caché« auszeichnete, zugunsten abgewetzter Thrillerklischees aufgegeben?
Derlei Bedenken haben sich drei Minuten nach Beginn des Films erledigt, als unvermittelt – genau wie im Original – brüllender Thrash Metal über uns hereinbricht und wir eigentlich nur noch wollen, dass es aufhört. Was soll das? Diese akustische Breitseite hat nichts mit den Bildern zu tun, die wir sehen – sie ist offensichtlich nur dazu da, uns zu ärgern. Sie schafft das mühelos.
Was folgt, ist praktisch eine Eins-zu-eins-Kopie des Originals, lediglich mit anderen Schauspielern und in englischer Sprache. Ansonsten alles identisch: Einstellungen, Ausleuchtung, Musik, Ausstattung, alles, sogar die Uhrzeit auf dem stehen gebliebenen Wecker im Küchenregal stimmt überein. Wir erinnern uns bange an Gus Van Sants so zweck- wie erfolglose »Psycho«-Farbkopie und fragen uns: Warum würde jemand so etwas machen?
Haneke: »I made this film originally for an audience that ordinarily consumes violent films, and then I found out that the film had only found an audience in American art-houses.« (EMPIRE, April 2008)
Ein Regisseur, der feststellt, seine Zielgruppe nicht erreicht zu haben und mit einer maßgeschneiderten Version nachsetzt? Ein solches Maß an Intentionalität, gerade bei sonst als introvertiert geltenden Autorenfilmern, ist ungewöhnlich. Welche Mission verfolgt Haneke?
»Funny Games U.S.« zeigt Strukturen eines konventionellen Thrillers, doch bewegt er sich von den gewohnten Wirkungsmomenten weg und wird zum ultimativen Anti-Genre-Film. Er kommentiert sich selbst auf irritierende Weise, thematisiert so die Beziehung des Publikums zum Film und bringt es offensiv in moralische Bedrängnis. Der Anschein, den das Marketing dem Film gibt – eine Finte?
Haneke: »Oh yes. It’s definately a trap.«
Die Therapie ist schmerzhaft. Haneke geht mit einer Schonungslosigkeit zu Werke, die heftige Reaktionen auslöst. Es gab wohl Zuschauer, die wütend gegen Kinositze getreten und frustriert das Kino verlassen haben. Sie sind der Läuterung entgangen, die der Film bewirken kann, wenn (ja wenn!) man zu gewissen Einsichten kommt. Haneke ist explizit darauf aus, dass so viele Menschen wie möglich den Film sehen, doch nicht jeder verkraftet diesen Anschlag auf Konventionen und Erwartungen, dieses ätzende Gegengift zu Hollywoods Gewaltvermarktung.
An vier oder fünf Stellen im Film durchbricht Haneke die Vierte Wand, etabliert einen Blickkontakt der Peiniger mit dem Publikum, lässt diese sogar provokante Fragen in den Zuschauerraum stellen. Zunächst nimmt man das vielleicht als intellektuelles Gimmick wahr, doch bald verdichtet sich die unbequeme Einsicht, dass die Delinquenten diese unschuldigen Menschen nicht zu ihrem bloßen Vergnügen massakrieren – sondern zu unserem.
Die Einsicht ist beschämend. Sind wir tatsächlich in den Film gegangen, um Menschen leiden zu sehen? Aber ja. Und zwar möglichst unterhaltsam, spannend und in gewohnter Manier. Doch Haneke tut uns den Gefallen nicht, enttäuscht diese Erwartungen auf ganzer Linie. Etwa finden Gewaltausbrüche permanent außerhalb des Bildausschnittes statt. Welche konditionierende Wirkung die Gewaltdarstellung des Kinos hat, realisiert man erst, wenn man diese Szenen verfolgt. Situationen von unglaublicher Beklemmung, von erschütternder Intensität, und doch sehen wir nichts von dem, was andere Filmemacher glauben unbedingt zeigen zu müssen.
Die Erfahrung fiktionaler Gewalt im Film ist dem Erleben realer Gewalt offenbar näher als gedacht und auffallend unabhängig von dem, was dem Kino eigen ist, nämlich von Bildern. Dies ist nicht wirklich neu: Wir schätzen es, wenn Filme subtil vorgehen und gewisse Dinge einer expliziten Visualität entziehen, um eine umso größere Wirkung im Kopf des Betrachters zu erzielen. Aber scheinbar braucht es einen Haneke, um uns diese Maxime stilistischer Raffinesse wieder zu vergegenwärtigen.
Explizite Bilder überführen Konzepte der Gewalt in eine allzu profane, schnell obszöne Vordergründigkeit, die der Gewalt den Schrecken nimmt und sie nach einigen Wiederholungen schlicht erträglich macht. Das Ergebnis heißt Verrohung. Bilder werden gesehen, Gedanken werden gedacht, das nächste Mal ist es nur halb so schlimm. Im Kino wird heute gemeuchelt, gefoltert und gemordet, was das Zeug hält, keine kranke Idee ist zu abgefahren. Die neue Sparte des Torture Porn befördert Menschen mithilfe sadistischer Gadgets ins Jenseits, und in »300« kann man 585 wackeren Kämpfern beim Ableben zusehen. Zur Entspannung.
Haneke: »Hollywood makes violence unreal, it makes it unrealistic and therefore consumable for an audience. And this is detestable to me. It’s dishonest.«
Egal ob man Gewalt am eigenen Leib erfährt oder über sein Empathievermögen nachvollzieht – sie ruft starke Emotionen hervor und trifft einen tief. Gewalt ist Bestandteil der menschlichen Kultur, sie hängt mit Macht zusammen und mit Angst, um sie herum formieren sich Grundsätze der Moral. Mit einem solchen Element soll man kein Schindluder treiben, selbst die Fiktion befreit einen nicht von einer gewissen Verantwortung, gerade bei einem Massenmedium wie dem Film.
Dennoch werden Bedenkenträger gerne in die Spießer-Ecke gestellt, wo auch schon Killerspiel-für-Amoklauf-Verantwortlich-Macher und andere Moralapostel vergnatzt Däumchen drehen. Ihre Gegenredner gefallen sich in unendlicher Toleranz, kehren eine weltmännische Offenheit heraus, wenn sie üble Machwerke als muntere Lebenszeichen einer unverzagten Filmkultur lobpreisen.
Doch man muss nicht alles nehmen, was kommt. Ein joviales Durchwinken hat etwas fatalistisches, trägt den Beigeschmack falsch verstandener Laisser-faire. Seit jeher arbeitet die Zivilisation daran, das Ausleben der dem Menschen offenbar eigenen morbiden Faszination an Gewalt zugunsten humanistischer Werte zurückzudrängen. Ethische Grundsätze brandmarken Entertainment-Gewalt als barbarisch. Wieso sollte man dem Kino eine Art kulturellen Rückfall durchgehen lassen? Ist Film etwa ein pietätfreier Raum?
Korrektive Kräfte sind sehr wohl am Werk. Sie bestehen nicht in Zensur (auch sie verbietet sich im Lichte hehrer freiheitlicher Grundsätze), sondern entstehen aus dem System heraus, im kulturellen Diskurs. Über die Resonanz bei Kritik und Publikum formieren und verschieben sich Tabuzonen und moralische Grenzlinien, die wiederum Künstler und Produzenten beeinflussen.
Dass mit Haneke eine solche korrektive Instanz von der Produktionsseite her aktiv wird, ist bemerkenswert. Die Botschaft seines Films richtet sich nicht nur an gleichgeschaltete Zuschauermassen, sondern ebenso an Kollegen, die seiner Ansicht nach bewusst oder unbewusst Moral und Verantwortungsbewusstsein schleifen lassen. Ungern benennt Haneke dabei Schuldige, aber ein Name taucht auf:
Haneke: »Admittedly Tarantino’s films are brilliantly made, but he depicts violence in a way that makes it look harmless and I find that irresponsible.«
Die Ideen von Tarantino und Konsorten sind bei Lichte besehen tatsächlich haarsträubend. Da werden komatöse Patientinnen vergewaltigt, Fahrzeuginsassen aus Versehen in den Kopf geschossen, Augäpfel zertreten, Frauen mit dem Auto zu Klump gefahren, Männer mit der Flinte entmannt, Mütter vor den Augen ihrer Töchter ermordet. Doch eine meisterliche Ästhetisierung sowie ein flotter Soundtrack machen diese Grässlichkeiten gut verdaulich, überformen deren Schockpotenzial in Richtung einer coolen, genre-verbrämten Lapidarität, gar einer grotesken Komik.
Haneke: »He thinks violence is funny, he uses it as a joke in his films. Personally I think violence can never be funny.«
Diese Sicht mag etwas apodiktisch und verknöchert erscheinen, doch braucht es vielleicht gerade einen solchen idealistischen, wertebewussten Standpunkt, um der zuchtlosen Fahrlässigkeit der Gewaltfilmer ein Gegengewicht zu sein. In diesem Sinne ist »Funny Games U.S.« ein filmgewordenes Manifest, eine kathartische Selbstverständigung in Form einer bestürzenden Studie menschlicher Abgründe.
Im Zuge dieser bitteren Lektion wird die Bewertung filmischen Horrors neu austariert. Bekanntes und Erwartetes erfährt angesichts des wahren Horrors, den der Film wie kaum ein anderes Werk im Zuschauer entfacht, eine nachhaltige Neubemessung. Haneke stößt sein Publikum in einen Zustand ohnmächtigen Entsetzens, indem er Konventionen antäuscht, sich ihnen aber strikt verweigert und dies auch noch zynisch kommentiert.
An einer Stelle der Geschichte lässt der Regisseur das Blatt sich wenden, die Gepeinigten erringen einen erlösenden Siegpunkt. Welche Erleichterung! Applaus im Publikum. Doch da greift einer der Akteure in einem unerhörten Akt technischer Manipulation in den Fluss der Erzählzeit ein, das retardierende Moment des Dramas ist binnen Sekunden wieder vernichtet, der Zuschauer verbleibt hilflos, perplex, unendlich frustriert.
Solche Akte der Willkür provozieren aufs Äußerste; sie mögen den einen oder anderen gar ernstlich verärgern. Aus diesem Grunde ist dies kein Film, den man leichtfertig empfiehlt. Er ist zweifelsohne eine Tortur (was Hanekes Impetus eine eigene sadistische Note verleiht …), und entzieht sich unangenehmerweise auch dem sonst so tröstlichen Hollywood-Spruch »It’s only a movie.« Er ist eben mehr als das. So bedrückend wie heilsam, so ungemütlich wie unvergesslich.
Peter Richter rezensiert ein Buch über die weit verbreitete Lust vieler Ostdeutscher am Indianerspielen (S. 30). Anscheinend wurde da schon in den 50er-Jahren mit selbst gebastelten Knarren herumgeballert. Das Begleitfoto zeigt dann auch ein Indianerzeltlager mit untergemischten Trabbis.
Mich erinnert das an die »Seinfeld«-Folge »The Burning« (9.16), in der sich Kramer und Mickey als Schauspieler für Krankheitssymptome verdingen, damit ein paar Medizinstudenten an ihnen üben können. »The Burning« ist vollgepackt mit Dialogfeuerwerken wie diesem:
Jerry: What’s with the fake sneezing?
Kramer: Yeah, we’re going down to Mt. Sinai Hospital. See, they hire actors to help the students practice diagnosing.
Mickey: They assign you a specific disease and you act out the symptoms. It’s an easy gig.
Jerry: Do medical schools actually do this?
Kramer: Well, the better ones. Alright, let’s practice retching.
Kramer & Mickey: Huaaahh!!
Als die Krankheiten verlost werden, bekommt Kramer »gonorrhea« zugeteilt, also Tripper. Er zeigt sich anfänglich etwas enttäuscht von seiner Krankheit, wird aber von Seinfeld auf eine Idee gebracht, als dieser in einer Konversation »showmanship« erwähnt: »Showmanship. Maybe that’s what my gonorrhea is missing.«
Weil er »seinem Tripper« so ein Eins-A-Showmanship verpasst hat, fällt ihm von da ab ständig die »gonorrhea« zu – Kramer wird typecast.
Peter Richter erscheint auch immer ein bisschen getypecastet, quasi als Ostberichterstatter der FAS. Dass er diese Themen macht, ist ein Glück. Er ist der erste und einzige, der sie immer locker und mit Laune rüberbringt, auf jeden Fall ohne dräuende Stasigrundierung oder dergleichen. Dabei springen immer wieder tolle Artikel heraus, showmanship ist eben alles.
Ich bleibe gleich mal im Osten, auf S. 27 tanzt das Ballett des Friedrichstadtpalastes, und mir wird himmelangst. Eleonore Büning, die offenbar neue Musikredakteurin der FAS (vgl. Die Dschungel), weiß um solche Ängste und beginnt den Artikel gleich mal so:
»Ich war wieder im Friedrichstadtpalast. Nee, oder? Mitleidig bis sorgenvoll sind die Blicke der Nachbarn, Kinder, Freunde und Kollegen.«
Und dann geht es auch schon los und ich fühle mich lächerlich in meiner Ignoranz. Von vierundsechzig exakt in die Luft gestreckten Mädchenbeinen ist die Rede, und das ist erst der Anfang. E. B. spricht hier übrigens von der professionell getanzten »Girlsreihe«.
Dieses Wort taucht mehrfach auf im Text, Girlsreihe, was für ein Wort, bei Google bekommt man darauf im Moment gerade Mal 81 Hits. Das liegt sicher auch daran, dass die »Girlsreihe« ausstirbt. Laut Büning gibt es nur noch drei passable, in Paris, Las Vegas und eben in Berlin.
Der Text ist ganz wunderbar, Nominierungsgefahr liegt in der Luft. Die Autorin berichtet von 5 Musikveranstaltungen, angefangen bei der Revue im Friedrichstadtpalast, über Neuenfels‘ »Tannhäuser« in Essen bis hin zum Kabukitheater im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Diese 5 Events gehören nicht etwa irgendwie zusammen, nein, sie fanden separat und autark statt. Deren Synopsis funktioniert aber wohl gerade deshalb so wunderbar, weil sie den Text so kontrastreich macht.
Von der Startseite des Feuilletons grüßt es übrigens knallrot. Nein, nicht schon wieder Cindy McCain. Dreimal sieht man da den Dalai Lama hocken, wie er sich gerade einen roten Sonnenschutz auf den Kopf montiert.
Ich hätte mir den Text von Nils Minkmar (S. 25) fast gespart, Übersättigung. Ich fing dann doch noch an zu lesen, zum Glück! Es geht viel um Dämonen, Schutzgeister und Orakel. Der Dalai Lama redet sich in Rage, weil vor der Tür Anhänger des Schutzgeistes Shugden demonstrieren, und mit Shugden ist anscheinend nicht zu spaßen.
Vor verdutztem westlichen Publikum redet sich der Dalai Lama also über diesen Schutzgeist in Rage, und im Publikum staunen Veronica Ferres, Peter Maffay und Liz Mohn.
Hier können wir noch mal zu Peter Richter schalten, der in seiner Indianerbuchrezension schreibt:
»Hier saß Karl May in seiner sächsischen Enge und träumte sich in die Prärien, die damals in Deutschland gerade zur Projektionsfläche wurden für ein Bild von Indianern, in dem sich uralte Weisheit und kindliche Unschuld, moralische Über- und militärische Unterlegenheit die Friedenspfeife reichten (also das, wofür im Augenblick die Tibeter zuständig sind).«
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Göttingen
Die cello coffee bar in der Weender Straße.
(»Es war noch sehr früh, als ich Göttingen verließ, trotz allem legte
ich zuvor eine Bagel-Rast im allbekannten Cello-Wirtshause ein.«
–– Heinrich Heine, Die Harzreise, 1824)
Achtung! Spoiler!
Episode Title: »There’s No Place Like Home (Part 1)«
Episode Number: 4.12 (#83)
First Aired: May 15, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Die Rückkehr, Teil 1« (EA 31. 8. 2008)
— Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)
Ausgehend von der Szene mit dem verzweifelten, bärtigen Jack am Ende der 3. Staffel haben wir uns in den Flashforwards der 4. Staffel mehr oder weniger folgenweise rückwärts auf dem Zeitstrahl bewegt. Die Spanne zwischen Inselzeit und Flashforwardzeit hat sich dadurch in den bisherigen 12 Folgen signifikant verringert.
Die aktuelle Episode zeigt uns nun die Ankunft der geretteten Oceanic Six auf einem hawaiianischen Militärflughafen. In dieser nachträglichen Kernszene des signifikanten Drehbuch-Twists sehen wir Jack, Kate (mit Aaron), Sayid, Sun und Hurley verschwörerisch an Bord der Militärmaschine sitzen. Bei der anschließenden Pressekonferenz geben sie abgesprochene Dinge von sich. Nur weiß man noch nicht, wer was warum abgesprochen hat.
Als Absturzort des 815er Fluges wird die Ozeangegend südöstlich von Java angegeben. Die angeblich 108 Tage, die von den Oceanic Six gebraucht wurden, um die Zivilisation in Form der bewohnten Insel Sumba zu erreichen, eignen sich wieder schön für Zahlenmystik. Die Summe der »Lost«-Zahlen 4 8 15 16 23 42, die sich wie ein Refrain durch die Serie ziehen, ergibt natürlich genau wieder 108. (Das Zeitintervall im Hatch, nach dessen Ablauf die Zahlen immer wieder in den Computer gehackt werden mussten, war auch genau 108 Minuten lang. Usw.)
Lustig hierbei ist, dass die 108 Tage der Verschollenheit als Eckdaten für die Presse ausgedacht worden sind und nicht wirklich stattgefunden haben – die Drehbuchschreiber demonstrieren damit einmal mehr, wie gern sie auf derlei zahlenmystischen Zinnober zurückgreifen. Könnte ein weiterer Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass man die Mystery nicht zu ernst nehmen soll, super.
Ein interessanter emotionaler Kristallisationspunkt ist die anschließende Wiedervereinigung der Oceanic Six mit ihren Familien, oder eben auch das dezidierte Nicht-Wiedersehen: Niemand wartet auf Kate (und Aaron). Und Sayids Familienlosigkeit wird von Hurley aufgefangen, der ihn enthusiastisch mit zu seinen Eltern schleppt. Wobei der irakische Ex-Gardist später von seiner Sandkastenliebe Nadia rekontaktiert wird.
Als weitere Flashforward-Elemente gibt es noch ein paar Ereignisse, die zeitlich kurz nach der Pressekonferenz liegen dürften. Zunächst ist Sun dran: Nachdem Locke seine Vaterprobleme schon gelöst hat, indem er seinen alten Herrn von Sawyer hat lynchen lassen, ist es nun an Sun, ihrem Erzeuger eins reinzuwürgen. Mit der finanziellen Entschädigung der Airline kauft sie Anteile an der Firma ihres Vaters und treibt den Patriarchen damit zur Weißglut.
Hurley kriegt im Haus seiner Eltern eine Überraschungs-Geburtstagsparty geliefert, auf der sich auch die anderen Oceanics einfinden (außer Jack, der sich laut Kate verspätet hat). Das Hauptgeschenk ist Hurleys instand gesetzter Chevrolet Camaro, der ihm von seinem Vater stolz präsentiert wird. Die beiden Kilometerstände des Tachometers enthalten jedoch genau wieder die »Lost«-Numbers, mit denen Hurley vor dem Crash den unglückseligen Lottogewinn eingeheimst hat. Hurley rastet aus, wuchtet sich aus dem Fahrzeug heraus und sucht das Weite.
Dann sehen wir Jack die Grabrede auf seinen Vater halten (dessen Leiche aber nicht anwesend ist – das Motiv des materialisierten Christian Shephard wurde in der letzten Folge behandelt). Danach wird er von einer Mittvierzigerin angesprochen (Typ MILF, hehe) – und endlich wird offiziell die biografisch-biologische Schnittmenge zwischen Jack & Claire bekannt: Die Mami mit britischem Akzent ist Claires Mutter und erzählt Jack, dass Claire qua Christian Shephard seine Halbschwester war (ist).
Meanwhile, auf der Insel
Der zum Überflug gezwungene Chopperpilot (Frank) hat heimlich einen dieser GPS-Kommunikatoren am Strand abgeworfen. Faraday schaltet das Ding auf »Monitor Only«, und die Strandleute hören, wie Keamy in der Nähe der Orchid-Station landen lässt. Jack & Kate beschließen, dem Choppersignal zu folgen. Faraday meint verstohlen zu Charlotte: »We have to get off this island! Right now!« Er bringt die erste Ladung Losties auf den Frachter und will sich offenbar auch um den Rest kümmern. Überhaupt Faraday: Er trägt immer noch dieses ausgebeulte, verschwitzte Hemd und hat auch die Krawatte noch nicht abgelegt, herrlich.
Auf dem Frachter kommt es zu einer giftigen Szene zwischen den Koreanern und dem Verräter Michael (sein Leitthema wieder: er will Buße tun). Die Begegnung wird von der Entdeckung unterbrochen, dass sich in einer Kammer im Schiffsrumpf massenweise Sprengstoff befindet – sicher genug, um damit die Insel zu pulverisieren. Mal sehen.
Im Dschungel begegnen Kate & Jack dem versprengten Sawyer. Der erklärt kurz die Neuigkeit, dass Claire verschwunden ist, und reicht den kleinen Aaron an Kate weiter, die ihn zum Strand zurückbringt. Jack & Sawyer dringen mit geladenen Pistolen weiter in den Dschungel.
Inzwischen ist Sayid mit dem Beiboot des Frachters am Strand eingetroffen und will sich mit Kate an die Fersen von Jack & Sawyer heften. Leider werden die beiden Verfolger unterwegs von Richard und ein paar Others gestellt (endlich zeigen die mal wieder Präsenz) und irgendwohin abgeführt.
Das herrlich anzusehende Trio Hurley – Ben – Locke macht sich auch auf den Weg zur Orchid, weil sie dort zur Ausführung ihres Auftrags schreiten müssen, der ihnen in der letzten Folge in Jacobs Hütte erteilt worden ist. Als Recap gibt es diesen lustigen Dialogfetzen:
Ben: We’re going to move the island.
Hurley: Right. And how are we gonna do that?
Ben: Very carefully.
Eine sehr schön ausweichende Antwort, Ben ist mal wieder in seinem Element als heimlicher Witzbold. Es folgt seinerseits gleich noch ein super Kommentar: Er enthüllt gegenüber Locke ein paar Widmore betreffende Dinge (dass dieser auch um die Bedeutung der Orchid weiß, dass er Ben schnappen und die anderen Losties killen will), worauf Locke meint, dass Ben doch behauptet habe, dass er da nicht Bescheid wisse. Darauf Ben: »I wasn’t entirely truthful.« Auch hier wieder dieser entertainende Ben-Style, mit dem wir schon so viel Spaß hatten.
Keamy & sein Killertrupp haben die Orchid übrigens schon erreicht und gesichert. Ben weist Locke an, sich in die Station hinabzubegeben, während er selbst die Frachter-Soldateska ablenken will. Locke fragt, wie er das zu tun beabsichtige, worauf ihm Ben schulmeisterlich antwortet: »How many times do I have to tell you, John? I always have a plan.«
Ben wirkt immer mehr wie eine janusköpfige Variante des Col. Hannibal Smith vom »A-Team«. Sobald die Insel gerettet ist, werden wir ihn sicher eine Zigarre zücken sehen und sagen hören: »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.«
Ich lag auf der Wiese hinter dem Institut und las alte SZs. Ich hatte gerade voller Enthusiasmus den Hammerartikel von Johan Schloemann über die Antike und uns beendet, als mir Millek entgegenplauzte. Er musste über einen Maulwurfshügel gestolpert sein und kippte nun seinen noch bis obenhin gefüllten Milchkaffee gründlich über den Artikel:
Johan Schloemann: Antike für Anfänger. Kompensation, Archaik, Geheimnis: Das Altertum boomt. Aber welches Altertum ist dabei eigentlich gemeint? In: Süddeutsche Zeitung, 19./20. 4. 2008, S. 14.
Das vergossene Kaffeeblut passt sehr schön zu der Passage in der ersten Spalte des Artikels, wo von den »urtümlichen Formationen der Gewalt« die Rede ist, die uns im Moment in Kino-, TV- und Roman-Produktionen so fasziniert.
Wie auch immer. Während im Hintergrund das leise Kichern unseres maulwurfigen Wappentiers verhallte und die Zeitung in der Sonne trocknete, zerfetzten wir uns über diesen essayistischen Handkantenschlag, der definitivamente ein Top-10-Kandidat ist.
Bisher wurde oft nur konstatiert, dass wir ja alle »kleine Möchtegern-Römer« (Andreas Kilb) sind. Warum das aber so ist, warum das seit hunderten von Jahren so ist, warum das gegenwärtig wieder so aktuell ist: All das beantwortet Schloemann in seinem Text, der von der S-Zeitung »gekürzt und bearbeitet« wiedergegeben wird.
(Wo wir grad dabei sind: Gekürzte Versionen von Vorträgen, die auf irgendwelchen groß angelegten Philologen-, Historiker- oder Sonstwas-Kongressen gehalten worden sind, bilden einen wichtigen Aspekt des momentanen Feuilletons.
Nicht immer sind diese Kurzfassungen intelligent gekürzt. Oft verursachen die Zusammenstreichungen einige Leerstellen und Ungereimtheiten oder Abschwächungen von Thesen. Doch bei dem redaktionell bearbeiteten Schloemann-Artikel merkt man davon nichts. Der hat Bestand auch ohne dass man die Langfassung kennt.)
Warum also verherrlichen wir HBOs »Rome«, warum die alte BBC-Serie »I, Claudius«, warum die Comicverfilmung »300«? (Da wir mit San Andreas einen Fundamentalkritiker dieses »Scheißfilms« an Bord haben, muss ich darauf hinweisen, dass man diesen Film auch anders sehen kann, nicht aber die beiden erstgenannten Serien.)
Die Antwort gibt Schloemann mit einer ganzen Reihe von Thesenbruchstücken inkl. schlüssiger Beispiele. Die vor ein paar Tagen in der Rhône bei Arles gefundene marmorne Cäsar-Büste kannte Schloemann dabei noch gar nicht, aber sie eignet sich perfekt als weiteres Exempel seiner Thesen:
»Wir laufen eifrig Nachrichten hinterher, die uns vermelden, dass irgendwo in den früheren Provinzen des Römischen Reiches ein neuer Marmorkopf (…) gefunden wurde. Das ist schön für jeden Archäologen, aber kurios daran ist, dass sich gleichzeitig die großartigsten Kunstwerke der Antike, die in den städtischen Sammlungen unserer Museen stehen, kaum jemand anschaut.
(…) Die Entdeckung verschafft eine willkommene Entlastung von der Tradition. Denn im Moment des Auffindens von Unbekanntem nehmen der Entdecker und das Publikum eine Zeitlang dieselbe Stufe ein, sie verschmelzen. Die Distanz zwischen Kennerschaft und versäumter Bildung ist aufgehoben; der Experte und die Laien können gemeinsam staunen wie die Kinder; und das schlechte Gewissen, das wir alle wegen mangelnder Belesenheit haben, verfliegt.«
Usw.