Archiv des Themenkreises ›Nominiert 2008‹


Introducing:
Der Goldene Maulwurf 2008

Zürich, 12. Januar 2009, 00:45 | von Paco

Der Goldene Maulwurf

Die 10 besten Feuilleton-Texte des vergangenen Jahres

Morgen ist es wieder soweit. Seit 2004 küren wir die »angeblich zehn besten Artikel« (Perlentaucher) aus den Feuilletons eines Zeitungs- und Internet-Jahres. Anfangs geschah das im Alleingang beim Online-Feuilleton satt.org. Mittlerweile ist dafür das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque zuständig.

In dem eigens dafür gegründeten Produktions-Blog Der Umblätterer sammeln wir das ganze Jahr über Vorschläge für beste Texte und schildern uns gegenseitig, nach dem Vorbild moralischer Wochenschriften des 18. Jahrhunderts (mindestens!), unsere täglichen Erfahrungen mit Zeitungen, Kaffeehäusern und überhaupt Kulturgütern aller Art.

Wir interpretieren das Feuilleton als nicht enden wollenden Gegenwartsroman, mit all seinen literarischen Glanzpunkten und inhaltlichen Schrecklichkeiten. Und dem schönsten aller Texte wollen wir endlich einen Titel verleihen. Mit der vierten Auflage unserer jährlichen »Best of Feuilleton« ist der beste Artikel des vergangenen Jahres deshalb:

Der Goldene Maulwurf (The Golden Mole)

Der Maulwurf war schon immer unser Wappentier, und so wie den Dunkelmann des Feuilletons wollen wir die besten Autoren und deren Texte preisen und verherrlichen.

Der Goldene Maulwurf ist eine virtuelle Auszeichnung. Es gibt kein Preisgeld, keinen Maulwurfs-Pokal, kein Anschreiben an die GewinnerautorInnen. Nur beste Gesellschaft in unserem Top-Ten-Reader. Plus unsere vollkommen subjektive Behauptung, dass es einen besten Feuilleton-Text des Jahres gibt.

Warum überhaupt eine Feuilleton-Meisterschaft

Feuilleton-Autoren schreiben in einer Halbwelt. Ihr Schreibgegenstand, »die Kultur«, ist zwar kein Geheimnis, ihre Namen allerdings merkt man sich, wenn überhaupt, oft erst nach hundertmaligem Lesen. Wenn Autoren allmählich zu Lieblingsfeuilletonisten werden, dann sind sie keine austauschbaren »Kultur- und Medienjournalisten« mehr, sondern Stilisten, die den Ton einer ganzen Zeitung prägen können.

»Der Goldene Maulwurf«, der dem Namen nach auch ein Vereinspreis der Schädlingsbekämpfer sein könnte (hehe), kommt nach einem Jahr besessenen Wühlens in einem Berg alter Zeitungen morgen früh endlich wieder ans Licht.


»Harzreise im Sommer«:
Gustav Seibt auf der Suche nach Andacht

London, 20. Juni 2008, 07:28 | von Paco

AAACHTUNG! Ich bin Gustav Seibt und suche Andacht! Und Kuchen! Im Osten! Das scheint das Motto des Autors zu sein. Es geht um den reportageartigen Artikel »Harzreise im Sommer«, der in der S-Zeitung vom 9. Juni veröffentlicht wurde (S. 11). Er ist leider mal wieder nicht im Netz, nur beim Perlentaucher, im DLF-»Fazit«, auf Spreeblick und in der »jungen welt« gibt es Spurenelemente des Textes.

Seibt war in osteutschen Kirchen unterwegs, vor allem in »Sachsen-Anstalt« (Oliver Kalkofe) und Brandenburg, und beschreibt nun seine Abenteuer. Leider ist seine Studie nicht religionssoziologisch unterfüttert: Dass die DDR nun mal im protestantischen Kernland stattfand und das eben Folgen hatte, scheint ihm entgangen zu sein, und daher klingt sein Text wohl auch so verschnupft. Es ist auch unklar, an wen er jetzt genau gerichtet sein soll, es handelt sich eher um einen langen pingeligen Eintrag ins Gästebuch ostdeutscher Hotels, Kirchen und Museen.

Die Überschrift

Gabriel, der Überschriftenerfinder, von dem hier ab und zu die Rede ist, fiel der Text schon wegen der selten misslungenen Überschrift auf: »Für SZ-Verhältnisse ein schlimmer Fauxpas.« Sowas hatte er noch nie gesagt.

»Harzreise im Sommer«, das spielt natürlich auf Heinrich Heines »Harzreise« an und gleichzeitig aber irgendwie auch auf dessen »Deutschland, ein Wintermärchen«. Offenbar hat der zuständige Überschriftenredakteur diese beiden Dinge durcheinandergebracht. Denn Heine unternahm seine Harzreise im September 1824, also irgendwo zwischen Spätsommer und Herbstanfang. »Harzreise IM SOMMER« suggeriert nun aber, dass irgendjemand Berühmtes mal eine »Harzreise im Winter« unternommen hat, was ja nicht der Fall ist.

(Edit: An alle Seibtologen! Der gerade gelesene Witz wird in den Kommentaren so halb erklärt – thanks to our all-too anonymous readers. Der Spaß hat auch mit den »10 Sekunden Googeln« zu tun, um die es hier gleich noch geht.)

Auf lustig geschrieben

Zurück zum Text. Seibt beschwert sich an mehreren Stellen über den Eintritt, der in vielen Kirchen zu entrichten ist. Er stellt das als ostdeutsches Phänomen dar. In Italien, nur mal als Beispiel, kann man aber auch öfters ordentlich was bezahlen für eine Kirchen­besichtigung, teilweise sogar doppelt, wie Niklas Luhmann mal irgwendwo in einer Fußnote berichtet hat.

Seibts Text ist trotz des vorherrschenden Unmuts auch erkennbar auf lustig geschrieben:

»Sachsen-Anhalt bezeichnet sich auf Schautafeln am Wegrand als ›Land der Frühaufsteher‹, das aber heißt: Kirchen und Museen schließen dort einvernehmlich um 17.00 Uhr, es gilt der Stundenplan des Kollektivs, ausgeschlafen wird nicht, und am Abend herrscht die Ruhe der Toten. Andacht am Feierabend ist nicht vorgesehen.«

Also DDR-Relikte-Bashing, und warum auch nicht, das kann Gustav Seibt ja auf jeden Fall machen. Nur stimmt es nicht mal, was er schreibt. Jetzt werde ich zwar etwas pfennigfuchsig, aber schon 10 Sekunden Googeln bringen ans Licht, dass die Dome in Magdeburg, Merseburg, Naumburg und Quedlinburg länger geöffnet haben, außerdem die Hallenser Laurentiuskirche, St. Bonifatius und St. Marien in Bernburg, St. Peter und Paul in Dessau, um nur mal eine Handvoll zu nennen. Die 10 Sekunden Googeln hätten die gesamte Textstelle zunichte gemacht, denn »17 Uhr« klingt einfach untouristischer und muss eben die Stoßrichtung des Textes stützen.

Okay, vielleicht schießen die gegoogelten Schließzeiten etwas übers Ziel hinaus, aber man kann schon mal darauf hinweisen, dass es ein wenig unlauter ist, aus einem allgemeinen ein ostdeutsches Phänomen zu machen. Als Abgleich wieder der Blick nach Italien, wo Kirchen oft nur bis 13.00 Uhr geöffnet haben, und das war’s dann für den ganzen Tag. Let’s call it Entchristiani­sierung, wie Seibt das tut, hehe.

Dann noch zur Kuchenepisode:

»Jeder französische Kleinstadtbäcker würde vor Scham im Boden versinken vor dem, was im Harz als ›selbstgemachter Kuchen‹ angeboten wird: ein labberiger Fertigboden mit Erdbeeren belegt und von einer dicken Gelatineglasur geschmackstötend zugekleistert.«

Über diese Stelle hat sich schon das DLF-»Fazit« mokiert, ich kenne aber mindestens zwei Leute, die Fans dieser Textpassage sind. Alles in allem ist Seibts Unmutstext ein würdiger Kandidat für den besten schlechten Text des Jahres, so wie weiland Christine Dössels Lawinky-Porträt.

Übrigens scheint Seibt doch ab und zu auch ein Freund ostdeutscher Landpartien zu sein, mir fällt da spontan sein Artikel vom letzten Jahr ein (SZ, 6. 9. 2007), der zwischen Wittenberg und Weimar die »Toskana« Deutschlands ausmachte. Da war er entschieden besser gelaunt im Mitteldeutschen unterwegs, schrieb aber auch nicht über Kirchen und ihre Öffnungszeiten.


Die FAS vom 18. 5. 2008:
Indianer, Girlsreihe, Dalai Lama

London, 20. Mai 2008, 09:01 | von Dique

Peter Richter rezensiert ein Buch über die weit verbreitete Lust vieler Ostdeutscher am Indianerspielen (S. 30). Anscheinend wurde da schon in den 50er-Jahren mit selbst gebastelten Knarren herumge­ballert. Das Begleitfoto zeigt dann auch ein Indianerzeltlager mit untergemischten Trabbis.

Mich erinnert das an die »Seinfeld«-Folge »The Burning« (9.16), in der sich Kramer und Mickey als Schauspieler für Krankheitssymptome verdingen, damit ein paar Medizinstudenten an ihnen üben können. »The Burning« ist vollgepackt mit Dialogfeuerwerken wie diesem:

Jerry: What’s with the fake sneezing?
Kramer: Yeah, we’re going down to Mt. Sinai Hospital. See, they hire actors to help the students practice diagnosing.
Mickey: They assign you a specific disease and you act out the symptoms. It’s an easy gig.
Jerry: Do medical schools actually do this?
Kramer: Well, the better ones. Alright, let’s practice retching.
Kramer & Mickey: Huaaahh!!

Als die Krankheiten verlost werden, bekommt Kramer »gonorrhea« zugeteilt, also Tripper. Er zeigt sich anfänglich etwas enttäuscht von seiner Krankheit, wird aber von Seinfeld auf eine Idee gebracht, als dieser in einer Konversation »showmanship« erwähnt: »Showmanship. Maybe that’s what my gonorrhea is missing.«

Weil er »seinem Tripper« so ein Eins-A-Showmanship verpasst hat, fällt ihm von da ab ständig die »gonorrhea« zu – Kramer wird typecast.

Peter Richter erscheint auch immer ein bisschen getypecastet, quasi als Ostberichterstatter der FAS. Dass er diese Themen macht, ist ein Glück. Er ist der erste und einzige, der sie immer locker und mit Laune rüberbringt, auf jeden Fall ohne dräuende Stasigrundierung oder dergleichen. Dabei springen immer wieder tolle Artikel heraus, showmanship ist eben alles.

Ich bleibe gleich mal im Osten, auf S. 27 tanzt das Ballett des Friedrichstadtpalastes, und mir wird himmelangst. Eleonore Büning, die offenbar neue Musikredakteurin der FAS (vgl. Die Dschungel), weiß um solche Ängste und beginnt den Artikel gleich mal so:

»Ich war wieder im Friedrichstadtpalast. Nee, oder? Mitleidig bis sorgenvoll sind die Blicke der Nachbarn, Kinder, Freunde und Kollegen.«

Und dann geht es auch schon los und ich fühle mich lächerlich in meiner Ignoranz. Von vierundsechzig exakt in die Luft gestreckten Mädchenbeinen ist die Rede, und das ist erst der Anfang. E. B. spricht hier übriges von der professionell getanzten »Girlsreihe«.

Dieses Wort taucht mehrfach auf im Text, Girlsreihe, was für ein Wort, bei Google bekommt man darauf im Moment gerade Mal 81 Hits. Das liegt sicher auch daran, dass die »Girlsreihe« ausstirbt. Laut Büning gibt es nur noch drei passable, in Paris, Las Vegas und eben in Berlin.

Der Text ist ganz wunderbar, Nominierungsgefahr liegt in der Luft. Die Autorin berichtet von 5 Musikveranstaltungen, angefangen bei der Revue im Friedrichstadtpalast, über Neuenfels‘ »Tannhäuser« in Essen bis hin zum Kabukitheater im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Diese 5 Events gehören nicht etwa irgendwie zusammen, nein, sie fanden separat und autark statt. Deren Synopsis funktioniert aber wohl gerade deshalb so wunderbar, weil sie den Text so kontrastreich macht.

Von der Startseite des Feuilletons grüßt es übrigens knallrot. Nein, nicht schon wieder Cindy McCain. Dreimal sieht man da den Dalai Lama hocken, wie er sich gerade einen roten Sonnenschutz auf den Kopf montiert.

Ich hätte mir den Text von Nils Minkmar (S. 25) fast gespart, Übersättigung. Ich fing dann doch noch an zu lesen, zum Glück! Es geht viel um Dämonen, Schutzgeister und Orakel. Der Dalai Lama redet sich in Rage, weil vor der Tür Anhänger des Schutzgeistes Shugden demonstrieren, und mit Shugden ist anscheinend nicht zu spaßen.

Vor verdutztem westlichen Publikum redet sich der Dalai Lama also über diesen Schutzgeist in Rage, und im Publikum staunen Veronica Ferres, Peter Maffay und Liz Mohn.

Hier können wir noch mal zu Peter Richter schalten, der in seiner Indianerbuchrezension schreibt:

»Hier saß Karl May in seiner sächsischen Enge und träumte sich in die Prärien, die damals in Deutschland gerade zur Projektionsfläche wurden für ein Bild von Indianern, in dem sich uralte Weisheit und kindliche Unschuld, moralische Über- und militärische Unterlegenheit die Friedenspfeife reichten (also das, wofür im Augenblick die Tibeter zuständig sind).«


Antike und Milchkaffee

Leipzig, 16. Mai 2008, 17:28 | von Paco

Ich lag auf der Wiese hinter dem Institut und las alte SZs. Ich hatte gerade voller Enthusiasmus den Hammerartikel von Johan Schloemann über die Antike und uns beendet, als mir Millek entgegenplauzte. Er musste über einen Maulwurfshügel gestolpert sein und kippte nun seinen noch bis obenhin gefüllten Milchkaffee gründlich über den Artikel:

Johan Schloemann: Antike für Anfänger. Kompensation, Archaik, Geheimnis: Das Altertum boomt. Aber welches Altertum ist dabei eigentlich gemeint? In: Süddeutsche Zeitung, 19./20. 4. 2008, S. 14.

Das vergossene Kaffeeblut passt sehr schön zu der Passage in der ersten Spalte des Artikels, wo von den »urtümlichen Formationen der Gewalt« die Rede ist, die uns im Moment in Kino-, TV- und Roman-Produktionen so fasziniert.

Wie auch immer. Während im Hintergrund das leise Kichern unseres maulwurfigen Wappentiers verhallte und die Zeitung in der Sonne trocknete, zerfetzten wir uns über diesen essayistischen Handkantenschlag, der definitivamente ein Top-10-Kandidat ist.

Bisher wurde oft nur konstatiert, dass wir ja alle »kleine Möchtegern-Römer« (Andreas Kilb) sind. Warum das aber so ist, warum das seit hunderten von Jahren so ist, warum das gegenwärtig wieder so aktuell ist: All das beantwortet Schloemann in seinem Text, der von der S-Zeitung »gekürzt und bearbeitet« wiedergegeben wird.

(Wo wir grad dabei sind: Gekürzte Versionen von Vorträgen, die auf irgendwelchen groß angelegten Philologen-, Historiker- oder Sonstwas-Kongressen gehalten worden sind, bilden einen wichtigen Aspekt des momentanen Feuilletons.

Nicht immer sind diese Kurzfassungen intelligent gekürzt. Oft verursachen die Zusammenstreichungen einige Leerstellen und Ungereimtheiten oder Abschwächungen von Thesen. Doch bei dem redaktionell bearbeiteten Schloemann-Artikel merkt man davon nichts. Der hat Bestand auch ohne dass man die Langfassung kennt.)

Warum also verherrlichen wir HBOs »Rome«, warum die alte BBC-Serie »I, Claudius«, warum die Comicverfilmung »300«? (Da wir mit San Andreas einen Fundamentalkritiker dieses »Scheißfilms« an Bord haben, muss ich darauf hinweisen, dass man diesen Film auch anders sehen kann, nicht aber die beiden erstgenannten Serien.)

Die Antwort gibt Schloemann mit einer ganzen Reihe von Thesenbruchstücken inkl. schlüssiger Beispiele. Die vor ein paar Tagen in der Rhône bei Arles gefundene marmorne Cäsar-Büste kannte Schloemann dabei noch gar nicht, aber sie eignet sich perfekt als weiteres Exempel seiner Thesen:

»Wir laufen eifrig Nachrichten hinterher, die uns vermelden, dass irgendwo in den früheren Provinzen des Römischen Reiches ein neuer Marmorkopf (…) gefunden wurde. Das ist schön für jeden Archäologen, aber kurios daran ist, dass sich gleichzeitig die großartigsten Kunstwerke der Antike, die in den städtischen Sammlungen unserer Museen stehen, kaum jemand anschaut.

(…) Die Entdeckung verschafft eine willkommene Entlastung von der Tradition. Denn im Moment des Auffindens von Unbekanntem nehmen der Entdecker und das Publikum eine Zeitlang dieselbe Stufe ein, sie verschmelzen. Die Distanz zwischen Kennerschaft und versäumter Bildung ist aufgehoben; der Experte und die Laien können gemeinsam staunen wie die Kinder; und das schlechte Gewissen, das wir alle wegen mangelnder Belesenheit haben, verfliegt.«

Usw.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 6):
David Bauer über Internetwillige

Leipzig, 7. März 2008, 08:03 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 6:

David Bauer: Anschluss gesucht (SonntagsZeitung, 3. 2. 2008)

In der Schweizer SonntagsZeitung vom 3. 2. 2008 gab es im »Multimedia«-Teil (S. 100) eine kleine Reportage von David Bauer, deren Thema so geht:

»Wie ist das eigentlich, wenn man vom Internet keine Ahnung hat? Zu Besuch in einem Kurs für Anfänger«

Der Text ist auf der Homepage des Autors noch zugänglich.

Es gibt darin natürlich die Noob-Anekdoten, die man erwartet: »Vorne fragt eine Frau, ob E-Mailen gefährlich sei«. Es gibt aber auch eine Passage wie die Folgende, die schon fast poetische Züge trägt: »Daniel schreibt eine E-Mail. Zum ersten Mal in seinem Leben.«

Die Idee der Mini-Reportage fand ich sofort interessant und zwingend. Die vielen kleinen Biografiedetails der Kursgänger verdichten sich trotz des eher amüsierten Unterton zu einem exemplarischen Text über das Altern und die Angst, den Anschluss zu verlieren.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 5):
Andrian Kreye über schießende Amerikaner

Leipzig, 6. März 2008, 08:50 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 5:

Andrian Kreye: »Freiheit, die sie meinen« (SZ, 19./20. 1. 2008)

Dieser Artikel über US-Amerikaner und ihre Feuerwaffen stand im »Wochenende«-Teil der S-Zeitung und kam zur Abwechslung mal angenehm unhysterisch daher. Der Teasertext geht so:

»Warum wir das Verhältnis der Amerikaner zu Feuerwaffen nicht verstehen, das aber gerade in einem Wahljahr tun sollten.«

Kreye war dann auch wirklich mal in einem Schießverein und hat sich, auch als »humanistisch gebildeter Europäer«, von einem NRA-Mann einweisen lassen und auf die »Primary Targets« eines Pappkameraden gezielt. Sehr passend ist sein Exkurs über Raptexte, die von bestimmten Waffen handeln. Unvergessen natürlich »It’s been a good day« von Ice Cube:

Today I didn’t even have to use my AK
I got to say it was a good day

Gemeint ist natürlich die AK-47 (die ja übrigens auch u. a. in der Flagge Mosambiks Verwendung findet). Kreye bleibt übrigens dabei: »Natürlich gibt es keinen vernünftigen Grund, als Privatperson eine dieser Waffen zu besitzen.« Er vergisst auch nicht, die Opferzahlen von Gewaltverbrechen mit Feuerwaffen zu nennen, nachdem er die US-Waffennarretei aus dem 2. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung von 1791 hergeleitet hat.

Letzte Passage: »Und wir Europäer? Wir müssen diesen Freiheitsbegriff nicht gut finden. Wir müssen ihn nur verstehen.« Kreye zeigt hier mal die andere Seite einer eingefahrenen Berichterstattung, ähnlich wie damals Jochen Bittner mit seinem »Zeit«-Artikel über deutsche George-W.-Bush-Fans (17. 2. 2005). Sowas kann man von einem wagemutigen Feuilleton ruhig ab und zu erwarten.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 4):
Melancholie Modeste über Friedrich Sieburg

Leipzig, 3. März 2008, 07:31 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 4:

Melancholie: Modeste: »Ein zum Rühmen Bestellter«
(modeste.twoday.net, 3. 2. 2008)

In ihrem Blog hat M. M. über Friedrich Sieburg geschrieben – und zwar eben mal ohne äußeren Jubiläumsanlass. Das heißt, der Schreibanlass war einfach der, dass sie die Bücher irgendwann mal gelesen hatte.

MRR meinte, dass der Kritiker Friedrich Sieburg deshalb so schnell nach seinem Tod (1964) vergessen worden sei, weil er sich nie über die relevante Literatur nach ’45 gekümmert hätte. Die Modeste meint nun, dass gerade wegen der Missachtung der langweilenden Gruppe-47-Literatur Sieburg eigentlich wieder aktuell sein könnte.

Sie bezieht das vor allem auf seine Franzosen-Biografien (Robespierre, Chateaubriand, Napoleon), vergisst aber auch nicht, das Schreckliche seines Stils noch mal für alle eindrucksvoll auszuformulieren, und dann fällt ihr noch dieser schöne Satz ein: »Wer an Stefan Zweigs Biographien nichts als den allzu schlamperten Stil bemängelt, wird mit Sieburg glücklich werden.« Wir alle wissen, was gemeint ist, hehe.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 3):
Peter Urban-Halle über dänische Literatur

Leipzig, 2. März 2008, 08:12 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 3:

Peter Urban-Halle: »Der Krimi soll’s richten« (NZZ, 7. 1. 2008)

Warum soll man gleich noch mal die NZZ lesen? Zum Beispiel wegen der Artikel, in denen die literarische Lage einer Region ganz kurz mal eben ausführlich beschrieben wird. Vor zwei Wochen gab es einen gründlichen Artikel über Slowenien (von Wilhelm Baum), und einen Monat davor war dieser kritische Artikel über die dänische Gegenwartsliteratur erschienen.

Wenn in Dänemark im Moment offenbar keine ›echten‹ Schriftsteller erwähnenswert sind, dann könnte man ja wenigstens über die Krimiautoren reden. Peter Urban-Halle meint aber, dass sich wegen der mangelnden literarischen Qualitäten auch das nicht lohne. In Zeiten des skandinavischen Krimi-Booms kriegt es Dänemark irgendwie nicht auf die Reihe, davon zu profitieren.

Insgesamt polemisiert er recht unterhaltsam, etwa gegen die Werke von Stig Dalager, »deren Weltgewandtheit sich darin äussert, dass sie den Kalender nach interessanten Daten durchschauen und danach politisch korrekte Bücher verfassen, den Roman zum Jahrestag sozusagen«.

Neben Heimat und Mythos sei vor allem auch der Körper ein urdänisches Thema, mittlerweile aber eben eher als Obduktionsobjekt im nordischen Kriminalroman. Von der Verknüpfung dieser drei Themenkreise innerhalb eines Krimis verspricht sich P. U.-H. allerdings ein »Literaturfest«. Im Moment scheint die dänische Literatur sowas dringend nötig zu haben.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 2):
Peter Richter und das Rap-Manifest

Leipzig, 1. März 2008, 08:21 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 2:

Peter Richter: »Kannst du stecken lassen« (FAS, 20. 1. 2008)

Ok, Verrisse sind einfacher zu schreiben als Hymnen; soweit die Ergebnisse der weltweiten Feuilleton-Forschung. Trotzdem muss man es können, auch ein Verriss braucht einen Stil.

Peter Richter hat das als Ostpunk des deutschen Feuilletons gut drauf, zuletzt wieder zu sehen bei seinem passgenauen Verriss des Pirmasens-Rappers Massiv. Wer auch immer jetzt noch etwas dazu schreibt, hat nicht gemerkt, dass das Thema nach Richters Artikel gegessen ist fürs Feuilleton. Massiv ist ab jetzt der »dicke Jungen, der die Treppe nicht hochkommt«.

Darüber hinaus ist der Artikel ein Manifest für die Berichterstattung über Rap. Wer in Zukunft irgendwas über deutschen what-so-ever Gangstarap schreibt: Bitte diesen Text vorher lesen. Um einen Unterschied machen zu können zwischen Provokation und Thema, zwischen der Perpetuierung der »stumpfsinnigsten, reaktionärsten und langweiligsten Werte« und diskutablen Texten.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 1):
Renate Meinhof über Jauch-Fans in Tel Aviv

Leipzig, 29. Februar 2008, 07:09 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 1:

Renate Meinhof: »Eine Sendung Sehnsucht« (SZ, 4. 1. 2008)

Die Autorin unseres Feuilleton-Lieblingsartikels 2007 hat nachgelegt: Wieder eine fantastische »Seite Drei«-Reportage in der S-Zeitung, diesmal über einige Rentnerinnen in Tel Aviv, die nach 60 bzw. 70 Jahren zurückliegender Emigration Kontakt zu Deutschland und ihrer Muttersprache Deutsch halten – durch Einschalten der Günther-Jauch-Rateshow »Wer wird Millionär?«

Meinhof schildert die vormittäglichen Kaffeekränzchen, die die herrlichen alten Damen im Jeckes-Treffpunkt »Café Mersand« abhalten, um die letzte Folge ihrer Lieblingssendung zu besprechen. Mit dem Besuch des tatsächlichen Jauch hat die Geschichte auch einen unerwarteten Höhepunkt.

Das Bemerkenswerte ist: Unter der Hand erzählt die Autorin die Überlebensgeschichten ihrer Protagonistinnen. Und wie sie diese beiden Welten verbindet, den Holocaust und die RTL-Rateshow, wie sie immer wieder hin und her schaltet, das ist gewagt, aber gut gelungen. Ähnlich wie der alte Wagnerianer wollen einem die Günther-Jauch-Damen nicht mehr aus dem Kopf.

Übrigens, dass Renate Meinhof da ein überbordend interessantes Thema gefunden hat, bestätigt die Berliner Zeitung, die vor ca. zwei Wochen einen ähnlichen Artikel veröffentlicht hat. Der Autorin Charlotte Misselwitz geht es darin vor allem um die Nachfahren der Jeckes, die sich zu späterer Stunde im »Mersand« herumtreiben. Aber am Ende kommt auch sie nicht darum herum, die Jauch-affinen alten Damen zu erwähnen.