Kaffeehaus des Monats (Teil 61)

sine loco, 2. April 2011, 12:50 | von Austin

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Das Kaffeehaus Michaelis in Chemnitz, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Chemnitz
Das Kaffeehaus Michaelis am Düsseldorfer Platz.

(Lange war es weg, genau ein halbes Jahrhundert, nun ist es wieder da: das Café Michaelis in Chemnitz. Und viele der alten Gäste, das kann man sagen, haben auf diesen Moment gewartet. Seit der Wiedereröffnung vor ein paar Wochen ist es täglich randvoll, und ganz zu Recht: Hier herrscht das größte Tageszeitungsangebot in ganz Südwestsachsen, im Erd­geschoss gibt es eine Unisextoilette, genau wie im »Berghain«, und die Baumkuchentorte ist hervorragend. Es ist auch keine Eile geboten, dieses Mal wird das Michaelis bleiben.)
 

Die Blinky-Palermo-Ausstellung in Münster

Münster, 30. März 2011, 15:15 | von Paco

»Coffee, Coffee muss ich haben«, heißt es ja in Bachs Kaffeekantate, und so sitze ich nach dem Essen mit ein paar Leuten von der Research Unit 3 im »fyal«. Es geht immer noch um dieselben Dinge wie vorhin am Tagungsvormittag, ich höre nur halb hin, und dann klingelt mein Handy. Ich entschuldige mich nach draußen, aber das Telefonat ist dann eigentlich auch gleich beendet.

Ich bin beim Sprechen ein bisschen Richtung Dom gelaufen und schaue jetzt nach links. Da wird am Landesmuseum für die Blinky-Palermo-Ausstellung geworben. Ach ja, genau, ich hab darüber mindestens drei Teasertexte gelesen (ZEIT/dpa, SP*N, …), aber leider heute wegen der Tagung keine Zeit. Wobei. Ich hole mir einfach mal ein Ticket und gehe die Treppe hoch ins 2. Obergeschoss.

Palermo ist ja ein ziemlicher White-Cube-Fetischist gewesen, auch die acht Ausstellungsräume hier wirken schön leer und übersichtlich. Über der Eingangstür von Raum 1 prangt gleich diese berühmte, berüch­tigte, bezirzende Ad-hoc-Wandmalerei, das leuchtende »Blaue Drei­eck« von 1969, das hier von einem Mitarbeiter des Landesmuseums hingemalt wurde, unter Benutzung der von Palermo angefertigten Schablone.

SVG-Nachbildung des Blauen Dreiecks, aus dem Gedächtnis

Schon von Palermos rahmenlosen Bildobjekten wird ja generell be­hauptet, dass sie durch ihre Rahmenlosigkeit die gesamte Umgebung mit in sich aufnähmen. Der Titel der Ausstellung ist dahingehend auch programmatisch: »Who knows the beginning and who knows the end«, benannt nach zwei Werken, die in Raum 6 an der Wand pappen.

Vom »Blauen Dreieck«, das, wie gesagt, mesmerisierend in den Saal hinausstrahlt, wird im Erläuterungsheft sogar behauptet: »Zum Werk gehören der Türrahmen, die Wände, der Durchgang und letztlich das ganze Gebäude.« Wahnsinn, das ganze Gebäude, und ich lese es noch mal, und es steht tatsächlich so da.

Auch noch im Raum 1 hängt »Blau auf Grün« (Öl auf Nessel über Holz, 1965), eine satte Ladung ausgekipptes Blau, das aber unvollständig vermalt wurde und so die wiesengrüne Grundierung durchscheinen lässt. Das alles findet auf einer an den Ecken (außer unten rechts) abgerundeten Holztafel statt, es könnte sich um das Logo eines hippen TV-Senders handeln, aber ich bin schon weiter gegangen und mittlerweile in Raum 3 angelangt, da hängen die frühen Aquarelle, die auch zum ersten Mal mit dem mafiösen Künstlernamen signiert sind.

Denn mit seinem arg bürgerlichen Namen ›Peter Heisterkamp‹ könne er nichts werden, soll ihm Beuys gesagt haben, und heute erinnert der Name ja genau auch an Berthold »Ernie« Heisterkamp, den Körperschweiß-Nerd aus dem »Stromberg«-Büro. Und so steht jetzt also auf dem karierten Heftpapier unter ein paar Aquarellstrichen mit Bleistift geschrieben: »Palermo 1965«, und das ruft auch sofort eine Stimmung hervor, Palermo, Sizilien, Mafia, Sechzigerjahre, auch wenn ein anderes Aquarell qua Titel eher nach »Zeebrügge« führt.

Im selben Raum höre ich auch mal wieder den Museumsklassiker, Abteilung Moderne Kunst, hier heute gesprochen in schönstem Erasmus-Englisch: »What’s so special about these paintings, my dog could paint that!« Die skeptische Museumsbesucherin gibt das sehr laut bekannt, und es ist sehr faszinierend zuzuhören, wie ihr (deutscher?) Freund beschwichtigt und gegenredet und ihr die Blinky-Palermo-Kunst nahezubringen versucht, aber ich muss ja weiter, so langsam sollte ich auch mal wieder zurück ins »fyal«, also schnell durch Raum 4 durch und zu den Grafiken in Raum 5. Die klar gegen den weißen Grund abgegrenzten Flächen gleißen wieder intensiv, die Siebdrucke aus der Mappe »4 Prototypen« (1976) sehen aus wie eine rätselhafte iPhone-App.

Raum 6 hab ich ja schon erwähnt, hier hängen Werke aus Palermos letzten Monaten, 1976/77, der Farbauftrag ist meist sehr flüchtig, als ob ihm die Farbe ausgegangen wäre. In der Jonathan-Meese-Doku »Die Ameise der Kunst« war mal zu sehen, wie sich der Zottelkünstler im Malerbedarf tonnenweise mit wahllos zusammengesuchten Farbeimern eindeckt (hier ab Min. 7:20). Ein einziger Meese-Einkauf hätte Palermo wahrscheinlich für sein ganzes Lebenswerk gereicht.

In Raum 7 dann ein weiteres intensives Farberlebnis, vier hell leuchtende Acrylmalereien auf Alu-Tafeln. Die haben wieder etwas Logohaftes, könnten Desktop-Icons sein, und überhaupt eignete sich Palermos Werk wahrscheinlich auch sehr gut für Slideshows auf Smartphones, ganz im Gegensatz etwa zu hingeprunkter Barock- oder Renaissancemalerei (zu kleinteilig).

Im Durchgang zu Raum 8 liegt in einer Vitrine die Original-Schablone für das »Blaue Dreieck«, und zwar samt Anleitung: »Malen Sie mit Hilfe der Schablone ein / blaues Dreieck über eine Tür. Ver- / schenken Sie dann das Original Blatt. / Palermo / August 1969«.

Im abschließenden Raum selbst hängen noch ein paar schöne Lithografien und Siebdrucke, aber ich schaue schon gar nicht mehr richtig hin und verlasse dann recht bald das Museum. So eine halbe Stunde wird das jetzt gedauert haben, schätze ich, und als ich mich im »fyal« wieder an unseren Tisch setze, fragt mich der neuseeländische Doktorand: »Everything alright?« Und er meint eventuell das Telefonat, wegen dem ich ursprünglich den Tisch verlassen habe, aber ich bewerte subtextuell gleich auch noch die Ausstellung mit: »Yeah, very much so.«

Das oben zu sehende blaue Dreieck ist eine Nachbildung aus dem Gedächtnis in Form einer SVG mit folgenden Werten:
<polygon points="50,10 10,50 90,50" fill="#0000ff" />
 

Nach 15 Coen-Filmen: Grafik-Update

Hamburg, 28. März 2011, 07:43 | von San Andreas

Ok, »True Grit« ist verarztet, jetzt noch schnell das Grafik-Update. Das vor einem Jahr hier veröffentlichte Diagramm ist mit Coen-Brothers-Film Nr. 15 ja überholt, wir mussten auch den Maßstab ändern, weil »True Grit« so einen through-the-roof-Erfolg hatte.

Und wie schon gesagt, die Quantifizierung der Coens ist ein ziemlicher Frevel, hehe, aber wer eben eine schöne Übersicht über die nunmehr 15 Filme haben möchte, so könnte sie aussehen (auf die Grafik klicken zum vergrößern, lizenziert unter der CC by-sa 3.0):
 

Alle bisherigen 15 Coen-Filme, grafisch dargestellt (Stand: März 2011)
Die 15 Coen-Filme: Einspielergebnisse (Box Office Mojo),
Userwertungen (IMDb), Tenor der Kritik (Rotten Tomatoes)

 
In der Top 250 der IMDd ist »True Grit« im Moment nicht zu finden, mal abwarten. Die drei dort vertretenen Coen-Filme sind im Vergleich zu letztem Jahr übrigens ein wenig umplatziert worden:

118. Fargo   (+/–0)
121. No Country for Old Men   (–10)
135. The Big Lebowski   (+6)

Und jetzt warten wir mal alle auf den Coen-Film Nr. 16.
 

Coen-Film Nr. 15:
True Grit (2010)

Hamburg, 25. März 2011, 07:12 | von San Andreas

(= Fortsetzung unserer ewigen Coen-Retrospektive.)

True Grit (Icon)

Arkansas, 1878. Die 14-jährige Farmerstochter Mattie Ross will Tom Chaney, den Mörder ihres Vaters, dingfest machen. Dafür heuert sie den schneidigen wie trinkfesten Marshal Cogburn an. Auf ihrem Weg durch das Land der Choctaw begleitet sie Texas Ranger LaBoeuf, der Chaney aus anderen Gründen sucht. Selbiger hat sich mittlerweile der Bande von Lucky Ned Pepper angeschlossen, mit dem Cogburn noch eine Rechnung offen hat.

Coen Country. Arkansas stellt kaum prototypisches Western-Gelände dar, auch wenn hier damals die Frontier verlief. In westlicher Richtung – und dahin führt die Jagd auf Tom Chaney – schließt sich das ›Indian Territory‹ an, das für weiße Siedler verboten war und heute Oklahoma heißt. Das Gebiet bietet kaum Schauwerte, aber auch das ist der sogenannte Wilde Westen, dessen Idiosynkrasien die Coens dankbar in ihr Universum aufnehmen.

Coen Klüngel. Jeff Bridges (Rooster Cogburn), Josh Brolin (Tom Chaney), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Bold talk for a one-eyed fat man!« (Ned Peppers Beitrag zur Rubrik »Berühmte Letzte Worte«)

Coen Gold. Die surreale Begegnung mit dem Zahnarzt im Bärenkostüm. Die Szene gibt es nicht in der Romanvorlage, sie wurde allerdings nicht um ihrer selbst willen im Film platziert: Mattie und Rooster erfahren durch den Bärenmann von der Hütte am Fluss, darüber hinaus repräsentiert er das Fremde und Unberechenbare dieses Terrains, das für Mattie ja Neuland ist. So sind Leichen offenbar ein Handelsgut wie jedes andere auch. Den Gehenkten, den er bei sich führt, hat sich der Mann für »two dental mirrors and a bottle of expectorant« von den Indianern erkaupelt. Nicht zuletzt verschafft die Szene ›comic relief‹, wenn Cogburn, eigentlich den versprengten Texas Ranger erwartend, den reitenden Bären anraunzt: »You are not LaBoeuf!«

Classic Coen? Eigentlich können Joel und Ethan Coen machen, was sie wollen: Ob sie nun einen eigenen Stoff verfilmen oder ein Stück Literatur adaptieren, man darf stets Großes erwarten. Wie schon bei »No Country for Old Men« stellen sie sich in den Dienst der Vorlage, erfühlen ihre Substanz, transportieren sie ohne Auteur-Allüren, mit Präzision und Hingabe und einem tiefen Verständnis dafür, wie ihre Charaktere funktionieren. »True Grit« ist zuallererst eine fantastische Literaturverfilmung, nebenbei ein großer Western und erst in dritter Instanz das, was man einen echten Coen nennt.

Der Film will dezidiert nicht als Remake von Henry Hathaways Version von 1969 gesehen werden (seinerseits ein Klassiker und ein ganz guter Film), sondern als Neuverfilmung des Romans von Charles Portis (die deutsche Ausgabe trug – zur Freude aller Alliterations-Fans – den Titel »Der Marshal und die mutige Mattie«). Aber es ergibt dennoch Sinn, die beiden Werke miteinander zu vergleichen. Schließlich liegen dazwischen vierzig Jahre Kinogeschichte: Wie packen Filmemacher von heute dieselbe Geschichte an, welche Entscheidungen treffen sie wohl in punkto Ästhetik, Narrativik, Besetzung und Mise-en-scène?

Was Letzteres betrifft, könnten die Filme unterschiedlicher nicht sein. Hathaway filmt in den Rockies von Colorado, ergötzt sich an pittoresken, aufgeräumten Breitwandlandschaften, schwenkt genießerisch über felsige Hänge, rauschende Täler, glitzernde Bäche. So hatte ein Western damals auszusehen.

Die Coens begeben sich an Orte, die den Schauplätzen des Buches schon eher entsprechen. Ihr Film treibt sich in den unwirtlicheren Gefilden des damaligen ›Indian Territory‹ herum, trottet durch kahle Winterwälder, über graubraune Prärie, klettert in klammes, schneeverwehtes Karstgelände. Ungemütlich. Der Himmel ist grau, und wenn er nicht grau ist, ist er schwarz, denn es ist Nacht.

Der Coen’sche »True Grit« ist dunkel und düster, seine Bilder wollen keine Postkarten sein, sondern Daguerreotypien, monochrom, historisch und wahrhaftig. Aber auch nicht zu wahrhaftig, wohlgemerkt, nicht dogma-echt, nicht zufällig oder improvisiert. Die Tristesse hat Methode; Kamerazauberer Deakins fabriziert ausgewogene Available-Light-Einstellungen, so authentisch wie atmosphärisch, staffelt Grau- und Braunpaletten in die Dunkelheit hinein, dass Rembrandt seine Freude gehabt hätte.

Diese Art wohlkalkulierter Wahrhaftigkeit erfüllt alle Ecken und Winkel des Films. Man betrachte sich nur einmal die Szenen, die an und in der Hütte spielen, in der Quincy und Moon sich verschanzt haben. Hathaway setzt sie detailreich in Szene, von praller Sonne ausgeleuchtet und Schritt für Schritt, fast theatralisch, mit Dialogen, die die Beteiligten rezitieren, als hätten sie sie gerade frisch auswendig gelernt. John Wayne verzichtet auf keine übertriebende Geste und gibt den Macho-Marshal, einen Fuß lässig auf der Sitzbank abgestellt:

Cogburn: When’s the last time you saw Ned Pepper?
Quincy: I don’t remember any Ned Pepper.
Cogburn: Short feisty fella, nervous and quick, got a messed-up lower lip.
Quincy: That don’t bring nobody to mind. A funny lip?
Cogburn: Wasn’t always like that, I shot him in it.
Quincy: In the lower lip? What was you aiming at?
Cogburn: His upper lip.

Die Coens spielen ein anderes Spiel. Zunächst einmal knipsen sie das Licht aus: Die Belagerungsszene und auch die darauffolgende, in der die Pepper-Gang auftaucht, spielen in der Nacht. Das bedeutet eine geschlagene Viertelstunde Dunkelheit im Film, Licht spendet nur der Mond und eine Petroleumlampe.

Die Eskalation in der Hütte kommt in beiden Filmen schockierend. Hathaway spendiert Moon (dem jungen Dennis Hopper) eine ordentliche Sterbeszene, während die Coens vorher schneiden. Die Ankunft von Peppers Bande zeigen sie vollständig aus der Perspektive von Cogburn und Mattie, die auf einem Felsen auf der Lauer liegen und hilflos mit ansehen müssen, wie der ahnungslose LaBoeuf die Szene betritt und verletzt wird. Im Vergleich zu der allwissenden Drehweise Hathaways, die den Schurken Stimmen und Gesichter gibt, bleiben wir in der Subjektiven, starren mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und versuchen auszumachen, was zum Teufel da unten abgeht.

Das ist freilich haarsträubend spannend. Bemerkenswert an dieser Spannung aber ist, dass sie derlei simplen Umständen entspringt: Dunkelheit und Distanz. Umstände, die wiederum mit der Handlung zusammenhängen, nicht mit einer filmischen Konvention oder einem originellen Regie-Einfall. Es ist das Primat der Geschichte, dem die Regie sich gleichsam unterordnet und das diesen Film letztlich so überzeugend macht.

Konsequenterweise fällt das ordnungsgemäße Begräbnis, das Hathaway Quincy und Moon zuteil werden lässt, in der Coen-Version Cogburns nüchterner Pragmatik sowie der winterlichen Witterung zum Opfer: »Ground’s too hard. Them men wanted a decent burial, they should have got themselves killed in summer.«

Ein schroffer Klotz, dieser Cogburn, ein bärbeißiger, trinkfester Teufelskerl, dessen gurgelndes Gepolter sich erst bei genauem Hinhören als Approximation von Sprache entpuppt. Aber was er da auch absondert! Die Wortwahl und Mundart sämtlicher Grit-Figuren erscheinen heutigen Ohren gänzlich ungewohnt und antiquiert, ja im rauen Land der Choctaw Nation regelrecht deplaziert (»Gentlemen, you can not fall out in this fashion!«). Aber für die Frontier People war damals die Bibel die Fibel, und so können Joel und Ethan ihr Steckenpferd – authentische Dialekte – ordentlich auf Trab bringen. Angefangen mit dem fast schon traditionellen Eingangsmonolog bevölkern schwere Südstaatenakzente die Tonspur, archaische Phrasen ohne die Verkürzungen und Verschleifungen des modernen amerikanischen Duktus.

Der Richter und der Stallbesitzer hören sich jedoch anders an; als die einzigen Yankees im Film sprechen sie mit der Zunge der Nordstaaten. Die beiden zählen zu den sogenannten Carpetbaggers, die nach dem Bürgerkrieg (der zur Zeit der Handlung dreizehn Jahre zurückliegt, die Gräben sitzen noch tief) in den Süden gekommen sind, um sich auf Kosten der Unterlegenen zu bereichern. Details wie diese erscheinen nicht prominent im Film, aber ihnen wird Rechnung getragen, der Film lebt sein Sujet.

Dazu zählen auch die Texas Rangers, jene legendäre, ursprünglich für Aktionen gegen Indianer ins Leben gerufene lokale Polizeitruppe (die es übrigens heute noch gibt). Matt Damon als ein ebensolcher gliedert sich als Neuzugang mühelos ins Coenversum ein, und genauso mühelos überflügelt er die Leistung von Countrysänger Glen Campbell in der 1969er Version, der damals total hip war und den Erfolg des Films pushen sollte. Auch Elvis Presley war gefragt worden, aber sein Management wollte Top Billing.

Das ging natürlich nicht. Denn dort stand der Duke, dort stand John Wayne. Der Film wurde als Star-Vehikel auf den mittlerweile über 60-jährigen Haudegen zugeschnitten, und prompt bekam er auch einen Sympathie-Oscar zugesteckt (für »The Shootist«, seinen letzten Film sieben Jahre später, hätte er ihn verdient gehabt). Natürlich wurde Jeff Bridges’ Rooster Cogburn mit dem seinen verglichen, aber der Vergleich scheint müßig: Auf der einen Seite haben wir eine altgediente Leinwandlegende, einen charismatischen Helden, einen wahren Publikumsliebling, auf der anderen Seite haben wir – John Wayne.

Bridges wurde charakterisiert als »the most natural and least self-conscious screen actor that’s ever lived«, und ja: er scheint immer irgendwie er selbst zu sein, man hat kaum den Eindruck, sein Spiel wäre eine ›Performance‹. Das führt hier freilich dazu, dass man in dem verlottert-gelassenen Gehabe des Rooster Cogburn teilweise den Dude aufblitzen sieht. Aber wenn Cogburn dann im Wechselspiel mit Mattie Ross sein verschrumpeltes Herz offenbart, wächst die Figur doch zu einem echten, vielleicht sogar liebenswerten Menschen.

Apropos Mattie – ihr kommt wie im Roman die eigentliche Hauptrolle zu, und die 14-jährige Hailee Steinfeld ist als blitzgescheites, zähes Mädel punktgenau gecastet – spätestens mit ihrer forschen Verhandlung im Büro des verschlagenen Pferde-Yankees steckt sie den Film in die Tasche. Mattie ist es auch, die die Rahmenhandlung erzählt, und ihre letzten Szenen, Jahrzehnte nach der Geschichte mit dem Marshal, gestalten sich wie ein wehmütiger Abgesang auf den Western schlechthin. Mattie hat Cogburn niemals wiedergesehen (ebenso wenig wie wir) – sang- und klanglos starb er als Mitglied eines abgehalfterten Wild-West-Wanderzirkus.

Dieser Schluss-Sentiment mag ernüchternd sein, doch befördert er die Geschichte, die 1969 noch als buntes Abenteuer präsentiert wurde, in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang – ähnlich wie Sheriff Bells Grüblerei der Story von »No Country for Old Men« geradezu philosophische Dimensionen verliehen hatte. So kommt »True Grit« (2010) auf eigenen Beinen zu stehen: Ein Western, ja, aber kein astreines Genrestück. Eine Literaturverfilmung, ja, aber eine, die ihre fiktionale Natur zu bestreiten scheint. Ein Coen-Film? Ja, aber einer mit Understatement, mit selbstloser Klasse. Einer mit echtem Schneid.

Coen Culture. Im Abspann fällt neben den üblichen Verdächtigen ein Name auf, der bis dato im Coen-Camp noch nicht aufgetaucht war: Steven Spielberg; er zeichnet als Executive Producer verantwortlich. Auch Scott Rudin, ein brillanter Mann, der uns »There Will Be Blood«, »Fantastic Mr. Fox« und »The Hours« brachte (und für »No Country …« einen Oscar eingeheimst hat), wieder mit von der Partie. Solch illustre Produzenten zeigen, dass die Coens vollends in Hollywood angekommen sind. Beeinflusst das ihre Integrität? Roger Deakins wurde dazu befragt, und er meinte nur: »Steven Spielberg is a producer, I am told, but the film we are shooting is very much the Coen’s film – and nothing else.«
 

60 Dreifachrufe der Kulturgeschichte

Leipzig, 23. März 2011, 07:25 | von Paco

Yeah, Yeah, Yeah   (Walter Ulbricht)
Hopp, hopp, hopp!   (Carl Hahn)
Lernen, lernen, lernen   (Lenin)
Dran, dran, dran!   (Thomas Müntzer)
Shantih shantih shantih   (T. S. Eliot)

Reiten, reiten, reiten   (Rilke)
À Berlin ! à Berlin ! à Berlin !   (Émile Zola)
Herrlich, herrlich, herrlich!   (Bertolt Brecht)
Nee, nee, nee   (Ton Steine Scherben)
Hoiho! Hoiho! Hoiho!   (Wagner)

Waterloo ! Waterloo ! Waterloo !   (Victor Hugo)
never, never, never   (Rule, Britannia!)
Hurra, hurra, hurra!   (Freiligrath)
Thamus, Thamus, Thamus!   (Plutarch)
WWW   (Tim Berners-Lee)

Gimme Gimme Gimme   (ABBA)
Heil, heil, heil   (Beethoven, Fidelio)
Hass, Hass, Hass   (Jens Friebe)
No, No, No   (Destiny’s Child)
No. No. No.   (Margaret Thatcher)

Tora! Tora! Tora!   (~)
Radamès! Radamès! Radamès!   (Verdi)
Ich protestiere! Ich protestiere! Ich protestiere!   (García Lorca)
Mein Sohn! mein Sohn! mein Sohn!   (Schiller, Räuber)
nu, nu, nu / haute, haute, haute / sec, sec, sec   (Charles Cros)

Ночь, ночь, ночь   (Ilja Ilf + Jewgeni Petrow)
Avanti Avanti Avanti   (Vico Torriani)
Klipp klapp, klipp klapp, klipp klapp!   (die Mühle)
Du Verbrecher! Du Verbrecher! Du Verbrecher!   (Bulgakow)
ich sage Ihnen auch warum / ich sage Ihnen auch warum / ich sage Ihnen auch warum   (Karl-Theodor zu Guttenberg)

Mord. Mord. Mord.   (Tucholsky)
Sad, Sad, Sad   (Rolling Stones)
Cry, Cry, Cry   (Johnny Cash)
Ich Ich Ich   (Robert Gernhardt)
Genau, genau, genau.   (Gunther Schmäche)

Hey Hey Hey   (Rebecca Casati)
Summ, summ, summ   (Hoffmann von Fallersleben)
Fakten, Fakten, Fakten   (Focus)
Brecht ! Brecht ! Brecht !   (Jean-Jacques Gautier)
Nein, nein, nein.   (Marcel Reich-Ranicki)

Da Da Da   (Trio)
Urusai, urusai, urusai!   (Shakugan no Shana)
Ich bin empört, ich bin empört, ich bin empört!   (Rolf Herricht)
The gold … the gold … the gold.   (Alan Seeger)
Touch me, touch me now / Touch me, touch me now / Touch me, touch me now   (Samantha Fox)

try, try, try   (Neville Chamberlain)
Toi, toi, toi   (~)
Death, Death, Death   (Walt Whitman)
Bloody Mary, Bloody Mary, Bloody Mary.   (Folklore)
Half a league, half a league, half a league   (Alfred Lord Tennyson)

Ack! Ack! Ack!   (Mars Attacks!)
burn, burn, burn   (Jack Kerouac)
21, 21, 21   (Scott Walker)
Betelgeuse, Betelgeuse, Betelgeuse.   (Beetle Juice)
Fort! Fort! Fort!   (Sabrina Janesch, Katzenberge)

Let’s Go, Let’s Go, Let’s Go   (Hank Ballard & the Midnighters)
Boredom, boredom, boredom   (Buzzcocks)
yada yada yada   (Seinfeld)
Repetition, repetition, repetition   (The Fall)
et cetera, et cetera, et cetera   (Nikolaus II. von Russland)
 

Tolstoj besucht Auerbach!!!!!!!!!!!!!!!

Berlin, 22. März 2011, 11:06 | von Josik

Erst neulich ist im Literaturhaus München die Ausstellung »›Ein Licht mir aufgegangen‹ – Lev Tolstoj und Deutschland« zu Ende gegangen. Es gab dort sonst selten gezeigte Videos zu sehen, die Tolstoj samt seiner Frau beim Spazierengehen im Wald zeigen, entgegen dem Ausstellungstitel allerdings nicht in einem deutschen Wald, sondern in einem russischen.

Natürlich ist Tolstoj aber auch durch Deutschland gereist, so am 27. Juli 1860 nach Bad Schandau, wo er sich Berthold Auerbach mit den Worten vorstellte: »Ich bin Eugen Baumann.« Da Eugen Baumann eine Figur aus Auerbachs Roman »Neues Leben« ist, war das also ein ziemlich bunter Scherz, der offenbar sogar ganz gut ankam.

Und tatsächlich folgte am 21./22. April 1861 ein weiterer Besuch Tolstojs bei Auerbach, nun allerdings nicht mehr in der Sächsischen Schweiz, sondern in Berlin, in der Potsdamer Str. 134a, also in unmittelbarer Nähe des heutigen Dönerimbisses in der Potsdamer Str. 120, der zur Freude der in der Nachbarschaft wohnenden Russen »Durak« heißt, zu deutsch ›Dummkopf‹.

Nach seinem Besuch bei Auerbach machte Tolstoj in seinem Tagebuch eine kurze Notiz, der die Münchner Ausstellung den Titel entlehnt hat. Die Eintragung lautet: »Auerbach!!!!!!!!!!!!!!! Ein reizender Mensch! Ein Licht mir aufgegangen.«

Der liebenswerte russische Übermut, der sich in den fünfzehn Ausrufe­zeichen hinter dem Namen ›Auerbach‹ ausdrückt, scheint allerdings den Herausgebern der deutschen Übersetzung von Tolstojs Tagebü­chern (München 1979) suspekt gewesen zu sein. Dort nämlich werden fünf der fünfzehn Ausrufezeichen einfach eliminiert. Es finden sich an dieser Stelle nur noch zehn Ausrufezeichen: »Auerbach!!!!!!!!!!« Im Original stehen allerdings eindeutig fünfzehn Ausrufezeichen: »Ауэрбах!!!!!!!!!!!!!!!«

Ein editorisch sehr zweifelhafter Eingriff, diese radikale Reduzierung der Ausrufezeichen auf nur noch zwei Drittel ihrer ursprünglichen Anzahl. Hoffentlich gibt es bald eine verlässlichere Neuausgabe.

Die Münchner Ausstellung war übrigens auch deshalb ein so großer Erfolg, weil quasi zur Illustration des Tolstoj’schen Waldspaziergang­videos quer über den kleinen Ausstellungsraum viele scheinbar in den Himmel wachsende, sehr schöne künstliche Birken verteilt waren. Dementsprechend lauteten etwa 70% der Bemerkungen im Gästebuch: »Schöne Birken!«
 

Listen-Archäologie (Teil 8):
Die 17 besten Novellen von Paul Heyse

Leipzig, 15. März 2011, 17:04 | von Paco

Paul Heyse – um es kurz zu machen – hat 177 Novellen geschrieben und 1910 den Literaturnobelpreis bekommen, also schon mal nicht schlecht. Fontane wollte am liebsten gleich die ganze Nach-Goethe-Epoche mit Heyses Namen versehen (»Heysesches Zeitalter«), wurde aber von der Literaturgeschichtsschreibung brüsk ignoriert.

Heute ist Heyse eher nicht mehr so präsent, was wie immer schade ist, aber wo soll man bei 177 Novellen, dazu noch acht Romanen und meh­reren Dutzend Dramen auch anfangen?

Doch hier kommt Rainer Hillenbrand ins Spiel (Germanist, geb. 1962, lehrte in Cambridge und Heidelberg und ist seit 2006 an der Universi­tät Pécs). Er hat sich zumindest mal der Novellen angenommen und 1998 ein entsprechendes Kompendium veröffentlicht, 991 Seiten dick.

Auf den letzten drei Seiten, 989–991, findet sich ein Titelregister mit allen Novellen. Das Besondere daran ist, dass einige der Titel mit einem, zwei oder drei Sternen versehen sind: »Ein Sternchen (65 mal) bedeutet gute, zwei Sternchen (21 mal) sehr gute und drei Sternchen (17 mal) herausragende Qualität.«

Hillenbrand konzediert, dass man dieses Verfahren für »subjektiv und fragwürdig« halten mag, aber falls jemand Heyse-Empfehlungen braucht, hier sind sie, die 17 besten Heyse-Novellen aller Zeiten (in Klammern Datum der Erstveröffentlichung). Einige davon stehen auch gleich im Projekt Gutenberg bereit:

  • Andrea Delfin (1859)
  • Das Haus »Zum unglaubigen Thomas« oder Des Spirits Rache (1893)
  • Das Mädchen von Treppi (1856)
  • Der letzte Centaur (1860, überarb. 1870)
  • Die Dichterin von Carcassonne (1880)
  • Die Einsamen (1858)
  • Die Kaiserin von Spinetta (1875)
  • Die kleine Mama (1865)
  • Die Nixe (1899)
  • Die Stickerin von Treviso (1868)
  • Die Witwe von Pisa (1866)
  • F.V.R.I.A. (1885)
  • Himmlische und irdische Liebe (1885)
  • L’Arrabbiata (1854)
  • Nino und Maso (1883)
  • Siechentrost (1883)
  • Vroni (1891/92)

 

Regionalzeitung (Teil 44)

Leipzig, 14. März 2011, 21:42 | von Paco

 
  216.   ist der neue Fun-Sport aus Amerika

  217.   eine der besten ihrer Zunft

  218.   die raue Wirklichkeit

  219.   zur Feder gegriffen

  220.   facettenreiches Porträt seiner Generation
 

Die Segantiniwolke —
Mit Werner Spies, Niklas Maak, Rafael Horzon und Hermann Hesse in der Fondation Beyeler

Basel, 10. März 2011, 12:44 | von Marcuccio

Ein Praktikum in Riehen bei Basel, das wär’s. Dort den Telefonisten machen, nur um den ganzen Tag so schön ›Fondation Beyeler‹ zu sagen, wie es jetzt im Tram Nr. 6 zu hören ist. Nächste Haltestelle: Fohdasjo Bejeler.

Was ein Ansturm! Rentner, Japaner, alleinerziehende Mütter, sie alle wollen »seine Berge« sehen, um mal ein bekanntes Segantini-Wort aufzugreifen (»voglio vedere le mie montagne«).

Segantini, der große Alpenmaler. War Segantini früher »peinlich« (NZZ am Sonntag), ist er heute Divisionismus-Avantgarde, wenn nicht gar »der van Gogh der Hochalpen« (Werner Spies in der FAS). Auch deswegen versteht sich die Ausstellung als eine Art kunsthistorische Reha-Maßnahme. Rehabilitierung, weil Segantini um 1900 schon mal europaweit gefeiert, danach aber einige Jahrzehnte in der Heimat- und Kitschecke verschwunden war. Soweit das Storytelling der Fondation Beyeler.

Die Vorher-Nachher-Show

Und das Feuilleton feiert mit, die besten Sätze zur *Segantini-Wert­schätzung alt* gab’s von Niklas Maak:

»Ganz böse Kommentatoren behaupteten, Segantini sei Kunst für Russen, die sich in St. Moritz das Bein gebrochen haben und deswegen nicht auf die Piste können – in Sankt Moritz gibt es ein Segantini-Museum, und vor diesem kleinen Museum sieht man tatsächlich öfter einmal die Ferraris und Maseratis und anderen Höllengefährte der russischen und anderen Wintersportgäste parken.«

Von Boris-Becker-Hochzeiten in diesem Museum ganz zu schweigen. Aber eben: Schluss mit bloßer Segantini-Deko! Her mit den Kunst­verständigen. Noch einmal Maak:

»Segantinis Kunst ist, wenn man genau hinschaut, wie eine Fahrt im Bugatti: Die Landschaften beginnen zu flimmern, die Formen lösen sich pointillistisch auf und werden gleichzeitig surreal klar – es ist, als ob klare Bergluft durch die Seitenscheiben dieser Bilder ströme.«

Und apropos Seitenscheibe. Rafael Horzon macht an einer Stelle seines »WEISSEN BUCHS« ja diese Autotour: »Unser Ziel: Basel.« (S. 132f.) »Gerührt«, hehe, summt er unterwegs die letzten beiden Drittel dieses Lieds von der Wolke – die weiße Wolke ist die »Segantiniwolke« aus Hermann Hesses »Peter Camenzind«:

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.

Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie in dunkler Nacht.

Geht und erglänzt so silbern,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

Voraus geht die Szene, in der sich Camenzind an Elisabeths Besuch in der Basler Kunsthalle erinnert (heute würde es die Fondation Beyeler sein):

»Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen.«

Sie schaut sich also dieses Segantini-Bild mit der besonderen Wolke an. Und Camenzind schaut ihr dabei zu:

»Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. (…) Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne, von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.«

Auch wir versuchten uns in Saal 9 eine Weile im Segantiniwolken­verstehen (siehe auch NZZ von 2004), bevor wir dann irgendwann, genau wie Camenzind, »schnell und leise« das Segantiniwolken­kuckucksheim verließen.
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 60)

sine loco, 8. März 2011, 18:51 | von Niwoabyl

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

La Capsule in Lille, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Lille
»La Capsule« in der Rue des Trois Molettes.

(Dieser billige Stadtführer mit dem sehr unzuverlässigen Stadtplan, schon wieder ziehen wir durch Vieux Lille und suchen ergebnislos den Zwiebelplatz. »Place aux Oignons« heißt der Ort tatsächlich, und dort bekommt man den allerschönsten Estaminet, den man sich wünschen kann. Kreuz und quer geht der Weg und gehen unsere Diskussionen, auch entlang der Polysemie des Wortes ›oignon‹, und wir fragen uns, ob an unserem Zielort früher eine Art Korso stattfand, bei dem alle Männer im Vorbeigehen feierlich ihre Taschenuhren zückten. Am Ende finden wir doch den Estaminet wieder, aber sie haben kein Bier für uns, man komme da nur abends zum Essen hin, sagt der dienstfertige junge Mann an der Theke und schickt uns um die Ecke in die »Capsule«, und das ist nun also unser Kaffeehaus des Monats Nr. 60.)