Does this town need a hug? — »No Country
for Old Men« und das neue Hollywood

Hamburg, 4. April 2008, 06:20 | von San Andreas

Die Nonchalance eines Hannibal Lecter, die Treffsicherheit eines Schakals, die Mitleidlosigkeit eines Dr. Christian Szell, die Zielgerichtet­heit eines HAL 9000, der Zynismus eines Agent Smith, der Wahnsinn eines Jack Torrance, die Wertelosigkeit eines Weißen Hais, die Unzerstörbarkeit eines Terminators, die Gerissenheit eines Gordon Gekko, die Frisur einer Mireille Mathieu: Anton Chigurh schreibt sich aus dem Stand in die Filmgeschichte ein, als verheerende Mixtur des Bösen, ein ikonischer, tatsächlich Furcht einflößender Schurke, dessen Willkür man ohnmächtig gegenübersteht; der Mann ist das Schicksal in Person.

Und er ist lediglich ein Teil dieses erstaunlichen Films: Der Held, dem wir zwei Stunden lang auf seiner Flucht vor diesem kreuzgefährlichen Killer gefolgt sind, wird unversehens von Namenlosen getötet – off-screen, denn die Kamera war gerade nicht zur Stelle. Der Killer beseitigt noch – völlig grundlos – die Frau des Helden, um dann völlig unbehelligt das Geschehen zu verlassen. Der Sheriff, der während der ganzen Geschichte nicht das Geringste hat ausrichten können, erzählt seiner Frau gerade, was er letzte Nacht geträumt hat, als ihm der Abspann beinahe das Wort abschneidet. Ein Film wie eine Ohrfeige.

Dieses rundweg unwahrscheinliche Werk nun, dieses fiese, harte, zynische Stück Autorenkino, gelangt in Hollywood zu allerhöchsten Ehren, natürlich zu Recht, und befindet sich mit Kandidaten wie »There Will Be Blood«, »The Assassination of Jesse James«, »Gone Baby Gone« oder »Sweeney Todd« in ebenso düsterer, psychopatischer, blutiger Gesellschaft.

»Does this town need a hug?«, fragte Jon Stewart bei den Oscars folgerichtig. Filme wie diese sind nicht nur Teil des Hollywood-Outputs; sie bilden das neue Aushängeschild. Eine gewisse Ernsthaftigkeit macht sich breit, aber nicht nur von der sozial- und selbstkritischen Sorte (»Crash«), der man als argwöhnischer Europäer noch gut eine Prise Scheinheiligkeit andichten konnte. Vielmehr besinnt sich Holly­wood wieder seiner gewachsenen cineastischen Kompetenz und produziert lustvoll kompromisslose Genrekunst.

Dabei fallen profunde Metaebenen keinesfalls unter den Schneidetisch. Gerade die ›Revisionist Westerns‹ der letzten Monate beschreiben in ihren Subtexten ureigene Befindlichkeiten – sei das im Zusammenhang mit den formativen Prozessen der amerikanischen Gesellschaft (»Blood«), ihrem Umgang mit Regelbrechern (»Jesse James«) oder ihrem tief greifenden Wandel in jüngerer Zeit (»Country«). Man kann sagen, was man will: Hier entsteht großes, amerikanisches Kino.

Dennoch, sie hält sich hartnäckig, die Vokabel ›Hollywood‹ als Etikett für alles Massentaugliche, Rundgelutschte, Weichgespülte. Wer sich dieser Tage »Jumper« oder »10,000 B.C.« ansieht, wird trefflich damit um sich werfen können. Die Tatsache aber, dass im selben Multiplex auch »Juno«, »Michael Clayton«, »Half Nelson« und »In the Valley of Elah« auf dem Plan stehen, lässt solch Schubladentum gänzlich obsolet erscheinen.

Welchen Film zierte in letzter Zeit denn schon ein klassisches Hollywood-Happy-End? Disneys bezaubernde Märchenklamotte »Enchanted« fällt uns ein, »Ratatouille« etwa, »Dan in Real Life« (Hochzeit!) und »Mr. Magorium’s Wonder Emporium« vielleicht noch, aber dann wird es auch schon dünn. Stattdessen verlassen Holly­woods Protagonisten die Leinwand doch mittlerweile regelmäßig mit den Füßen voran.

Scorsese hatte da einen Markstein gesetzt, indem er in »The Departed« praktisch den kompletten Cast ausradierte. Respekt. Aber auch die Helden von »Into the Wild«, »Cloverfield«, »Jesse James«, »3:10 to Yuma« und »Sweeney Todd« erleben nicht das Ende der Vorstellung. Selbst ein Old-School-Horrorfilm wie »The Mist« gefällt sich am Schluss mit einem rabiaten, multiplen Exitus.

Und wenn schon nicht gestorben wird, fallen Film-Enden dieser Tage gern traurig und ambivalent aus. »Gone Baby Gone« lässt den Zuschauer gnadenlos zwischen Herz und Verstand hängen, »Before the Devil Knows You’re Dead« schließt mit einem drastischen, verstörenden Racheakt, und selbst ein Blockbuster wie »I Am Legend« beeilt sich, dem ursprünglichen, ziemlich schlimmen Kino-Ende den kommerziellen Anstrich zu nehmen. Im ›Alternate Cut‹ entfällt Nevilles heroischer Freitod; er realisiert, dass er die Bedrohung, der Fremdkörper in dieser Welt ist und verlässt die Stadt in eine ungewisse Zukunft.

Dr. Neville zählt ja noch zu den Gutmenschen, aber was sind das sonst für gemeine Gestalten, die heute die Leinwände bevölkern! Mit Daniel Plainview treffen wir den Inbegriff eines selbstgerechten Soziopathen, sein todgeweihter Gegenpart Eli Sunday ist als bigotter, von Gier zerfressener Heilprediger keinen Deut sympathischer. Jesse James wird als der gebrochene, paranoide Schatten eines Westernhelden redefiniert, und Jason Bourne verkörpert als wortkarger, schroffer Anti-Bond eine neue Klasse des Action-Helden. Wo sind sie geblieben, die so vertrauten wie verspotteten Hollywood-Klischeefiguren? Zugegeben, sie sind noch da (Hallo, die Herren Rambo und McClane?), aber die Konkurrenz aus der authentischen Sparte wächst.

Spannende Charaktere hin oder her – taugen denn die eigentlichen Filminhalte etwas? Europas Filmkritik bemäkelt an Hollywoodfilmen ja gern den scheinbar unauslöschlichen amerikanischen Stempel: diese gewisse Prüderie in der Handhabung sensibler Themen, die leicht verlogene Political Correctness und vor allem den allgegenwärtigen Widerschein eines hoffnungslos egozentrischen Weltbildes.

Nun, Selbstbezogenheit muss nicht zwangsweise in narzisstische Überheblichkeit ausarten; sie kann auch etwas mit Selbstverständigung zu tun haben. Wer für etwas verantwortlich ist – und Amerika ist das für vieles – kann und soll sich dazu äußern. Längst übt sich Amerika vermittels seiner Filme in kritischer Selbstreferenz, liefert gescheite, teils hervorragende Beiträge für den politischen Diskurs, angesichts derer sich Europa im Zugzwang sieht, ähnlich Relevantes zu liefern.

Dabei geht man durchaus ans Eingemachte – ob es das Thema Folter in der Terrorismusbekämpfung (»Rendition«) betrifft, die Verrohung der Jungs an der irakischen Front (»Elah«), latenten Rassismus in den Städten (»Crash«), die religiöse Indoktrination des eigenen Nachwuchses (»Jesus Camp«) oder die Konflikte in Afghanistan gestern (»Charlie Wilson’s War«) und heute (»Lions for Lambs«). Selbst härteste Schicksale wie die des Daniel Pearl (»A Mighty Heart«) werden nicht ausgespart.

Diese Bandbreite zeugt von einem erstarkten Selbstbewusstsein ebenso wie von einer ernüchterten Weltsicht. Zwischen den Zeilen schwingt ehrliches Bekennermut. Und mit dem Gewinn thematischer Wahrhaftigkeit geht eine Revision gängiger Dramaturgien, Genre-Schablonen und Figurenkonstellationen einher. Trotzdem der Film produktionsbedingt eher ein Konsensmedium ist, zeigt sich eine erfrischende Bereitschaft zu Wagnissen in größerem Stil.

Das neue Hollywood schaut zunehmend über formale und inhaltliche Tellerränder hinaus, kippt ausgetretene Plotmuster und besetzt mutig gegen den Strich (etwa Pitt in »Babel«, Sandler in »Reign Over Me« und Jolie in »A Mighty Heart«). Man erfreut sich am Formelbruch, selbst nachgerade experimentelle Formen lockern den so genannten Mainstream auf (»I’m Not There«, »Redacted«).

Ein interessanter systemischer Aspekt ist hierbei, dass ein Formelbruch nur dann als solcher wahrnehmbar ist, wenn ein gewisses Regelwerk gegeben ist – in diesem Fall eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Machern und Publikum, die sich nicht in einem Statut festschreibt, sondern langsam, über viele, viele Werke, im kollektiven Filmbewusstsein verankert hat. Und maßgeblich geprägt hat diesen Prozess natürlich Hollywood selbst.

Nur wer das Handwerk beherrscht, produktionstechnische Freiheitsgrade besitzt und beim Filmemachen Erfahrungen und Erwartungen mitdenken kann, vermag damit zu spielen – ebenso wie ein Zirkusclown ein perfekter Jongleur und Balletttänzer sein muss, bevor er anfangen kann, Blödsinn zu machen. Erst dann finden Wollen und Können zusammen, erst dann können Bausteine zu neuen Formen kombiniert werden, die neue Bedeutungen transportieren.

Hollywood versammelt hierfür wie kein anderer Ort auf dem Planeten die idealen Ressourcen, und es ist gut zu sehen, dass sich kreative Kräfte ihrer mit frischer Energie bedienen. Die Studios stoßen ein kunterbuntes Konvolut von Filmen aus, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche. Das Spektrum an künstlerischer Integrität, Kommerzialität oder einer wie auch immer gearteten Qualität könnte breiter nicht sein. Doch das Angebot zu sichten ist ein lohnendes Unterfangen, denn hier verstecken sich immer noch die wahrscheinlich besten Filme der Welt.

Wilhelm Ostwald und die drehbare Étagère

Leipzig, 3. April 2008, 07:56 | von Paco

Über Wilhelm Ostwald wird eigentlich nicht mehr in fachfremder Presse berichtet, über das Leipziger Wilhelm-Ostwald-Gymnasium hingegen schon, so wie vorletzte Woche auf SP*N (22. 3. 2008).

(Das war eine Reprise des »Spiegel«-Artikels der Ausgabe 21/2005, S. 172-174, der vom selben Autor stammt, Manfred Dworschak. Recap: Begabtengymnasium mit auch international erfolgreichen Schülern. Wettbewerbsgeist werde gefördert. Frontalunterricht können die alle ab, weil das für sie nur die Vorstufe zur Praxis sei. Ein Lob der DDR, die mit Begabten kein Problem hatte. Im Westen sei das Wort Begabung immer noch verdächtig. Usw.)

Am Wochenende fand ich aber eine genuine Wilhelm-Ostwald-Stelle. Der 2004 erschienene dtv-Band »Bücher sammeln« von Klaus Walther hatte auf meinem To-do-Stapel obenauf gelegen und wurde von mir also endlich weggelesen. Das Buch ist ein wenig onkelig geschrieben, was beim Thema Bibliophilie wahrscheinlich auch Teil des Plans ist. Es liefert aber auch viele ganz hervorragende Anekdoten, unter anderem diese:

»Wilhelm Ostwald, der erste deutsche Nobelpreisträger für Chemie, ließ einst in Großbothen bei Leipzig die Fundamente seines Landsitzes verstärken, damit er seine Bibliothek dort unterbringen konnte. Die vierzigtausend Bände hätten ansonsten das Gebäude den Hang hinuntergezogen. Ostwald war ganz sicher kein Bibliomane oder gar ein Bibliophiler, er war ein leidenschaftlicher Organisator wissenschaftlicher Arbeit. Dass er seine Büchermassen um sich hortete, verzeichnete er unter dem Lebensbegriff ›Energieeinsparung‹, die er bis in komische Details betrieb. So musste auf dem Esstisch immer eine jener drehbaren Etageren stehen, damit sich jeder Tischgast wortlos die Butter oder den Käse heranholen konnte. Das Tischgespräch wurde nicht durch so profane Einwürfe wie ›Geben Sie mir doch bitte die Butter‹ unterbrochen. Man sparte damit Energie, wie Ostwald meinte. Nun ja, so weit kann man es mit Energieeinsparung treiben.« (S. 12-13)

Die drehbare Étagère, das klingt sofort irgendwie sprichwörtlich. Was für ein Utensil! Wenn wir nicht schon ein Wappentier hätten, wäre sie ein heißer Kandidat, hehe.

Kaffeehaus des Monats (Teil 28)

sine loco, 2. April 2008, 21:26 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

nuernberg literaturhaus cafe

Nürnberg
Das Literaturhaus-Café in der Luitpoldstraße.

(»Zeitungen, nichts als Zeitungen!« – Lessing, Emilia Galotti)

FAS-Nachschlag:
Obama, Stromberg, Pastewka, Dr. Psycho

Leipzig, 1. April 2008, 15:50 | von Paco

Nur kurz: Dique hat vorgestern in seinem Rundown der FA-Sonntagszeitung natürlich einiges weggelassen, z. B. den Doppelseiten-Artikel von Hans Ulrich Gumbrecht (S. 30-31). Das Erwähnen von Gumbrecht-Artikeln bleibt unabgesprochenerweise aber sowieso meist dem Romanistik-Subsidiary des Umblätterers (Marcuccio, Millek, ich) überlassen, daher hier schnell die Nachreichung:

Es ist ein Text über Barack Obama und dessen Wahlkampf, und zwar ungefähr der beste Text dieses Themenkreises so far. »Kann man Wähler fangen mit der Wahrheit?« lautet die Überschrift, und es geht um »jenes paradoxale politische Charisma, das eben daraus erwachsen ist, dass er [Obama] sich nicht wie ein Politiker verhält«.

Als sich Bill Richardson, ein ehemaliges Kabinettsmitglied unter Bill Clinton, aufgrund von Obamas Philadelphia-Rede innerhalb der demokratischen Partei für diesen ausgesprochen hatte, wurde er von Clinton mit Judas verglichen. Und jetzt kommt’s:

»Vielleicht liegt es also tatsächlich jenseits des Vorstellungsvermögens eines Vollblutpolitikers wie Bill Clinton, dass Entscheidungen in seiner Welt nicht als Ausgleich für vergangene und in Vorbereitung zukünftiger Begünstigungen fallen, sondern einfach, weil jemand, der sich entscheidet, das, wofür er sich entscheidet, als richtig ansieht.«

Was für ein schöner klarer Satz.

Eine Umblätterung weiter (S. 33) gibt es dann noch einen Artikel von Peer Schader über die Produktionsfirma Brainpool. Eine der herrlichen Kat-Menschik-Zeichnungen lockt sehr gelungen in den Text hinein. Zu sehen sind die Köpfe von Ulmen, Barth, Herbst, Engelke, Pocher, Pastewka, Raab.

Das Bild führt jedoch ein wenig in die Irre, denn es geht vorrangig um Brainpools Firmenpolitik, nicht um die Comedy-Produkte selbst. Deswegen bauen wir mal schnell ein bisschen enttäuschte Erwartungshaltung ab und erinnern noch mal an die drei besten Brainpool-Serien der Welt:

1. »Stromberg«

Wer noch mal behauptet, dass das Original-»Office« der BBC besser sei, soll das gerne tun. Wahrer wird die Behauptung dadurch nicht. Auch die vor einem Jahr gesendete 3. »Stromberg«-Staffel war wieder so genuin strombergig, so dicht geschrieben, so voller Einfälle, so überzeugend kausal verknüpft, so voller unfassbarer Dialoge und vor allem ungeahnter Emotionen (Erika!), dass man es immer wieder gar nicht glaubt, dass so etwas im deutschen Fernsehen läuft. Die 4. Staffel soll im Frühjahr 2009 gesendet werden.

2. »Pastewka«

Ok, die Ende letzten Jahres gesendete 3. Staffel war die bisher schlechteste: Die Geschichten um die ungarische Haushälterin/Kurtisane von Pastewkas Vater bergen einfach keine tragenden Storylines, und die eigentlich gut ausgedachte Rolle der »Frau Bruck« wirkt mittlerweile ausgewrungen. Die Serie ist aber eben immer noch gut, in der letzten Staffel vor allem die Til-Schweiger-Folge. Der selbst gesetzte Standard war aber nach den ersten beiden Staffeln auch wirklich hoch. Das Kausalitätentheater à la »Curb Your Enthusiasm«, das in Folge 2.02 (»Die Strategie der Schnecke«) in Szenen gesetzt wird, ist unübertroffen. Wer die nicht gesehen hat, weiß nicht, wie gut ein deutsches Drehbuch sein kann.

3. »Dr. Psycho«

Christian Ulmen wird als Psychologe Max Munzl der Abteilung für organisiertes Verbrechen zugeteilt. Ulmen spielt den ambitionierten Schluffi so genial, dass es reichen würde, seine Szenen einfach willkürlich aneinanderzureihen: Ewig könnte man ihm zusehen. Leider gibt es aber auch noch Handlung in den 6 Folgen der ersten Staffel, und die wird schön gestreckt. Das einstündige Sendeformat ist einfach zu lang für »Dr. Psycho«. Macht aber nichts: Viele schöne Einzelszenen und ein gut gecastetes Polizeiteam (vor allem der dumpfe Eddie kommt sehr gut) lassen das vergessen. Eine 2. Staffel ist in der Mache.

+++ End of Nachschlag +++

Die FAS vom 30. 3. 2008:
Peter Rühmkorf, Michael Jackson, Boris Johnson

London, 30. März 2008, 19:40 | von Dique

Aus aktuellem Anlass drängt die Politik ins Feuilleton, die ersten Seiten widmen sich dem Konflikt in Tibet aus verschiedenen Richtungen. Im Interview mit Ai Weiwei auf der Eingangsseite (sehr kurze Fragen, sehr lange Antworten) und in einem sehr guten, wenn auch ernüchternden Gastartikel der Schriftstellerin Jade Y. Chen.

Ein paar Seiten weiter sitzt Peter Rühmkorf auf einer Backsteintreppe an einem Gewässer. »Paradiesvogelschiß« heißt sein neuer Gedichtband, und Patrick Bahners widmet diesem einen langen Artikel. Rühmkorf schreibt zum Beispiel von einem »Marcel Rex Ranitzen« und liefert, wie der Artikel mehrfach bescheinigt, eine Menge medialen Gegenwartsbezug:

»Gedichte, die den Lesenden enteilen,
flott wie bei ntv die Durchlaufzeilen«

À propos Gegenwartsbezug und Federvieh: Paradiesvögel sind das nicht, die sich da wieder vorm Lisboa zusammenrotten, ganz gegenwärtig. Schon morgens auf dem Weg zu meinem Newsagent: Noch ganz verschlafen komme ich um die Ecke, und neben mir schrecken drei Tauben auf, Senkrechtstart, aber irgendwie in Zeitlupe und für meine Begriffe mir viel zu nah. Hellwach und leicht schreckhaft kaufe ich dann die FAS.

Auf dem Foto zum Artikel trägt Rühmkorf übrigens einen Old-School-Trenchcoat. Diese Variante mit all dem Schnickschnack dran, nicht nur Achselklappen und Gürtel, nein, auch noch diese Art Minigürtel um die Unterseite der Ärmel. Dazu rotes T-Shirt, ein holzfällermäßiges Hemd, also kariert, und darüber einen etwas ausgeleierten grau-beige-farbigen V-Pullover. Dann kommt erst der Mantel.

Die Brille ist relativ groß, aber vielleicht nicht groß genug, um trendig zu sein, denn im »Gesellschafts«-Teil erfahren wir, dass große »Streber«-Brillen aus den Achtzigern wieder hitverdächtig sind. Das kommt mir allerdings nicht so neu vor.

Bleiben wir im Ressort, ein paar Seiten vor dem Brillenartikel. Die Politik ist ja heute tief ins Feuilleton gekrochen, das dafür auf die »Gesellschafts«-Seiten weitergezogen ist, möchte man meinen, obwohl das ja auch nicht neu ist.

Es gibt dort einen großen Artikel über Michael Jackson, »King of Pop ohne Reich«, von Alexander Marguier. Auf einem Begleitfoto sieht man ihn mit seinem Sohn an der Hand in Bahrain, und darauf trägt er schwarze Vollverschleierung. Hätte er nicht die obligatorischen schwarzen Loafer mit weißen Socken dazu an, könnte man ihn für eine Einheimische halten.

Daneben ein Artikel über Boris Johnson, den Ex-Herausgeber des »Spectator« und konservativen Bürgermeisteranwärter in London, der im Augenblick anscheinend gute Chancen gegen Ken Livingstone hat.

Der »Spectator« wurde ja erst kürzlich in Folge 63 von Matusseks Videoblog über den grünen Klee gelobt, als eine Institution des Meinungsjournalismus, welche es in dieser Form in Deutschland (natürlich leider) nicht gebe.

Johnson, der »konservative Witzbold«, wird als Kasper, Eigenbrötler und Liebhaber charakterisiert. Ein Luftikus, der sich beim Besuch im Irak kurz nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 aus den Trümmern der Residenz des Außenministers einfach mal eines von dessen Zigarettenetuis eingesteckt hat.

Er hat sich später allerdings in einer Zeitungskolumne selbst angezeigt und jetzt, 5 Jahre danach, kündigt Scotland Yard Ermittlungen an. Johannes Leithäuser kommentiert das in seinem Artikel so:

»Solche Schildbürgereien kommen Boris gerade recht. Er liebt alle Gelegenheiten, die ihm Hohn und Spott für die Bürokratie, für politische Korrektheit oder gesellschaftliche Fortschrittsbemühungen erlauben.«

Ein bisschen erinnert der semmelblonde Johnson, den alle nur Boris nennen, an den verqueren Charakter des Johan Nilsen Nagel aus dem wunderbaren Roman »Mysterien« von Knut Hamsun, der gern Verwirrung um der Verwirrung willen zu stiften scheint und seine Meinung ohne Probleme in kurzer Zeit auch mal ganz grundlegend ändert.

Zurück zum Feuilleton, dort gibt es dann noch eine kleine Rezension zweier Bücher über Frauenthemen oder vielleicht sogar Feminismus von Johanna Adorján. Inhaltlich nicht unbedingt der Brüller, aber wunderbar verpackt von der Autorin, »Allerliebst – Der neue Feminismus ist mädchenhaft brav«.

Usw.

In der Tate Britain: Kanus, Kälte und Kaffee

London, 29. März 2008, 12:28 | von Dique

Zwei Ausstellungen in der Tate Britain. Da gibt es zum einen Peter Doig und zum anderen »Modern Painters: The Camden Town Group«.

Peter Doig

Eigentlich kein Riesenfreund moderner Malerei, gehe ich doch wegen Doig dorthin. Großformatige Leinwände sind das normalerweise. Zum ersten Mal sah ich die in der alten Saatchi Gallery in »Triumph of the Painting«.

Der heroische Titel lockte mich damals, und neben Kippenberger und Immendorff gab es dort eben auch Peter Doig. Eine Handvoll Bilder, und die gingen sehr gut. Eines davon zeigte ein überlanges Kanu mit einer relativ gesichtslosen Gestalt darin, ein waldiges Ufer dahinter, was für eine Stille.

Dann gab es da noch ein waldiges Bild, und hinter dem Gestrüpp sah man ein bauhausartiges Gebäude hervorscheinen. Im Februar kamen bei Sotheby’s zwei Doig-Bilder unter den Hammer, mindestens eines aus der Saatchi-Sammlung, das »White Canoe«, das satte £5,7 Mio. brachte. Und nun eine fette Einzelausstellung.

Camden Town Group

Irgendwie gruselt mir dann ein bisschen vor all diesen großen Leinwänden moderner Malerei, und ich gehe erst mal zur Camden Town Group, wegen Sickert, der ja wahrscheinlich Jack the Ripper war, aber eben noch wahrscheinlicher doch nicht.

Ein bisschen unambitioniert kommt mir vor, was hier zusammengehängt wurde. Post-Impressionismus in England, in London, London um 1910, »Modernity«, »Sex«, »Sensation«, »Anti-Modern«, um einige Räume beim Namen zu nennen, und der letzte heißt »Home Front«, und wir sind im Ersten Weltkrieg, der Briten liebstes Kind.

Aber egal, besonders die Sickert-Bilder faszinieren, einige seiner Mordszenen in Camden und besonders das Bild eines älteren Herrn, der vor seinem Pint Bier am Tisch sitzt und eine Zigarre pafft. Dahinter steht eine (seine?) Frau und betrachtet ein Bild an der Wand. Beide für sich und doch zusammen, gefangen, einsam zweisam, Hopper’sche Züge, nicht nur auf diesem Bild.

Members Café

Danach einen Kaffee im Members Café. Leider ist das Members Café in der Tate Britain ein ziemlicher Witz im Vergleich zur Tate Modern oder zur Royal Academy. In der Tate Britain ist es immer kalt, rein von der Atmosphäre her, und die Seite mit dem riesigen Fenster eröffnet einen 2 Meter weiten Blick auf eine weiße Wand, und das verstärkt den Kühlhauscharakter noch.

Eine Einreichung als Vorschlag zum nächsten Kaffeehaus des Monats wäre auch rein technisch nicht möglich, weil keine Telefonkamera der Welt bei diesen Temperaturen arbeitet. Man fährt also eigentlich deutlich besser im öffentlichen Café.

Zurück zu Doig

Wegen unserer Trödelei und den ganzen Diskussionen beim Kaffee haben wir dann für Doig nur noch ca. 55 Minuten Zeit. Von denen wir aber nur ganze 20 in Anspruch nehmen, denn in dieser Fülle funktioniert Doig für mich einfach nicht.

Es gibt ein paar Lichtblicke. Die Kanuszene wird noch ein paar Mal verballert, eigentlich ziemlich gut sogar, und immer wieder diese Wälder mit diesen eigenartigen Flecken auf dem Bild, nicht schlecht, aber eben auch nichts, das lange fesselt, nichts, in das man sich gern hineinmeditiert, und viele der Bilder scannt man schnell weg, und das scheint zu reichen.

Irgendwann sitzt dann mal eine Art Jesus in einem dieser langen Kanus, und ich frage nicht nach dem Grund. Dieser Jesus taucht dann ständig auf, auf Inseln, im Wasser. Das sind die neueren Bilder. Die allerneusten zeigen Wasserflecken, diese sind natürlichen Ursprungs, denn in Doigs Studio schien es reinzuregnen, und er nutzte dann einfach die Flecken als Teil des Bildes.

Das schnappe ich im Vorbeigehen im Foyer auf, denn da laufen ein paar Videos über den Künstler, und er erklärt es gerade persönlich, und hier erkenne ich genau dieses Bild wieder, neben dem Ausgang. Dem nähern wir uns dann recht schnell und nutzen die letzten 35 Minuten, um uns noch ein bisschen an den reichhaltigen Turner-Schätzen zu laben, zum Akklimatisieren, wenn man so will.

Nachträglich zum Achtzigsten:
Die Klaus-Heinrich-Charts

Leipzig, 27. März 2008, 21:32 | von Paco

Am 23. September 2007 wurde Klaus Heinrich 80 Jahre alt. Also der Mensch, der das aus dem Blick geratene Altertum so vergegenwärtigt, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts daneben zuweilen alt aussieht (Stichworte: Heidegger, Strukturalismus).

Seine Dahlemer Vorlesungen waren eine derartige class of their own, dass die gesammelten Vorlesungsmitschriften eben auch »Dahlemer Vorlesungen« heißen dürfen, selbst wenn Heinrich und die Herausgeber der Reihe anfangs Zweifel hatten, ob dieser Titel nicht zu sehr nach Provinz klinge (›nie aus Dahlem rausgekommen‹ oder so, was ja letztlich auch stimmt, Henning Ritter nennt es schönerweise »intellektuelle Sesshaftigkeit«).

Alle überregionalen Feuilletons, die etwas auf sich halten (also alle außer »FR« und »Welt«, hehe), haben Klaus Heinrich mit einem Gratulationsartikel Respekt gezollt. Alle 4 Beiträge sind sehr gut, und deshalb werden sie hier zwar gerankt, aber wie (sagen wir mal:) Koransuren der Länge nach angeordnet, nicht unbedingt nach inhaltlichen Kriterien:

1. FAZ (Henning Ritter)
2. TAZ (Cord Riechelmann)
3. ZEIT (Klaus Hartung)
4. SZ (Thomas Meyer)

Jeder der Artikel ist mehr oder weniger zweiteilig. Erstens wird der Konnex zwischen Heinrichs Biografie und der Geschichte der Freien Universität in Berlin-Dahlem hervorgehoben; zweitens werden Heinrichs Forschungen zum »Verdrängten der Philosophie« beschrieben, einschließlich der Erwähnung des »eigentlichen Hauptwerks«, den nach studentischen Mitschriften und Tonbandaufnahmen edierten, bei Stroemfeld erscheinenden »Dahlemer Vorlesungen«, die auf ca. 40 Bände angelegt sind.

1. FAZ

Henning Ritter: Die lange Lehre zum kurzen Protest. In: FAZ, 22. 9. 2007, S. Z1-Z2.

Den meisten Platz räumt dem Jubilar die F-Zeitung ein, der Aufmacher der Beilage »Bilder und Zeiten« belegt ganze zwei großformatige Seiten! Auch das Foto auf der zweiten Artikelseite ist hervorragend: Klaus Heinrich vor einem Bücherregal, im Hintergrund schimmert u. a. das »Lexikon der alten Welt« heraus, das er in seiner Vorlesung »arbeiten mit ödipus« der Benutzung nur mit Vorsicht anempfiehlt. Es steht dann also trotzdem in Griffnähe bei ihm im Regal wie ein Beispiel seiner intellektuellen Redlichkeit, sehr gut.

Im Text selber holt Henning Ritter ganz weit aus und beginnt mit Walter Benjamin, mit der Benjamin-Rezeption der frühen 60er-Jahre, »noch bevor die Schlachten um den Marxisten Benjamin entbrannten, von dem man [damals] noch nichts wusste«. Außerdem werden sehr plastisch die Stellungskämpfe um den sozialwissenschaftlich ausgerichteten »Fachbereich 11« rekapituliert, in die neben Heinrich vor allem Peter Szondi und Jacob Taubes verwickelt waren.

Ritter beschreibt auch am ausführlichsten die Faszination der vorwiegenden Mündlichkeit der Lehre: Heinrich hielt seine Vorlesungen stets ohne Stichwortzettel oder Manuskript und betrieb trotzdem »detaillierte Exegesen zu griechischen Mythen, zu frühneuzeitlicher Wissenschaft, zu Kantischer oder Hegelscher Philosophie oder zu Heidegger«.

2. TAZ

Cord Riechelmann: Die Chance des Verschwindens. In: die tageszeitung, 22./23. 9. 2007, S. 20.

Auch die »taz« ist großzügig und spendiert eine ganze Seite ihres Feuilletons. Cord Riechelmann legt den Schwerpunkt auf Heinrichs Apotheose einer unabhängigen Universität. Sein gleichzeitiges Schulterzucken ob der Tatsache, dass auch die Universität inzwischen von ökonomischem Denken durchwirkt ist, hat damit zu tun, dass diese Institution für Heinrich auch nur episodischen Charakter hat als Ort einer (von ökonomischen Zwängen freien) unabhängigen Wissenschaft.

3. DIE ZEIT

Klaus Hartung: Denken, sprechen, anklagen, besser machen. In: Die Zeit, 20. 9. 2007, S. 56.

Der »Zeit«-Artikel legt den Schwerpunkt ein wenig auf das Verhältnis von Heinrichs Habilitationsschrift »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen« (1964) und den Studentenprotesten, die ja bekanntlich in die Gewalt mündeten. Wobei es Heinrich eben auch immer wieder darum gegangen sei, die »Blutseite philosophischer Abstraktionen« aufzudecken. Auch Klaus Hartung beschreibt lebendig die Vorlesungsatmosphäre und darüber hinaus das Phänomen, dass Heinrich bei der Wirkmacht seiner Gedanken doch so »verfügbar entzogen« sei, so »präsent verborgen«.

4. SZ

Thomas Meyer: Der ewige Wissenstrieb. In: SZ, 22./23. 9. 2007, S. 14.

Trotz der Knappheit seines Artikels gelingt es Thomas Meyer, die Eigentümlichkeit von Heinrichs Denkstil zu umreißen und die wilden Jahre an der FU zu evozieren. Sogar seine spätere Rivalität zu Taubes kriegt einen Satz ab: »Dass dies [Heinrichs Forschungen] etwa beim philosophierenden Kollegen Jacob Taubes, der in allem das Gegenteil von Heinrich war, wütende Ausfälle provozierte, gehört zur Geschichte der produktiven Jahre der Freien Universität.« Auch Meyers Text ist wie die anderen Text da am stärksten, wo er Heinrichs Lehrumgebung, die FU, anekdotisch wieder aufleben lässt.

Lost: 4. Staffel, 8. Folge

auf Reisen, 25. März 2008, 23:50 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Meet Kevin Johnson«
Episode Number: 4.08 (#79)
First Aired: March 20, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Mein Name ist Kevin Johnson« (EA 3. 8. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

In dieser Folge wurde die manipulative Informationspolitik von beiden Seiten, Widmores und Bens, eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch stetig wechselnde Vorzeichen wird wieder mal klar vor Augen geführt, dass hier gar nicht wirklich ausgemacht ist, wer ›gut‹ und wer ›böse‹ ist.

Mehr noch: Es steht zu vermuten, dass beide Machtklüngel zu den ›bad guys‹ zählen. Das wäre ja mal interessant: Der Kampf Böse gegen Böse. Und die Survivors des Oceanic-Fluges stehen dann in der Mitte, wobei die ja auch fast alle ein paar Leichen im Keller haben.

Wie auch immer, der Schlagabtausch beginnt mit der Rekapitulation eines Dialogs aus Folge 2.23, einem verzweifelt fragenden Michael und einem sympathisch (hehe) grinsenden Ben:

Michael: Who are you people?
Ben: We’re the good guys, Michael.

In der letzten Folge hatte Widmores Kapitän so halb überzeugend dargestellt, warum die Frachterbesatzung auf der Suche nach Benjamin Linus sei: weil er nämlich das falsche Flugzeugwrack inklusive 324 (teils?) falschen Leichen auf dem Meeresgrund geparkt hat. In der aktuellen Folge wird diese Aussage nun GENAU ANDERSHERUM erzählt: In einer Flashback-Szene in New York behauptet nämlich der inzwischen von Sawyer getötete Tom (von den Others), dass Widmore den falschen Flieger auf den Meeresgrund gepflanzt hat.

Allerdings wird Michael an Bord des Frachters die Geschichte wiederum aus der anderen Perspektive erzählt, diesmal vom Chopperpilot: Widmore sei tatsächlich aus rettungstechnischen Gründen auf der Suche nach dem wahren Wrack. Als Michael aber sieht, wie die Söldner auf dem Deck mit ihren MPs in den offenen Ozean ballern, kommen ihm berechtigte Zweifel am Rettungscharakter der Mission.

Also was nun! Dieses Hin und Her ist effektvoll inszeniert und spiegelt überzeugend das manipulative Spiel beider Mächte wider.

Gegen Ende von Michaels Flashbacks folgt eine Hammerszene: Er ist entschlossen, die ihm von den Others mitgegebene Bombe zur Explosion zu bringen, um das Widmore-Schiff dem Meeresboden gleich zu machen. Ein 15-Sekunden-Countdown startet, Spannung pur. Und dann …

… springt bei 00:00:00 nur ein Zettel heraus, auf dem steht: »NOT YET« – und da sage einer, die Others hätten keinen Humor.

Dann ruft Ben auf dem Boot an (durchgestellt wird er als »Walt«, der Trick kommt ein bisschen billig, funktioniert aber offenbar). Er rechtfertigt den Bombenscherz so:

»I had to show you the difference between him and me. When I’m at war, I’ll do what I have to win but I won’t kill innocent people.«

Auch hier also wieder ein deftiger Schuss einlullender Informations­politik.

Der Fülle literarischer Techniken, die in »Lost« ihre Verwendung finden, wird diesmal eine weitere hinzugefügt. Anhand Michaels Background-Story gibt es zum ersten Mal einen Figuren-Flashback, der nicht als mentale Erinnerung ausgelegt ist, sondern einer anderen Figur direkt ins Gesicht gebeichtet wird.

Dadurch erfahren wir nebenbei, was Michael widerfahren ist, nachdem er mit seinem Sohn Walt die Insel verlassen durfte (nichts Gutes). Am Ende führt Michaels Story aber vor allem dazu, dass Sayid ihn erst mal an den Captain des Frachters verrät. Sein Dasein als »Kevin Johnson«, als Bens Trumpf an Bord des Frachters hat damit ein Ende.

Das ist für Michael selbst aber nicht so wichtig, denn er hatte Sayid auf dessen erste Anfrage hin, was er denn auf dem Boot mache, geantwortet: »I’m here to die.« Er bringt das mit ziemlichem Pathos hervor, und sein Satz wirkt auch deshalb ein bisschen lächerlich, weil er vorher schon mehrfach erfolglos versucht hat, sich umzubringen. Toms herrliche Erklärung für seine Fehlschläge: »You can’t kill yourself. The Island won’t let you!«

Und damit sind wir wieder auf der Insel: Dort scheint es mal wieder Zeit für ein neues Level zu sein, sprich: für einen neuen Dharma-Bunker. Diesmal handelt es sich um irgendeinen Tempel, von dem wir noch nichts Genaues erfahren. Alex (Bens Tochter) und Rousseau (Alex‘ Mutter) werden von Ben zusammen mit einem Inselboy (Karl) dorthin geschickt.

Die Fußreise der drei wird jäh durch MG-Salven unterbrochen. Karl ist wohl hinüber, Rousseau zumindest gut getroffen, und Alex lässt die Folge mit einem Schrei ausklingen, adressiert an den unsichtbaren Schützen: »Wait! I’m Ben’s daughter!«

Und jetzt haben wir erst mal einen Monat »Lost«-Pause.

Hexameter-Kritik im Feuilleton

Leipzig, 23. März 2008, 23:49 | von Paco

Eine dem fremdsprachlichen Original adäquate Versübertragung ist immer noch die Königdisziplin unter allen Übersetzungsmöglichkeiten.

Im Rezensionswesen gehört neben der Kritik altägyptischer Papyri sicher die nicht-wohlfeile Hexameter-Kritik in die Schwergewichts­klasse. (Es ginge natürlich auch ganz billig, etwa wenn Zlatko Trpkovski die Blankverse einer Shakespeare-Verfilmung als »Deppengeschwätz« bezeichnet, hehe).

Zuletzt konnte sich die feuilletonistische Kritik an der Hexametrisierung der »Odyssee« durch Kurt Steinmann austoben, die im letzten Jahr in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen ist (übrigens einige Wochen bevor Raoul Schrott mit einem Langartikel in der F-Zeitung eine neue Debatte zur Herkunft Homers in Gang setzte – der Umblätterer berichtete).

Kurt Flasch in der FAZ lobte Steinmanns Neu-»Odyssee«, Johan Schloemann in der SZ verriss sie. Beide kritisierten aber unisono die Umsetzung in deutsche Hexameter. Flasch spricht von einer »Belastung durch das Versmaß«, Schloemann bezeichnet die Übersetzung als »vielfach rhythmisch holprig und sprachlich unelegant«. Zusammengenommen gibt es folgende Kritikpunkte:

– unnatürliche Wortverlängerungen und Verkürzungen (FAZ)
– Verrenkungen der deutschen Syntax (FAZ)
– unnatürlich starke Wortbetonungen (SZ)
– Tonbeugungen bei mehrsilbigen Wörtern (SZ)

In der NZZ lobt dann Hans-Albrecht Koch an Steinmanns Neuübersetzung vor allem die Hexameter, und zwar lustigerweise aus denselben Gründen, aus denen FAZ und SZ die Versifikation ablehnten:

»Nicht mechanisch fällt bei Steinmann immer der Wortakzent mit dem Versakzent zusammen, das nimmt seiner Sprache die Schwere. Das ist in der langen Tradition deutscher Hexameter-Übersetzungen ein wenig gewagt, aber es ist schön und entlastet.«

Jens Jessen in der »Zeit« widerspricht im Übrigen allen anderen, indem er das Hexametrisieren als Bewertungskriterium herabwürdigt:

»(…) die Leistung einer neuen Übersetzung wird niemals in den Hexametern bestehen. Sie sind die leichteste Übung.«

Kaffeehaus des Monats (Teil 27)

sine loco, 21. März 2008, 11:32 | von San Andreas

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Leonar, Hamburg, Grindelviertel

Hamburg
Das Café Leonar am Grindelhof.

(»You had me do a two hour turn around
to Anchorage to pick up bagels––
Maggie zu Joel in »Northern Exposure«
)