Archiv des Themenkreises ›Spectator‹


Die FAS vom 30. 3. 2008:
Peter Rühmkorf, Michael Jackson, Boris Johnson

London, 30. März 2008, 19:40 | von Dique

Aus aktuellem Anlass drängt die Politik ins Feuilleton, die ersten Seiten widmen sich dem Konflikt in Tibet aus verschiedenen Richtungen. Im Interview mit Ai Weiwei auf der Eingangsseite (sehr kurze Fragen, sehr lange Antworten) und in einem sehr guten, wenn auch ernüchternden Gastartikel der Schriftstellerin Jade Y. Chen.

Ein paar Seiten weiter sitzt Peter Rühmkorf auf einer Backsteintreppe an einem Gewässer. »Paradiesvogelschiß« heißt sein neuer Gedichtband, und Patrick Bahners widmet diesem einen langen Artikel. Rühmkorf schreibt zum Beispiel von einem »Marcel Rex Ranitzen« und liefert, wie der Artikel mehrfach bescheinigt, eine Menge medialen Gegenwartsbezug:

»Gedichte, die den Lesenden enteilen,
flott wie bei ntv die Durchlaufzeilen«

À propos Gegenwartsbezug und Federvieh: Paradiesvögel sind das nicht, die sich da wieder vorm Lisboa zusammenrotten, ganz gegenwärtig. Schon morgens auf dem Weg zu meinem Newsagent: Noch ganz verschlafen komme ich um die Ecke, und neben mir schrecken drei Tauben auf, Senkrechtstart, aber irgendwie in Zeitlupe und für meine Begriffe mir viel zu nah. Hellwach und leicht schreckhaft kaufe ich dann die FAS.

Auf dem Foto zum Artikel trägt Rühmkorf übrigens einen Old-School-Trenchcoat. Diese Variante mit all dem Schnickschnack dran, nicht nur Achselklappen und Gürtel, nein, auch noch diese Art Minigürtel um die Unterseite der Ärmel. Dazu rotes T-Shirt, ein holzfällermäßiges Hemd, also kariert, und darüber einen etwas ausgeleierten grau-beige-farbigen V-Pullover. Dann kommt erst der Mantel.

Die Brille ist relativ groß, aber vielleicht nicht groß genug, um trendig zu sein, denn im »Gesellschafts«-Teil erfahren wir, dass große »Streber«-Brillen aus den Achtzigern wieder hitverdächtig sind. Das kommt mir allerdings nicht so neu vor.

Bleiben wir im Ressort, ein paar Seiten vor dem Brillenartikel. Die Politik ist ja heute tief ins Feuilleton gekrochen, das dafür auf die »Gesellschafts«-Seiten weitergezogen ist, möchte man meinen, obwohl das ja auch nicht neu ist.

Es gibt dort einen großen Artikel über Michael Jackson, »King of Pop ohne Reich«, von Alexander Marguier. Auf einem Begleitfoto sieht man ihn mit seinem Sohn an der Hand in Bahrain, und darauf trägt er schwarze Vollverschleierung. Hätte er nicht die obligatorischen schwarzen Loafer mit weißen Socken dazu an, könnte man ihn für eine Einheimische halten.

Daneben ein Artikel über Boris Johnson, den Ex-Herausgeber des »Spectator« und konservativen Bürgermeisteranwärter in London, der im Augenblick anscheinend gute Chancen gegen Ken Livingstone hat.

Der »Spectator« wurde ja erst kürzlich in Folge 63 von Matusseks Videoblog über den grünen Klee gelobt, als eine Institution des Meinungsjournalismus, welche es in dieser Form in Deutschland (natürlich leider) nicht gebe.

Johnson, der »konservative Witzbold«, wird als Kasper, Eigenbrötler und Liebhaber charakterisiert. Ein Luftikus, der sich beim Besuch im Irak kurz nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 aus den Trümmern der Residenz des Außenministers einfach mal eines von dessen Zigarettenetuis eingesteckt hat.

Er hat sich später allerdings in einer Zeitungskolumne selbst angezeigt und jetzt, 5 Jahre danach, kündigt Scotland Yard Ermittlungen an. Johannes Leithäuser kommentiert das in seinem Artikel so:

»Solche Schildbürgereien kommen Boris gerade recht. Er liebt alle Gelegenheiten, die ihm Hohn und Spott für die Bürokratie, für politische Korrektheit oder gesellschaftliche Fortschrittsbemühungen erlauben.«

Ein bisschen erinnert der semmelblonde Johnson, den alle nur Boris nennen, an den verqueren Charakter des Johan Nilsen Nagel aus dem wunderbaren Roman »Mysterien« von Knut Hamsun, der gern Verwirrung um der Verwirrung willen zu stiften scheint und seine Meinung ohne Probleme in kurzer Zeit auch mal ganz grundlegend ändert.

Zurück zum Feuilleton, dort gibt es dann noch eine kleine Rezension zweier Bücher über Frauenthemen oder vielleicht sogar Feminismus von Johanna Adorján. Inhaltlich nicht unbedingt der Brüller, aber wunderbar verpackt von der Autorin, »Allerliebst – Der neue Feminismus ist mädchenhaft brav«.

Usw.


Matusseks Kulturtipp, Folge 63:
Anleitung zum Nein-Sagen

Leipzig, 18. Januar 2008, 09:00 | von Paco

Nach unserer widely popular Enzyklopädisierung von Folge 56 folgt hier die Zusammenfassung für die vorgestern veröffentlichte Folge 63. Inzwischen hat sich einiges getan. Matusseks Vlog erscheint zum Beispiel nicht mehr in einem Pop-up-Window, sondern findet im aktiven Browserfenster statt. Aber das sind nur technische Details, die Serie selbst hat nichts von ihrem genuinen Fortsetzungscharakter verloren. Der rote Handlungsfaden, das Schicksal von Ding, wurde überzeugend in episodale Strukturen eingebettet. Und jetzt das: Ding is history! Scheint’s.

Wir greifen natürlich wieder auf die Diktion des legendären TV-Serien-Lexikons TV.com zurück, auf diese süchtig machende Mischung aus Teaser und historisch-kritischem Apparat. Minutiös werden dort alle möglichen Anspielungen aufgelistet, die zuweilen banale Umstände erklären, die aber offenbar gleich so festgehalten werden sollen, dass sie auch in 100 Jahren noch als Verständnishilfe dienen können.

Matusseks Kulturtipp (2006 and on)

Episode Title: »Anleitung zum Nein-Sagen«
Episode Number: 63
First Aired: January 16, 2008 (Wednesday)
URL: http://www.spiegel.de/video/video-25935.html

Synopsis

German broadcaster NDR (North German Broadcasting) throws a farewell party for its outgoing director Jobst Plog. Matthias Matussek is among the 600 close friends invited to the festivity. On his way to Studio Hamburg he encounters a certain »Dong«, surprisingly sitting next to him in the backseat of his taxi. Matussek now waives his party plans as he cannot be sure about Dong’s manners and demeanor towards the other guests. Back at home, Matussek mentions recent editions of British weekly »The Spectator« and German monthly »Merkur,« the »German magazine for European thinking.« In between, the whereabouts of Ding (»Thing«) which was abducted in episode 59 are brought to daylight. It disappeared into its old surroundings in the Harz Mountains. German chancelière Angela Merkel was involved in the negotiations that led to its release.

Cast

Star: Matthias Matussek (himself)

Recurring Role: Ding (itself), Goethe (himself)

Guest Star: Taxi Driver (himself), Dong (itself)

Memorable Quotes

Dong (deep, mysterious voice): »Nenn‘ mich Dong!«

Matussek (quoting Rainer Paris): »Der Bescheuerte weiß nichts von seiner Bescheuertheit, sondern hält sie oftmals für einen Beweis seiner Unbeugsamkeit und Stärke.«

Matussek: »So, wo war’n wir stehen geblieben, ahja, wir brauchen umbedinkt einen deutschen ›Spectator‹, brauchen wir, wir brauchen mehr Unbescheuertheit, äh, und wir brauchen einen Namen für, für Dong. Weil Dong klingt ziemlich bescheuert, finde ich. Also, wer einen guten Namen draufhat, bitte einschicken, der beste wird dann ausgelost, ausgewählt.«

Trivia

Running time of this episode: 5’33 mins.

Since he’s about to go to a party, Matussek wears no suspenders in this episode after the opening credits.

»Der alte Schirrmacher« (»good old Schirrmacher«) is not mentioned in this episode.

The goodbye party for Jobst Plog took place on January 11th, so this could be the date when the video was created (5 days before its air date).

Introduced is a new character with the temporary name of »Dong,« an onomatopoetic variation of former sidekick »Ding.« Dong is a soft toy, a small devil-like yet somehow cute plush creature with a grey to brown body and a bright face.

According to Matussek, Ding and Dong know each other. Dong also delivers some news about Ding who said it loved its time with Matussek but found it »too exciting.«

Angela Merkel, head of the German government, helped free Ding with her knowledge of Russian. Episode 59 mentioned that the leads pointed to Russia. When Hans Magnus Enzensberger received a call from Ding, it alluded to the name ›Blumencron‹ using a Russian accent. (Mathias Müller von) Blumencron is also the editor-in-chief of »Spiegel Online« and obviously also one of the two new chief editors of »Spiegel« magazine.

Matussek mentions a recent issue of »The Spectator.« He references two articles: one by Diana Rigg, who wrote about why she »can’t bear fat people,« and another one by Rod Liddle (Matussek: »my favourite punk!«), about spending time with his bothersome children. Matussek praises »The Spectator« for starting debates and, as this kind of opinion-driven journalism is missing in Germany, he calls for »a German Spectator.«

Next up is the lead essay of the current issue of »Merkur« (pp. 1–9), written by sociologist Rainer Paris. Its title »Bescheuertheit« roughly translates as »daftness« or, in a more appropriate diction, as »crackbrainedness« (since this is as infrequent a word as »Bescheuertheit«). The unusual title bears a striking
resemblance to Harry G. Frankfurt’s essay »On Bullshit« which appeared in 1986 and was republished in a more successful separate edition in 2005. Matussek wants to generally replace the term »political correctness« with the newly coined term »Bescheuertheit« since the latter term fitted better.

Although »Ding« seems to be history now, Matussek bids it farewell with the words »Bis bald!« (»See you soon!«) Only a phrase? Or is there more to it?

Allusions

This episode’s title, »Anleitung zum Nein-Sagen«, could be a nod to the book »Anleitung zum Unglücklichsein« by Austrian psychologist Paul Watzlawick (English title: »Situation is Hopeless, But Not Serious: The Pursuit of Unhappiness«). It appeared in 1983 and triggered a whole series of »Anleitung zum …« titles such as Florian Illies‘ »Anleitung zum Unschuldigsein« (2001) and others.

When Matussek states that it is unsafe to use the metro these days, he gives an unexpected reason, mentioning Jens Jessen, chief editor of the cultural pages of German weekly »Die Zeit«, who is supposedly waiting for Matussek to treat him with a convoluted umbrella for being an old »Nazi pensioner.« This is a reaction to Jessen’s vlog entry from January 11th, entitled »Bauschen besserwisserische Rentner die Debatte um kriminelle Jugendliche auf?«. Matussek doesn’t react directly to it at first, but he later implies a correlation between Jessen’s rant and »crackbrainedness.«

Dong’s order »Nenn‘ mich Dong!« (»Call me Dong!«) evokes the beginning of Herman Melville’s meganovel »Moby Dick« which commences with the infamous words »Call me Ishmael.«

Since the new sidekick is a little devil it is only logical that it starts to quote Mephistopheles, Faust’s devilish counterpart in Johann Wolfgang von Goethe’s play »The tragedy of Faust.« These lines originate from an early scene in Faust’s study. The poodle brought along by Faust transforms into Mephistopheles, who introduces himself as »Part of that power which still / Produceth good, whilst ever scheming ill.«

Peter Stein, credited as director of the Mephistopheles/Matussek dialogue, is best known for his recent efforts of putting on stage the two parts of Goethe’s »Faust« (2000) and Schiller’s »Wallenstein« (2007), both at their insanely full length.

There is another quote out of »Faust« towards the end of this episode: »Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Taten sehn!« Anna Swanwick translates, »A truce to words, mere empty sound, / Let deeds at length appear, my friends!« The two verses are originally spoken by the theatre manager in the »Prologue for the Theatre.«

Dong! The temporary name of the new sidekick. We won’t even dig into the meaning of it (hehe). Matussek is obviously aware of the implications, and he asks the audience for help. What could be a proper new name for the Dong thing? Obvious proposals would include: Mephisto, Meffi, Deibel, Taxivieh, Flocke, Christoph. Other suggestions?