Archiv des Themenkreises ›FAS‹


»Nicht Martin — Robert Walser!« Ein Nachruf auf Jochen Greven

Konstanz, 7. April 2012, 14:45 | von Marcuccio

Was für ein blinder Fleck der Wikipedia: Zur Ehre eines Eintrags kam er erst postum. Am 2. April startete die enzyklopädische Ad-hoc-Inventarisierung von Jochen Greven. Noch vor wenigen Wochen musste, wer für 2012 seinen 80. Geburtstag auf dem Schirm hatte, den Libelle-Verleger Ekkehard Faude nach dem genauen Datum fragen.

Eigentlich wollte ich ihn noch für ein Porträt treffen, den neben bzw. nach Carl Seelig wohl wichtigsten Menschen für die andauernde Wiederentdeckung von Robert Walser: Jochen Greven schrieb nicht nur die erste deutschsprachige Dissertation über Walser; »praktisch im Alleingang« (Reto Sorg) gab er auch das Gesamtwerk heraus. Zunächst in 12 Bänden für den Genfer Kossodo-Verlag, später dann »Sämtliche Werke in Einzelausgaben« für den Suhrkamp-Verlag.

Wie Greven dabei Seelig und die Seinen überwand, überwinden muss­te, das gehört zu den Lehrstücken der Literaturbetriebsgeschichte, die man nachlesen kann, und zwar in dem Buch, das der Libelle-Verlag zu Walsers 125. Geburtstag veröffentlicht hat: »Robert Walser. Ein Außenseiter wird zum Klassiker«. Es ist Grevens eigentliches Vermächtnis, das Begleitschreiben zu seinem editorischen Lebenswerk.

Lauter unerhörte Begegnungen

»Sie haben ja«, so Greven darin in einem fingierten Brief an den Schriftsteller, »noch gelebt, als da in einer westdeutschen Stadt ein unbedarfter junger Mann, nur weil er irgendein Thema für seine Dissertation suchte, sich unvorsichtigerweise mit Ihren Werken zu beschäftigen begann.«

Die westdeutsche Stadt war Köln, und der Doktorvater hieß Wilhelm Emrich. Der Clou: Weder er noch sein Schützling hatten zu dem Zeitpunkt je ein Buch von Robert Walser gelesen.

Tatsächlich fängt »die Robert-Walser-Story« nicht nur mit dieser unerhörten Begebenheit an. Greven, der früh geheiratet und schon als Student eine ganze Familie zu ernähren hatte, war vor und neben seiner Walser-Herausgeberschaft: Handlungsreisender für Schokoladenformen. Sein Schwieger-Großvater besaß eine solche Fabrik und – keine Ahnung, ob damals auch gerade große Hohlkörperzeit, sprich Ostern war. Es begab sich jedenfalls, dass Greven im Frühjahr 1956 als Vertreter zu Maestrani nach St. Gallen fuhr. Von da wäre es den sprichwörtlichen Katzensprung hinauf nach Herisau gewesen. Noch Jahrzehnte später malt Greven sich aus, was passiert wäre und ist dankbar, dass es nicht zum »Alptraum einer persönlichen Begegnung« gekommen ist.

Ziemlich fies auch Grevens erstes Treffen mit Carl Seelig 1957 in Zürich (diesmal am Rande einer Vertreterreise zu Lindt & Sprüngli). Wer die »Wanderungen mit Robert Walser« kennt, könnte meinen, Seelig sei der Altruismus in Person gewesen. Was ja finanziell stimmt; nur wie Seelig sich über Walsers Tod hinaus als dessen Vormund begriff, das hat fast possenhafte Züge. Bei Greven erfährt man auch, wie systematisch Seelig jede Anwandlung einer Besuchsidee abgeblockt hat. Unter anderem bedeutete er Walser-Fans wie Theodor Heuss, Joseph Breitbach und Hermann Hesse, bloß nicht nach Herisau zu fahren. Wenn es nach Seelig gegangen wäre, hätte nach ihm auch niemand mehr über Walser geforscht. Sein Andenken sollte das maßgebliche bleiben. Dann kam Seelig unter die Straßenbahnräder und doch alles anders.

Unerhört, welche Arbeitsbedingungen der von der Carl-Seelig-Stiftung als Walser-Herausgeber eher geduldete als bevollmächtigte Greven zu akzeptieren hatte: Einblick in die Walser-Autografen wurde ihm nur stundenweise gewährt, und bitteschön während der Öffnungszeiten der Anwaltskanzlei von Dr. Elio Fröhlich, dem Walser-Nachlassverwalter (in seiner Funktion als Präsident der Stiftung, die bis heute sämtliche Rechte an Walsers Werken hält) in der Zürcher Bahnhofstrasse. Greven war sogar extra an den Bodensee gezogen, damit er kostengünstig nach Zürich pendeln konnte. Personenfreizügigkeit war noch genauso wenig erfunden wie ein simpler Kopierer. Greven musste Manuskript um Manuskript erbeten. Kein Wunder, dass das Jahre später doch noch ein Ventil brauchte.

Die Walser-»Chitti«

Chitti? Ja, Berndeutsch für gewollten Streit. Zoff, Boom, Bang. Es war, pünktlich zu Walsers 100. Geburtstag, die Literaturbetriebsfehde des Jahres 1978. Action-Feuilleton zwischen Jochen Greven und Elio Fröhlich. Ausgelöst wurde die Walser-Chitti durch ein indiskretes Typokript, in dem Greven sich den geballten Frust von der Seele schrieb, dass man nach Abschluss der Werkausgabe nicht ihn mit der Entzifferung der Mikrogramme betraut hatte, sondern die nächste Generation: »Robert Walsers Sachwalter«, heute im DLA Marbach verwahrt, war ein Rachepapier: »Ich vervielfältigte […] und verschickte es […] an rund fünfzig mir mehr oder weniger gut bekannte Literatur­redakteure, Kritiker, Germanisten, Schriftsteller, Buchhändler […].«

Editionspsychologen (jawohl: Psychologen!) werden in Grevens Erinnerungen indes mancherlei Anschauungsmaterial finden, warum Philologen, die mit literarischen Nachlässen befasst sind, zu so etwas fähig sind. Die unsexy Melange aus entbehrungsreicher Editionsarbeit und seltsamen Schikanen im Sozialgefüge literarischer Nachlassverwalter und selbstherrlicher Stiftungen scheint solche Abrechnungen manchmal geradezu zu provozieren.

Wirklich ungnädig blieb Greven nur in einem Punkt: der Tatsache, dass Walser zwar Suhrkamp-Klassiker war, aber dort nie mehr als ein Paperback-Autor wurde.

Und wo Peter Richter gerade eine Bresche für die Ironie geschlagen hat: Robert Walsers Poetik, »für Erzernsthafte ein wenig komisch« auszusehen, gehört da unbedingt dazu – Greven hat ihm schon 1960 »totale Ironie« bescheinigt und später erläutert:

»Viele Elemente dieses Sprachtheaters sind uns inzwischen längst geläufig, sie gehören zum Alltagsstil unsrer Feuilletons, zum Konversationston der Gebildeten – anders könnten wir gar nicht mehr miteinander kommunizieren, so kommt es uns vor; die Komplexität unserer Bewusstseinswelten braucht diese doppelten und dreifachen Böden des Ausdrucks, und sie braucht nicht zuletzt auch das Moment an humaner Skepsis, das dabei mitschwingt. Danke also, Herr Walser, für Ihr Entdecken, Ausprobieren, Einüben!«

Schönere Komplimente eines Herausgebers kann es nicht geben. Greven selbst wäre nachzurufen, dass ihm durchaus gelungen ist, was er zeitlebens als seine Mission ansah (sinngemäß): Leute dazu zu bringen, bei Walser nicht mehr nur einen zu denken, sondern vielleicht sogar mit Nachdruck zu sagen: »Robert, und nicht Martin!«

Vgl. auch die Nachrufe von Susan Bernofsky und Manfred Bosch.
 


»Slavoj Žižek gewidmet«

Paris, 27. Februar 2012, 14:17 | von Paco

Sonntagmorgen, die Glocken der serbisch-orthodoxen Kirche nebenan taten ihr Werk, und eineinhalb Croissants und zweieinhalb FAS-Artikel später waren wir schon auf dem Weg. Wir wollten nämlich in die Ai-Weiwei-Ausstellung im Jeu de Paume gehen, um uns darüber lustig zu machen, fanden sie aber dann doch ganz gut.

Eigentlich wollte ich noch was anderes erzählen. Und zwar haben wir vor ein paar Tagen in der Cité de la musique ein neues Stück des Komponisten Brice Pauset gehört, eine Variation auf Motive von Beethoven und Mao Zedong. Und im Programmheft stand tatsächlich Folgendes: »La pièce est dédiée à Slavoj Zizek.«

Es gibt also tatsächlich Leute, die dem Joachim Gauck der Philosophie ein Musikstück widmen, ein unbegreiflicher Akt ambitionierter Klugheit, wunderbar!

Als wir dann gestern aus dem Jeu de Paume kamen, spazierten wir gemächlich zurück nach Hause und gingen später ins Restaurant an der Ecke, wo wir, wie so oft, den ganzen Abend über Griechenland sprachen.
 


Ein Interview mit dem Interviewmüller

Konstanz, 21. Februar 2012, 13:04 | von Marcuccio

Moritz von Uslar gegen Jahresende in der »Zeit« (Nr. 50/2011): »Warum habe ich den Interviewer André Müller nie interviewt?«

Vor gut einem Jahr, am 10. April 2011, ist der Interviewmüller gestorben. »Interviewkünstler« haben ihn die Nachrufe genannt. Interviews mit dem Interviewer gibt es kaum, und in Uslars Frage schwingt mit, was für ein kulturhistorisches Versäumnis das ist.

Einige wenige gibt es immerhin doch (Claudia von Arx für NZZ Folio 1997 und, besonders toll, das Videointerview mit amadelio von 2007). Und Volker Weidermann hat ihn zum Gespräch getroffen und dieses dann im Januar 2011 für die FAS beschrieben.

Beim Entstauben der Bücherregale habe ich nun in einem Handbuch für Journalisten noch ein weiteres leibhaftiges Interview mit André Müller entdeckt, geführt von Michael Haller im Februar 1990. [*] Ein Werk­stattgespräch mit hervorragendem Material für Zitatdatenbanken.

Haller fragt Müller sinngemäß: Warum eigentlich Interviews, und nur Interviews?

Das habe, wie so typisch bei den Großen, banalere Gründe als man denkt. Interviews seien einfach das gegen Redigiermaßnahmen am besten gefeite Genre gewesen. Müller:

»Ich hatte mit anderen journalistischen Formen überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich ein Feature schrieb, für den ›stern‹ zum Beispiel, dann wurde mir der Text in der Redaktion umgeschrieben. Mich ärgerte das.«

Für die Spezialisierung auf Interviews sprach aber nicht nur das Redigierungsgebaren, sondern auch die Einkommensfrage. Müller:

»Ich begriff, dass dies eine Form ist, mit der ich rasch auf einen großen Umfang komme. Das wirkt sich im Honorar aus. Einen ähnlich langen Text selbst zu erarbeiten, kostet viel Anstrengung.«

Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel

Auf Hallers Frage, wie das eigentlich mit dem Warm-up in Interviews vonstatten gehe, hat Müller eine aparte Anekdote zu Ernst Jünger parat:

»Sie wissen ja, wenn man jemanden interviewt und der macht zu Beginn des Gesprächs ein paar Witze, dann lacht man als Interviewer einfach mit, ob man diese nun lustig findet oder nicht. Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel. Ganz zu Beginn habe ich ein, zwei Mal mitgelacht. Doch er hat sein Lachen, als meines einsetzte, abrupt beendet. Ich verstand: Er verbittet sich jede Solidarisierung, jede Annäherung. Das war ein sehr schönes Erlebnis für mich.«

Irgendwann geht es dann darum, dass die besten Interviews die sind, bei denen Interviewer und Interviewter in stiller Übereinkunft wissen, dass sie Leser bedienen müssen und sich die Bälle deswegen ruhig ein bisschen zuspielen:

»Thomas Bernhard sagte mal zu mir: ›Es ist wurscht, was Sie schreiben; schreiben Sie, wie Sie es haben wollen.‹«

Daraufhin stellt Haller die (heute muss man sie so nennen) Tom-Kummer-Frage: »Erfinden Sie im Spiel auch Dialoge – oder müssen die sich real ereignet haben?« Müller:

»Ich habe mich mal als Theaterstückeschreiber versucht, es aber dann bleiben lassen: ich kann keine Dialoge erfinden. Ich benötige das tatsächlich stattgefundene Gespräch.«

Haller spricht Müller daraufhin auf das Interview »mit Ihrer eigenen Mutter« an (»Die Zeit« Nr. 40/1989): »Die Frau, ungebildet und offenbar Alkoholikerin, war betrunken, gelegentlich flossen Tränen. Doch die Sprache, die Sie Ihrer Mutter in den Mund legen, ist ungeheuer prägnant, von literarischer Qualität. Der Text hat Tiefe, die ein Interview eigentlich nicht erreicht.«

Woraufhin Müller zugibt, dass das Gespräch in diesem Fall »nur den Stoff für den Text« geliefert habe:

»Ja, ich habe ihn gestaltet wie ein Stück Literatur, mit Spannungsbögen, mit Dehnungen und Verkürzungen. Es sind meine Formulierungen.«

Vom Stoff sprach und spricht ja auch Kummer immer gern, wenn er sinngemäß sagt, er habe nur den Stoff geliefert, den die Medien von ihm wollten. Die feinen Unterschiede zwischen einer Müllermutter-Interviewmontage und der ins Interviewformat gegossenen Hollywood-Fanfiction eines Tom Kummer hätte man von der Journalistik und/oder Literaturwissenschaft aber schon noch mal gerne aufgearbeitet.


[*] Das ganze Interview: »Nein, ich habe kein Schamgefühl«. Ein Gespräch mit dem hauptberuflichen Interviewer André Müller über seine besondere Art, Gespräche zu führen. In: Michael Haller: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. München: Ölschläger 1991. Alle Zitate aus der 2. Auflage, Konstanz: UVK 1997, S. 419–429.
 


Landschaftsmalerei

Hamburg, 7. Februar 2012, 02:46 | von Dique

In seinem FAS-Artikel über die Claude-Lorrain-Ausstellung im Frankfur­ter Städel erwähnt Peter Richter gleich mit den ersten beiden Wörtern Bob Ross, den Fernseh­maler. Sofort erscheint er vor meinem geistigen Auge, samt seiner Lockenpracht und seiner beruhigenden Stimme. Das letzte Mal habe ich ihn in »Peep Show« gesehen, ganz kurz nur. Mark und Jeremy schalten spontan rüber zu seinem Dauermalprogramm, und »God« beschäftigt sich gerade mit einem schönen wolkigen Himmel.

Zwischen Claude Lorrain und Ross liegen zwar kunsthistorische Welten, aber beide haben sich überwiegend der Landschafts- und damit zwangsweise auch der Himmelsmalerei gewidmet, der eine als barocker Superstar, der andere eben als Fernsehmaler. Was für eine schöne Berufsbezeichnung übrigens und wie schön würde das auf einer Visitenkarte aussehen.

Der Peter-Richter-Artikel kommt gleich zu Beginn auch auf Vitali Komar and Alexander Melamid zu sprechen, die Mitte der Neunziger den all­gemeinen Geschmack mit klassischen Befragungstechniken statistisch erfassen wollten, »intending to discover what a true ›people’s art‹ would look like«. Heraus kam jedenfalls, dass in fast allen Ländern (außer Italien und Holland) das landschaftliche Bild bevorzugt wird und dass abstrakte Formen nicht so gern als gute Kunst wahrgenommen werden. »Truth is a number«, sagt Alex Melamid noch, und wenn das stimmt, dann sollte die Frankfurter Ausstellung ein Hit werden.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2011

Leipzig, 9. Januar 2012, 00:20 | von Paco

Maulwurf popping up!Nur schnell die übliche kurze Ankündigung: Der Maulwurf steht wieder vor der Tür. In ca. 24 Stun­den kürt Der Umblätterer zum siebten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2011). Und um gleich mal den BVB-Torwart Roman Weidenfeller zu zitieren: Die deutschsprachigen Feuilletonisten »have a grandios Saison gespielt«, auch 2011 wieder, und zwar alle.

Schon bis zum Frühjahr war ja mehr passiert als in so manchem Jahrzehnt der vorhergehenden Jahrhunderthälfte zusammen­genommen. Und es gab dementsprechende feuilletonistische Fort­setzungsgeschichten. Die meisten Ereignisse wurden auch von den anderen Ressorts abgedeckt, aber richtig in seinem Element war das Feuilleton bei den Telenovelas um Guttenbergs Doktorarbeit und die sympathische Beltracchi-Fälscherbande mit ihrer zusammengefakten »Sammlung Jägers«.

Eine weitere feuilletonistische Großtat war die Idee der FAZ, Hans Ulrich Gumbrecht ein eigenes Blog zu geben, »Digital/Pausen«, und es ist eigentlich ein eigenes Subfeuilleton, ein intellektueller Playground mit einer markanten Themenwahl und einmaligem analytischem Durchstich. Zwischendurch gab es am 9. Oktober noch die »Jahrhun­dert-FAS« mit superster Staatstrojaner-Coverage – die Ausgabe war sofort vergriffen, die entsprechenden Seiten 41–47 gab es dann aber schnell als PDF zum Download (zu diesem Feuilletonevent gehört unbedingt auch der »Alternativlos«-Podcast Nr. 20 vom 23. Oktober).

In der SZ, der NZZ, der TAZ, der WELT, dem SPIEGEL, der ZEIT und im FREITAG standen natürlich auch wieder die unfassbarsten Sachen drin. Die Idee des Goldenen Maulwurfs ist ja, die noch nie falsifizierte Großartigkeit eines Feuilletonjahres in den zehn angeblich™ besten Artikeln zusammenzufassen. Das ist bei einer Longlist von diesmal 51 Artikelvorschlägen eigentlich zu knapp, aber wir werden es wieder hinkriegen. Dazu dann morgen mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005   (#1 Stephan Maus/SZ)
2006   (#1 Mariusz Szczygieł/DIE PRESSE)
2007   (#1 Renate Meinhof/SZ)
2008   (#1 Iris Radisch/DIE ZEIT)
2009   (#1 Maxim Biller/FAS)
2010   (#1 Christopher Schmidt/SZ)
2011   (#1 ???/???)

Am Dienstag im Morgengrauen dann also die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2011. Hier.

Bis gleich,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 
(Bild: Wikimedia Commons)


MRR in der FAS

Hamburg, 20. Dezember 2011, 11:30 | von Dique

Am Sonntagvormittag hatte auf Facebook jemand gefordert, dass man die Rubrik von Reich-Ranicki in der FAS »endlich abschalten« solle, in der er seit Jahren nur mehr »vor sich hin lalle«, besonders wieder in der aktuellen Ausgabe. Ich erinnerte mich wieder daran, als ich ein paar Stunden später irgendwo die FAS kaufte. Noch auf der Straße blätterte ich sofort ins Feuilleton, zu »Fragen Sie Reich-Ranicki«, diesmal auf Seite 30 gelegen, und ich weiß nicht genau, womit ich nach der morgendlichen Beschwerde gerechnet hatte, jedenfalls war die aktuelle Folge der MRR-Rubrik eine der allerbesten, die ich jemals gelesen habe.
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (3/2011)

Leipzig, 2. November 2011, 07:30 | von Paco

Masuren

1. Am 30. August: Epiphanie.

2. Und am 4. September stand unser Slogan ganz groß in der FAS: »Das beste Feuilleton der Welt«. Erschrocken.

3. Pläne, den Umblätterer einzustellen.

4. »Kein Mensch in Paris weiß in Wahrheit, wer Habermas ist.« (Raddatz)

5. Vorschlag für eine Neuübersetzung des Begriffes ›Lumières‹: Leuchtgebiete.

6. Getting closer: DER GOLDENE MAULWURF 2011. Am Dienstag, 10. Januar 2012.

7. »Hegel, der größte Maulwurfsversteher aller Zeiten« – Jasper von Altenbockum im besten Maulwurf-Artikel des Jahres, der auch noch in der sowieso schon epochalen Jahrhundert-FAS stand.

8. »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.« (Niklas Maak) +1!

9. Weil ständig gefragt wird: Hier eine unvollständige Liste mit ein paar Presseberichten aus den letzten 100 Jahren Umblätterer.

10. »Mehr Vorworte!« (Goethe)

 
Was bisher geschah:
 
Vorwort Nr. 1/2011Nr. 2/2011

 


Der Staatstrojaner — Was davor geschah

St. Petersburg, 11. Oktober 2011, 15:18 | von Paco

»Die Algorithmen müssen in Narration übersetzt werden«, hat Frank Schirrmacher vor einiger Zeit zu Alexander Kluge gesagt. Und exemplarisch wurde das jetzt mal anhand des »Staatstrojaners« getan, inkl. disassemblierten Codeschnipseln über mehrere Seiten hinweg. (Btw, Frank Rieger ist ein begnadeter Algorithmen-in-Narration-Übersetzer.) Die FAS vom letzten Sonntag war aber weit mehr als der Bundestrojaner-Showdown. Sie war insgesamt genommen mal wieder eine Jahrhundert-FAS. Schon der übliche Literaturbeilagenbandwurmtext »Die Suada« trug dazu entscheidend bei, geschrieben wie immer von den wahnsinnigen Archivaren des FAS-Feuilletons. Kurz gesagt:

Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.

Am Samstagmorgen hatte ich allerdings noch keine Ahnung vom Inhalt der morgigen FAS. Da saß ich gerade in der Küche und pulte eine gute Stunde lang ohne übertriebene Hast das Preisschild von einem Buch ab (das ich im Dom Knigi gekauft hatte, dort verwenden sie immer diesen mit Staub und Mikrofasern gestreckten Preisschildkleber noch aus Sowjetzeiten). Während ich das tat, beantwortete Denis Scheck im Deutschlandradio Kultur gerade zwei Stunden lang ausführlich Hörer­fragen. Wie schön! Ich könnte Denis Scheck stundenlang zuhören (guilty pleasure), aber irgendwann war die Sendung vorbei, was gut war, denn ich hatte inzwischen unbemerkt den Buchumschlag fast durchgescheuert.

Und ich musste mich beeilen, ich war nämlich auf der Jelagin-Insel zu einem Spaziergang verabredet, wo es um diese Jahreszeit aussieht wie in einem Rilke-Gedicht:

Im Kirow-Park auf der Jelagin-Insel

Ivan Jelagin, der den schönen Vatersnamen Perfiljewitsch trug, war ungefähr der Joseph Sonnenfels des russischen Zarenreiches, umtriebig und in allem weit ausholend, sodass ihn später keiner mehr auf einen Nenner bringen konnte und er deshalb leichter vergessen werden konnte. Mitten zwischen den Dingen hat er zum Beispiel auch noch Katharina der Großen bei ihren Lustspieldichtungen geholfen. Und dafür und noch für ein paar andere Sachen hat er dann dieses schöne Inselgeschenk erhalten. Den neuen Palast auf seiner Insel hat er allerdings nie gesehen, er stammt aus dem 19. Jahrhundert, einer der sehr vielen Carlo-Rossi-Prunkbauten in St. Petersburg und wie so oft nur eine Ausrede, mal wieder ein gutes Dutzend Säulen zu verbauen. Hier mit der berühmten saftigen Butterwiese davor:

Jelagin-Palais mit Butterwiese davor

Am Nachmittag war ich wieder im Zentrum und traf mich mit Baumanski auf ein paar Pyshki in einer Bäckerei am Ploschad Wosstanija. Viel Neues gab es nicht zu bereden, die FAS war ja wie gesagt noch nicht erschienen, und so entschieden wir uns, warum denn auch nicht, endlich mal für einen Besuch im Polarmuseum in der Uliza Marata, denn die hatten kürzlich ein neues lebensgroßes Eisbärenmodell reinge­kriegt, das auf den Namen Artur hört, und das mussten wir natürlich sehen.

Das Museum ist ja in einem grandiosen alten Kirchenbau unterge­bracht, zweckentfremdet im Namen der gesamtgesellschaftlichen Revolution schon in den 30er Jahren:

Arktis- und Antarktismuseum in St. Petersburg

Beim Reingehen reißt man sofort erschrocken den Kopf nach oben, denn dort schwebt eine originale Schawrow Sch-2, ein Amphibien­flugzeug, dessen Flügel bis weit in die Seitenschiffe der alten Kirche hineinragen. Was für eine unfassbare Installation, unbedingt ansehen! Und auch sonst ist das Polarmuseum in St. Petersburg unbedingt unser Museum des Jahres.

Erschöpft gingen wir nach zweieinhalb Stunden Arktis und Antarktis weiter zum Abendessen in das georgische Spitzenrestaurant in der Borowaja Uliza, Chatschapuri und Chinkali für alle, und einige Zeit später fanden wir uns wie so oft in diesem neuen Artspace »Taiga« an der Dworzowaja Nabereschnaja wieder. Wir trafen dort u. a. den Nightlife-Fotografen Sergey Yugov, der gerade dieses schöne Foto geschossen hatte (© bei ihm):

(c) Sergey Yukov

Irgendwann wurde es unheimlich dort, denn ein paar Leute lobten sehr lang und breit und laut und einen Tick zu offiziell den niederlän­dischen Geheimdienst, er sei der beste der Welt, aus den und den Gründen (»Ich wusste bis vorhin gar nicht, dass es den gibt.« – »Eben!«), und jedenfalls gingen wir dann mit dem berühmten Nightlife-Fotografen noch woanders hin, Richtung Dumskaja, zu dieser Club-Favela mitten in downtown St. Pete.

(…)

(…)

(…)

In den späten Morgenstunden saß ich dann wieder in der Galerie und las bei faz.net mit großer Hingabe die ganzen Artikel über den gehackten Staatstrojaner. Bei einer solchen Informationslage war an Schlaf erst mal nicht zu denken, ich ging also sofort wieder los und besorgte mir die erwähnte Druckausgabe der erwähnten aktuellen Jahrhun­dert-FAS und ging damit wiederum ein paar Pyshki essen und las und las und war nach ein paar Stunden zu müde zum Weiterlesen und ging nach Hause und löste dann zur Entspannung erst mal noch schnell das Kreuzworträtsel in der aktuellen SUPERillu, die mir Josik aus dem Air-Berlin-Flieger mitgebracht hatte.

Usw.
 


Denis Schleck

Konstanz, 10. April 2011, 17:47 | von Marcuccio

Vorsommer statt Nachsommer (Stifter), und endlich wieder Feuilleton im Freien! Außerdem, zumindest in Süddeutschland, sogar schon Erntezeit fürs Bärlauch-Pesto. Oder lieber erst mal ein Waldmeister-Eis?

»Zum Glück besitze ich eine Eismaschine«, sagt Denis Scheck, gestern in der taz. Und löst auch gleich ein, was er letzten Herbst in der FAS eingefordert hat:

»Wir brauchen mehr Kritik, nicht nur in der Literatur, sondern überall. Ich wünsche mir Anzugkritik, Wurstkritik, Autokritik […].« (FAS vom 26. September 2010, S. 57)

Jetzt also: Die Eissortenkritik

»Waldmeister war als Kind meine Lieblingseissorte«, erzählt uns der Ed von Schleck des Feuilletons und verweist aufs Waldmeister-Standing im Eissortenkanon alt:

»Ich würde sogar sagen, in den sechziger, siebziger Jahren nahm es nach Vanille, Schokolade und Erdbeere den vierten Platz ein. Als Waldmeister-Fan war man damals weniger einsam denn als FDP-Wähler.«

Die Frischdroge Waldmeister im Eis: Sozusagen der deutsche Gastarbeiterbeitrag zur italienischen Erfindung – oder mit Waldmeister-Fürsprech Scheck: »die einzige traditionelle Sorte, die hierzulande erfunden wurde«. Mittlerweile ist sie ja fast ausgestorben:

»Irgendwann kam raus, dass im Waldmeistereis Cumarin enthalten ist. (…) Schlimm, schlimm. Ich glaube, man hätte hundert Kugeln essen müssen, um davon leberkrank zu werden.«

Nichtsdestotrotz: »Anfang der Achtziger wurde Waldmeister als Zusatz im gewerblichen Lebensmittelhandel verboten.« Und damit wären wir wieder bei Schecks Eismaschine:

»Statt Vanille nehme ich einfach Waldmeister und jage das durch mein Gerät. Das Kraut selbst ist ja nicht verboten. Ganz quirlig sieht das aus, wie kleiner Farn und wächst unter Buchen und Eichen.«

Waldmeister. Waldmeister. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. Klingt so wunderbar wie Waldteufel und Waldmüller. Klingt außerdem nach selbst gewittert, eigenhändig gepflückt. Scheck (er muss ja Bücher lesen) hat für sowas natürlich einen »Kräuterhändler«, aber immerhin ein eigenes Maibowlenrezept:

»Schmeckt auch wunderbar, wenn Sie daraus Halbgefrorenes fabrizieren.«

Und das ist das wirklich Sympathische: Dass Scheck an dieser Stelle nicht »Semifreddo« sagt. Zeitschriften wie »Landlust« sollen ja schließlich auch noch ein paar Distinktionsvokabeln zur Hand haben, wenn es demnächst heißt: Waldmeister ist der neue Bärlauch.