Archiv des Themenkreises ›Die Zeit‹


Voyage Voyage (Teil 4):
Die Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi

Konstanz, 16. Dezember 2009, 10:33 | von Marcuccio

Und auch heuer gab es wieder ein paar schöne Reise-Stücke. Da wäre zum Beispiel Claus Spahns Weinreise durch die Saale-Unstrut-Region (Die Zeit 42, 8. 10. 2009).

Das Highlight dieses Artikels war die unverhoffte Berührung mit einer Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi. Für Freunde der Antonomasie gab es aber erst mal einen O-Ton vom Geschäftsführer des Nietzsche-Weinguts Kloster Pforta (»Wir sind das Kloster Eberbach des Ostens«), wenig später ging es dann um das Für und Wider einer Degustation von Bernhard-Pawis-Weinen beim Winzer selbst oder eben auswärts, zum Beispiel

»auf der Terrasse des Hotels Rebschule bei Naumburg (…), mit herrlichem Blick über die Weinberge. Aber da serviert man ihn auf einer blassgelben Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi, wie sie einst in den Schrebergärten beliebt war.«

Peng, und das Ding ist da, das Ding hat sogar endlich einen Namen, was es bei mir bis hierher noch nie hatte. Mein bescheidenes Sprachzentrum hatte sich schlicht und ergreifend noch keinen Begriff von diesem Ding gemacht, das, meine ich, auch als Unterbau des berühmt-berüchtigten Kännchenkaffees zum Einsatz kommt. Ich glaube sogar, dass ich mich in einem unbeobachteten Augenblick schon einmal getraut habe, so ein Häkeldeckchen aus wetterfestem Weichgummi anzufassen.

Vom natürlichen Weichgummivorkommen ist es dann auch nicht mehr weit bis zum Gustav Seibt für Weinverkoster:

»Die Gastronomie will nicht davon lassen, (…) die Käseplatte zum Wein mit frisch aus der Folie gepelltem Schmelzkäse zu bestücken.«

Die Besichtigung der von Neo Rauch gestalteten Domfenster (»Soviel Pathos spült man am besten mit einem extra säurebetonten Riesling hinunter«) endet dann auf dem Naumburger Weinfest:

»Ein verliebtes Paar teilt sich einen Rotkäppchen-Piccolo. Die Rentnerpaare sitzen sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander und starren schweigend in die Probiergläser.«

Sideways an der Saale-Unstrut. Zum Wohl!


Vier Nachrufe und ein Todesfall

Konstanz, 7. November 2009, 16:49 | von Marcuccio

Bestattungskultur und Feuilleton, das latente Novemberthema. Todesfall der Woche natürlich Claude Lévi-Strauss (»Strooß« in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens; »Strauß« wie Franz Josef in der ARD-Tagesschau). Im Perlentaucher vom Donnerstag hieß es:

»In der FAZ erhält Claude Levi-Strauss ein dreiseitiges Staatsbegräbnis«

Und das war doch mal ein schönes Stück Teaser-Text. Mir gefällt wirklich nur dieses Bild, dieses Bild vom

»FAZ-Gegenstück eines Staatsbegräbnisses«

oder, platztechnisch gesprochen: »Titelfoto und dann ganze drei Feuilletonseiten«.

Und dann fällt mir Volker Hage ein, der neulich (wie angekündigt) sein Spektrometer literaturkritischer Textsorten vorgelegt hat. Das Buch enthält auch vier exemplarische Nekrologe. Wenn man Hages Nachrufe jetzt mal mit der Perlentaucher-Bestattungsmetaphorik kurzschließt, lassen sich folgende Ereignisse rekonstruieren:

Max Frisch († 1991) – bekam seinerzeit auch ein Staatsbegräbnis (4 Seiten in der ZEIT),

Jurek Becker († 1997) – eine ganz normale Erdbestattung (1 Seite im »Spiegel«),

John Updike († 2009) – eine Totenwache bei SPON.

Für Ulrich Plenzdorf († 2007) – aber blieb nur ein anonymes Urnen-Schließfach im »Spiegel«-Register (»Gestorben«).

 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (3/2009)

Paris, 22. Mai 2009, 09:19 | von Paco

les pâquerettes dans le pré

1. Zulu–Romeo–Romeo! Nach dem ersten und zweiten hier nun das dritte Vorwort zum lfd. Feuilletonjahr.

2. Der Umblätterer – Feuilletonismus und Maulwurfsforschung.

3. Wie jedes Jahr am 23. Mai, dem Tag der Gründung der BRD, wird es morgen eine schöne Massakerminiatur von John Roxton geben.

4. Dialog, unfreiwillig mit angehört: »Und du?« – »Ich komm aus Göttingen.« – »Göttingen kenn ich, da studiert meine Mutter.«

5. Zehn Jahre Tristesse Royale (24.-26. April 1999). »Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten.« (S. 138)

6. Er schrie mich völlig ungehalten an: »Celan war WAHNSINNIG! Das dürfen Sie NIE VERGESSEN! WAHNSINNIG!«

7. Schon jetzt die größte Gurke des gesamten Jahres, allein wegen des unfreiwillig rekursiven Titels: »User-generated Nonsense«, der Telepolis-ähm-Aufsatz von einem Oliver Bendel. Bitte unbedingt in der überragend kommentierten Version von Andrea Diener lesen.

8. »Der Themenwechsel ist eine hohe Kunst und der Schlüssel zu fast allen anderen Künsten.« (César Aira, »Humboldts Schatten«)

9. Ein heißer Kandidat für den besten schlechten TextTM des Feuilletonjahres: Wolfgang Büscher war jetzt mal im St. Oberholz in Berlin-Mitte und hat in der »ZEIT« über seine Erfahrungen berichtet. So geil. (via 6 vor 9)

10. Wer sich über unsere megalomanischen »Lost«-Recaps beschwert: Diese TV-Serie ist einfach der größte erzählerische Wurf der letzten Jahre, daran kommt man nicht vorbei, wie sogar Marcel Gauchet neulich in Libé (28. April, S. 31) schrieb, über US-Serien allgemein, aber speziell auch über »Lost«: « J’y retrouve ce qui continue de m’enchanter dans les grands romans populaires français du XIXe siècle : l’art et les pouvoirs du récit, avec un sens plus poussé, souvent, de l’épaisseur des personnages. »

11. »Saving Private Ryan: Kriegsklamotte ohne Bud Spencer.« (aus einer Inhaltsangabe)

12. »Browserschwein!« Rief neulich ein bekannter Software-Entwickler, als sein Firefox abstürzte.


Die Raupe Bundesrepublik

Konstanz, 17. März 2009, 19:37 | von Marcuccio

Haben Kinderbuch-Exegesen gerade Konjunktur? Erst Maula und der Mondvogel: die Parabel auf das Feuilleton und seinen größten Fan, den UMBL. Und jetzt die »Kleine Raupe Nimmersatt« als Gleichnis auf die Geschichte der BRD. Diese Lesart liefert Florian Illies im Feuilleton-Aufmacher der aktuellen »Zeit« (»Jahrgang 1929«, Nr. 12/2009, S. 45). Für Illies erzählt die Kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle

»im Kern nicht weniger als die Geschichte der Bundesrepublik. Sie beginnt in kalter Mondnacht, auf einem kahlen Blatt – die Bilder­buchversion der Stunde null. Dann frisst sich die nimmersatte Raupe durch die Torten und Würste des Wirtschaftswunders, vor Selbsthass und Völlegefühl rettet sie dann die Öko-Bewegung. Mit den grünen Blättern im Bauch kann sie sich selbstvergessen ver­puppen (späte achtziger Jahre), um dann, Wiedervereinigung, als schöner Schmetterling neugeboren zu werden. ›In dem Buch‹, so sagte Carle einmal, ›steckt die Hoffnungsbotschaft: Ich kann auch groß werden.‹ Man könnte auch sagen: Die Raupe Nimmersatt – oder ›Du bist Deutschland‹.«

Carle ist übrigens Jahrgang 1929, Illies‘ ganzer Artikel geht über den Jahrgang 1929 und die Frage, wie er »das geistige und kulturelle Nachkriegsdeutschland auf einzigartige Weise geprägt hat«. Als Raupe geprägt hat. Illies stützt diese These auch durch »James Last, Jahrgang 1929, der tatkäftig mithalf, die Raupe Bundes­republik in einen sanften Klangteppich wie in einen Kokon einzu­wickeln«. So wurde die alte BRD auf »wundersame Weise impräg­niert gegen jede Unbill der Wirklichkeit«.

Mehr Raupenhermeneutik ist leider nicht – wann spinnt Illies seine herrlichen entwicklungsbiologischen Erkenntnisse zum Adultsta­dium der BRD weiter, wann verpuppt er diesen »Zeit«-Artikel zu einem Buch? »Generation Raupe« könnte der nächste Bestseller sein.


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2008

Zürich, 13. Januar 2009, 02:31 | von Paco

Da kommt er endlich ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf 2008:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2008:

1. Iris Radisch (Zeit)
2. Jörg Diehl/Ralf Hoppe (Spiegel)
3. Johan Schloemann (SZ)
4. Alex Rühle (SZ)
5. Benjamin von Stuckrad-Barre (Welt)
6. Ingeborg Harms (FAZ)
7. Oliver Jungen/Richard Wagner (FAZ)
8. Andreas Maier (Zeit)
9. Gustav Seibt (SZ)
10. Christian Zaschke (SZ)

Zusammen bilden diese 10 Texte vielleicht wieder einen repräsen­tativen Reader des 2008er Jahrgangs des deutsch­sprachigen Feuilletons, der weltweit hervorragendsten Publikationsbastion.

Unser Lieblingstext, Iris Radischs fulminante Besprechung des Romans »Die Wohlgesinnten«, hat sich in den letzten Monaten aus verschie­denen Gründen als der Artikel mit der größten Tiefen­wirkung erwiesen. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006 und 2007 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Und bevor wir es vergessen: tausend Dank an CZZ und Gregor Keuschnig sowie an alle, die uns mit Nominierungsvorschlägen versorgt haben.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque


Lovis Corinth in Leipzig

Leipzig, 21. Oktober 2008, 13:59 | von Paco

Vorgestern: Letzter Tag der Lovis-Corinth-Ausstellung im MDBK. Zeit für mich, noch mal kurz rüberzugehen und heute hier kurz zu berichten, wenn die Ausstellung schon abgebaut ist, wenn also gar keine Möglichkeit mehr besteht, dadurch bei anderen einen Besuchswunsch auszulösen. Indem wir so den Servicegedanken untergraben, geben wir der sympathischen Sigrid Löffler einmal mehr Recht.

Schon während ich die Treppe ins Souterrain (in dem die Wechselausstellungen immer stattfinden) nahm, begann dieses Summen, das sich durch die gesamte Ausstellung ziehen sollte.

Es handelte sich um das überkommene Camouflage-Lied »Love Is A Shield«. Irgendwann wurde mir genau klar: Jemand musste den Künstlervornamen »Lovis« laut vorgelesen und dabei eben diese ältliche Melodie assoziiert haben, die nun als Ohrwurm von Wirt zu Wirt weiterzog, obwohl dieser Soundtrack völlig konträr zu den Bildern stand.

Der in der Schreibung von V zu U latinisierte Vorname (aus Louis wurde eben Lovis) zeigt aber darüber hinaus sofort, mit was für einem Maler man es zu tun hat. Einem intellektuellen Maler, der sich zumindest vor seinem Schlaganfall 1911 vor allem an klassischen Vorbildern abarbeitete, hauptsächlich den Werken des holländischen/flämischen 17. Jahrhunderts.

Deshalb lag diese eine Museumsführerin, die das Gemälde »Geschlachteter Ochse« (1905) mit biografischen Details hinsichtlich irgendwelcher Schlachthausbesuche erklärte, auch erst mal falsch. Wie oft Corinth auch tierische Innereien live gesehen hat, das Bild ist eben vor allem eine manische Reprise des Rembrandt-Vorbilds.

So ging es weiter, mit der »Susanna im Bade« (1890) und den Mutter-Bildern zum Beispiel, immer wieder vor allem Rembrandt, dann aber eben doch auch anderen Sachen.

Das populärste Corinth-Bild, auch dieser Ausstellung, ist natürlich das »Mädchen mit Stier (Charlotte)« (1902). Wieder eine Anlehnung an ein Vorbild, diesmal an den besten Kuhmaler der Welt, Paulus Potter (natürlich ebenfalls Holland, ebenfalls 17. Jh.).

Von dessen Gemälde »Der junge Stier« (1647) weicht Corinth allerdings in einem wichtigen Punkt ab: Statt eines Hirten stellt er neben den Stier ein Abbild seiner Charlotte-Frau, die das sanft dreinblickende Stierungetüm holzhammerartig sanft mit einem rosa Seidenband als Leine gebändigt hat.

Im Umkreis dieses Bildes wurde sogar das »Love Is A Shield«-Gesumme von Grinsgeräuschen übertönt. Überhaupt war Corinth kein störrischer Gemetzelmaler. Die Leipziger Zusammenstellung hob auch den Quatschmacher hervor, der sich in albernen historischen Ritterkostümen selber porträtierte. Für diese Dichotomie hat Hanno Rauterberg in der »Zeit« eine schöne Formulierung gefunden: »Corinth, ein Vulkan, der auch Konfetti speien kann.«

Usw.


»Die Messe ist gelesen«

Konstanz, 20. Oktober 2008, 21:50 | von Marcuccio

Was für eine naheliegende, nichtsdestotrotz geile FAS-Headline für den Sonntag gestern, und für eine SONNTAGszeitung überhaupt.

Ich bin jetzt auch durch die FAS-Lit-Beilage vom vorletzten Wochenende: Tobias Rüthers Text zur JoachimKaiser-Biografie – voller Einlassungen und Anekdoten: Rainald Goetz, der leider nie zum Vorstellungsgespräch kam …

Meine Lieblingsstelle in der »Suada«: die Frage, wo Juli Zeh eigentlich steckt und die Mutmaßung:

»Bestimmt arbeitet sie zur Stunde an einem diesmal etwas ausführlicheren Essay über die Wirtschaftskrise und darüber, was speziell ihre Generation jetzt dagegen tun muss.«

Mäßig eigentlich nur Dirk Schümer, von dem ich ja sonst gern lese, aber vielleicht doch lieber über Slowfood- und andere italienische Themen als über deutsche Nachkriegsliteratur.

Übrigens, die »Teenage«-Besprechung in der Beilage der werktäglichen FAZ ist mit einem Bild von Franz Marc illustriert, witzigerweise musste ich sofort an Austins Diktum denken, über das Paco und ich uns im Kunsthaus Zürich unterhielten: Franz Marc ist der Deko-Maler fürs Mädchenzimmer.

Die FAZ-Rezensionen sind immer vollkornig, d. h. man kann die echt nur stückweise zu sich nehmen, wird dafür aber ausnahmslos nahrhaft versorgt und nicht so wischi-waschi-softi wie zuletzt vom neuen ZEIT-Literatur-Magazin, in dem man das Meiste vergessen kann und den Rest auch – bis auf Ursula März‘ Homestory bei Ruth Klüger.

Laut Dirk Knipphals (»buchmessern«) wird da hinter den Kulissen wohl noch um die Ausrichtung gerungen (Greiner vs. Illies).

Überhaupt ist ja ein ziemlicher Trend zur Ausdifferenzierung zu erkennen. Die FAZ macht jetzt sogar eine extra Buchmessenzeitung (!), mit People-Kram und Pics wie in der »Bunten« (schon gesichtet? Jürgen Dollase: in PDF Nr. 5, S. 12).

Insofern hoffe ich wirklich, dass die klassischen Rezensionsfriedhöfe noch viele Jahre weiter leben, weil die eben auch wirklich ein Service sind und das Saisonpanorama bieten.

Ende der Durchsage bzw. um zum Titel zurückzukommen: Amen.


Was es heißt, Grass zu lesen

Leipzig, 17. September 2008, 16:32 | von Paco

»Die Zeit« hatte die äußerst gute Idee, das neue autobiografische Günter-Grass-Buch »Die Box« von jemanden besprechen zu lassen, der vorher noch nie ein Buch von Grass wirklich gelesen hat, und zwar von dem Autor Andreas Maier. Der so entstandene Artikel »Und Vater fand endlich Ruhe« war vor drei Wochen Aufmacher des Literatur-Teils (Nr. 36/2008, S. 53/54) und ist ein heißer Kandidat für unsere Feuilleton-Top-Ten 2008.

Maier hatte davor lediglich in Grass‘ »Treffen in Telgte« mal reingelesen. Auch die »Blechtrommel« hat er kurz mal aus dem Regal eines Bekannten hervorgezückt: »Ich hatte eine Viertelstunde Zeit und las den Anfang.« Immerhin: »Er schien mir kraftvoll, ich musste an Max Frischs Stiller denken.«

Das Experiment der »Zeit« erinnert an ein ähnliches Experiment der »FAS«. Sie hatte den letzten »Harry Potter«-Band von Jochen Schmidt (sagen wir mal:) rezensieren lassen, obwohl er die 6 Vorgängerteile gar nicht kannte (und sich darüber in der Wikipedia informierte).

Damals wie heute geht es also darum, ob man Bücher überhaupt lesen kann, die am Ende eines Œuvres stehen, ohne dass man die etlichen Vorgängertexte zur Kenntnis genommen hätte.

Ebenso wie Schmidt liefert Maier einen souveränen Text ab, der eben dieses Problem implizit mitdenkt. Nur weil er noch nie ein Grass-Buch gelesen hat, kann er im folgenden ganz unvorein­genommen mal beschreiben, was es überhaupt heißt, Grass zu lesen.

Für jüngere Literaturkritiker ist jedes neue Grass-Buch ja immer wieder die Aufforderung, die eigenen Verriss-Künste zu proben. (Mir fällt da spontan der Sundermeier-Text zum »Krebsgang« ein, der das rezensierte Buch inhaltlich und stilistisch locker in den Schatten stellt.)

Maier dagegen hat seine Beobachtungen ganz nüchtern hingeschrieben, fern jeder Polemik. Am deutlichsten scheint ihm die Diskrepanz zwischen einfachem, chronologischen Inhalt und formaler, stilistischer Verkomplizierung: »Aus dem formalen Aufwand schließe ich, dass der Autor dem einfachen Text, der zugrunde liegt, nicht traut«, schlussfolgert Maier. Den titelgebenden Hauptkniff, die »Box«, nennt er dann aber sogar »einen schönen Einfall«.

Letztlich ist Maiers Beschreibung natürlich doch ein Verriss. Er hat das neue Grass-Buch »recht beflissentlich, aber (…) ohne einen Funken Begeisterung« gelesen, wie der Perlentaucher zusammenfasst.

Arno Schmidt hat ja mal extrapoliert, dass man in seinem Leben höchstens 3.150 Bände lesen kann, und »die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!« Mit Maier hat also einmal mehr jemand exemplarisch festgestellt, dass man von Grass Abstand halten und eine Ausnahme nur machen soll, wenn man von der »Zeit« dazu beauftragt wird.

[Dank an Artificios für den Hinweis!]


Das Wetter vor 95 Jahren

Konstanz, 15. August 2008, 06:20 | von Marcuccio

Das Wetter vor 95 Jahren, nicht zu verwechseln mit Wolf Haas‘ Roman »Das Wetter vor 15 Jahren«, nach dessen Lektüre sich der »Zeit«-Rezensent Hubert Winkels »postkoital erschöpft« fühlte, das Wetter vor 95 Jahren also präsentierte sich so:

»Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagerndem Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«

Natürlich: Das ist der berühmte Wetterbericht, mit dem Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« anhebt, der neben dem Joyce-»Ulysses« und der Proust-»Recherche« allseits anerkannte Dritte im Bunde der »dicken Drei« der klassischen Moderne.

Meteorologie als epische Aufgabe

Das Tolle an diesem Wetterbericht: Er ist ein »Tagesthemen«-Strömungsfilm vor seiner Zeit: Denn natürlich sind Isothermen und Isobaren, die ihre Schuldigkeit tun, Ironie pur: die (noch) heile Welt Kakaniens fügt sich sogar am Himmel in ihre satte atmosphärische Ordnung.

Wer den Wetterbericht aber nur den poetischen Fähigkeiten Musils zuschreibt, der wird nun eines Besseren belehrt. Wie Hermann Bernauer in seiner kleinen, feinen Studie namens »Zeitungslektüre im ›Mann ohne Eigenschaften‹« schreibt, war so ein epischer Wetterbericht damals das Normalste von der Welt:

»Die Wetterberichte in den Wiener Zeitungen um 1913 waren von einer Ausführlichkeit, wie sie heute unbekannt ist. (…) Die Wetterkarte wurde nicht gedruckt, sondern beschrieben (…). Daher (…) technisches Vokabular, das einige Ansprüche stellte an das Vorwissen der Leser. Die Neue Freie Presse brachte ausser den täglichen Wetterberichten Mitte und Ende des Monats noch einen ausführlicheren über das Wetter der vergangenen Wochen, geschrieben von einem Meteorologen.« (S. 149)

Und dann wartet Bernauer tatsächlich mit einem solchen O-Ton auf, und auffällig natürlich zuallererst die Tatsache, dass Meteorologen vor 95 Jahren noch nicht »Ben Wettervogel« hießen:

»Ausdauernd schlechtes Wetter. Von Dr. O. Freiherrn v. Myrbach, Assistenten der Zentralanstalt für Meteorologie.

›Wie zu befürchten war, hat das heurige Sommerwetter im Wesentlichen den Charakter treulich beibehalten, den es von Anfang an trug. Seine Härten haben freilich etwas nachgelassen (…). Das will aber noch nicht viel sagen, denn der Beginn des Sommers war so aussergewöhnlich schlecht, dass auch die spätere Zeit trotz der Besserung noch als schlecht bezeichnet werden muss …‹.« (S. 150)

Das war in der »Neuen Freien Presse« vom 15. August 1913 zu lesen. Der Wetterbericht als narratives Entertainment, er begann also schon Jahrzehnte vor der Kachelmann’schen Blumenkohlwolken-Show. Und auch der Meteorologe als Wettertröster bei schlechtem Wetter praktizierte schon, immerhin: er hatte sprachlich Niveau.

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Hermann Bernauer: Zeitungslektüre im »Mann ohne Eigenschaften«.
München: Wilhelm Fink Verlag 2007. (Verlagswebsite / Rez. FAZ)


»El País« im Stadtbild

Barcelona, 28. Juli 2008, 15:49 | von Paco

Oliver Gehrs erwähnte das mal, dass der »stern« nie im Stadtbild zu sehen sei: »Ich meine, das ist wirklich die größte Auflagenlüge der Pressegeschichte: Eine Million Auflage!«, hatte er gesagt. »Der ›Spiegel‹ hat genauso viel Auflage, den siehst du aber ständig.«

Die spanische Tageszeitung »El País« sieht man auch ständig (nicht die uruguayische, obwohl die auch okay gut ist, hehe). Denn die spanische »EP« hat eine Präsenz im Stadtbild, die ihresgleichen sucht:

»El País« liest man im Gehen. Man trägt sie aufgeschlagen vor sich her, während man dezidiert nicht auf andere Passanten oder gar den Straßenverkehr achtet. Ich beobachte hier in Barcelona gerade aufs neue, wie Auto- und Krad-Fahrer respektvoll doch noch mal anhalten, obwohl sie bereits GRÜN signalisiert bekommen haben, wenn ein El-País-Leser, in seine Lektüre vertieft, etwas spät über die Straße schreitet.

Deutsche Zeitungen sind leider zu großformatig für eine solche Art der Lektüre. Mit einer »Zeit« vor dem Körper hat man das Gefühl, man würde ständig gegen eine Betonwand laufen. Lediglich die »taz« und die FR böten sich vom Format her an, jedoch ist dann nicht sichergestellt, dass die Autofahrer einen auch wirklich immer ungehindert passieren lassen, hehe.