Archiv des Themenkreises ›Voyage Voyage‹


Impossibile!

Rom, 20. Mai 2013, 23:22 | von Maltus

An der Via del Corso in Rom liegt der Nuovo Circolo degli Scacchi, ein Herrenclub, der – hätte es ihn damals schon gegeben – Johann Wolfgang komfortableren Unterschlupf geboten hätte als die Casa di Goethe direkt gegenüber. Vespa in der Nebenstraße geparkt, Krawatte umgebunden und rauf die Marmortreppe.

Gegründet wurde der Club von römischen Aristokraten, Geschäfts­leuten und Intellektuellen im Jahr 1872, logiert aber erst seit rund 20 Jahren im Palazzo Rondinini an der Via del Corso. Dort hätte Sig. Goethe zwar keiner schönen Römerin die Hexameter mit fingernder Hand auf den Rücken zählen können – es ist ein reiner Herrenclub. Als Kunstkenner und Antikeliebhaber wäre er aber auf seine Kosten gekommen, denn die Rondinini-Sippe plünderte im 17. und 18. Jahrhundert Roms Ruinen und putzte den Palast mit jeder Menge antikem Marmor auf. Angeblich soll sich hier das halbe Forum Romanum angesammelt haben, in Form von Friesen, Deckenputz und Marmorböden. Darin eingelegt findet man immer wieder steinerne Schwalben, das Symbol der Rondinini-Familie. Im Innenhof gibt es die einzige 6-Stunden-Uhr Roms, die Papst Pius IX. überlebt hat.

In der Bibliothek dann komme ich mit einem Herrn aus Pisa ins Gespräch, der sich nach dem Kindle erkundigt, das wir hier reingeschmuggelt haben. Eine halbe Stunde später sitzen wir an der Bar und trinken einen Mittagsmartini im Kreis von Personen, die aus einem Roman von Lampedusa stammen. Die Zeit steht still, alles scheint möglich. Nur eins nicht: der Gast, der in Jeans Einlass begehrt, erntet ein mitleidiges Stirnrunzeln des Portiers: »Impossibile!«
 


Nyborg Strand

Leipzig, 24. August 2011, 18:50 | von Hiller

Konferenzreisen im Sommer sind abzulehnen. Ebenso sind Konferenz­reisen an langweilige Orte abzulehnen. Eng wird es (ums Herz, und weit der Weg nach Hause), wenn man gegen beide Axiome auf einmal verstößt, so wie vor genau einem Jahr, als man mich nach Spanien geschickt hatte. Und diesmal schwebte ich zwecks eines eingeladenen Vortrags über vorauszusehende Anstrengung und unerwartete Leichtigkeit beim Hörverstehen vermittels zweier baugleicher Bombardier CRJ900 mit den klingenden Namen »Tuttlingen« und »Wittlich«, quasi als weltgeschichtliche Einstimmungsmeditation, faul übers Meer nach Dänemark ein.

(Aus Tuttlingen gibt es nur die großen Holz-Oszillatoren der Weltmarke HOHNER zu vermelden, ach nein, das war Trossingen; und Wittlich hat sich meiner Kenntnis nach auch nur durch das wahrlich die falschen Assoziationen weckende Foto des dort zu Tode gekommenen Extrem-Dialektikers Holger Meins verdient gemacht; aber das denke ich bestimmt, weil ich mich mit einer taxonomisch gehaltenen Monografie über Lufthansa-Fluggerät-Namen und deren Querbezüge – Intertextu­alität; wenn Sie wissen was ich meine – zum israelisch-palästinensi­schen Konflikt habilitieren werde.)

Aber Dänemark? Dies fragen sich sicherlich auch die dort Verantwort­lichen, und machen deshalb ihre Grenzen wieder dicht, auf dass nur keiner komme, um allen zu erzählen, wie langweilig es hier ist.

Noch im deutschen Luftraum konsultiere ich meine speckige Ausgabe des Weltweisen Henning Ritter: Irgendwas über Dänemark? Irgendein Aperçu über diese Hamlet-Maschine! Nichts. Genauso wenig halten die beiden Psychopharmakologen und Volkswirtschaftler Kracht–Woodard es für nötig, in ihrem neuen Standardwerk ihren Studenten den Geld- oder Drogenmarkt ausgerechnet Dänemarks zu erklären; wer würde dies auch wollen, und wozu: Der dänische Hotdog zu inflationsbereinigten 14 Euro, den ich bei meinem letzten Stopover, wenigstens im Frühjahr, auf mein Gepäck wartend verzehrte, illustriert beide Hauptthemen des Werkes ausreichend. »Denmark won’t be that hot«, beschwichtigt eine Nonne einen Amerikaner vieldeutig im Flug­hafenbus.

Seien Sie ehrlich: Sie alle sind kulturbeflissene Leser des Feuilletons, und Olafur Eliasson mit seinem Budenzauber hat Ihnen doch auch gefallen; aber was fällt Ihnen denn sonst Schönes, Spannendes ein zu Dänemark? Ach, in das Land des Lars von Trier wolle sie so gerne auch einmal reisen, schrieb eine Kollegin. Den könne man mit Hilfe von viel Sekundärliteratur schon sehr genießen, und er habe einen intellek­tuellen Anspruch, und präsentiere viele Bezüge zur Kunst- und Filmgeschichte. Da wollte ich gleich noch ein wenig weniger aufbrechen nach Kopenhagen, Nyborg Strand, die große Leerstelle im Norden. ›Nahost‹ möchte mein Intelligenz-Telefon lieber schreiben, anstatt ›Nyborg‹, als wüsste es, wie viel Spaß der nahe Norden verheißt.

Wie in jedem guten Reiseführer hier noch schnell die größten Kultur­leistungen meines freundlichen Gastlandes: Erstens, Bjarne Riis, ein Situationist der letzten Stunde, krampfte sich 1996 an einem Radlenker fest und fuhr mit dünnem Resthaar und Sirup im System sehr steile Berge sehr schnell hinauf. Zweitens, »The Sods«, eine lokale Punk­band, die ihren Namen schon von einer anderen Punkband stehlen mussten, um der Namenlosigkeit zu entgehen, nahmen circa 1979 mit mesmerisierend verstimmter Bassgitarre einen völlig unbekannt gebliebenen Monster-Reggae-Hit auf, den sie wiederum nach ihrer ja sonst nichts geschenkt bekommenden Hauptstadt benannten und dem sie als Schlusschor das eingängige Quadrupel »Copenhagen Cancer City Kill« mitgaben. Drittens, irgendetwas Ihrer Wahl mit Niels Bohr oder Hans Christian Andersen.

Ein freundlicher junger Mann mit einem dieser Islamisten-Bärte – er trägt eine teure Sonderedition eines Ralph Lauren-Polohemds – murmelt im Zug nach Nyborg famos zu seinem Nachbarn: »It’s funny, when I hear the words, I can remember them«, und ganz ähnlich geht es mir jetzt nach der Ankunft mit diesem Land, mir fällt das Schöne plötzlich wieder ein, wie ich es so sehe; die weiten Flure, die schlichten Sessel, und, wenn Sie es bitte niemandem weitersagen: auch der Blick aufs Meer. Und natürlich wird es hinterher wieder eine prima Tagung gewesen sein, die Hörforschung und ich werden wieder Freunde sein, und Dänemark wird sich wieder seinen Grenzen und seinen Karikatu­ren widmen können – aber: nicht mehr hier, und nicht mehr im Som­mer. Fahren Sie dort bitte niemals hin.
 


Salamanca

Leipzig, 14. August 2010, 10:01 | von Hiller

Verworren sein und nicht Schreiben können ist noch kein Surrealismus, hat mein Praktikant gestern gesagt, als ich ihn bat, meinen Reisebe­richt für die DFG auf Tippfehler durchzusehen. Sein Frevel blieb unkom­mentiert, aber ich glaube, er hatte recht.

Man hatte mich zu einem ansprechend klingenden Symposium eingeladen. Im schon von den Comedian Harmonists besungenden, schönen Spanien sollte es abgehalten werden, und man plante etwas sehr Kompliziertes, das man mir schlichtem Geist allerdings als eine Art situationistische Wiederaufführung der Bremer Stadtmusikanten zu verkaufen suchte: Ein Symposium über Singvögel, Makaken, Schimpan­sen und ein paar Menschenvokalisationen. Also Spanien. Sie müssen wissen, dass ich Spanien insgesamt für einen Fehler und eigentlich nicht vermittelbar halte. Zu trocken, zu teuer, und zu gefährlich, um das Standardlehrbuch zum Thema Reiseplanung, den Kracht/Nickel, nur unwesentlich zu paraphrasieren.

Salamanca, Figure 1Der Flughafen Madrid täuschte erfolgreich ein geschlossenes Busshuttlesystem vor, um mich erst einlullend im Kreis zu kut­schieren und mich dann auszusetzen an einem per Matlab-Skript zufällig ermittelten Terminal zwischen 1 und 4. Ein Reisebus der lobend zu erwähnenden, allerdings dem Arbeitskampf sehr zugetanen Firma Avanza bot sich an, mich drei Stunden lang recht unverwandt in das nicht für möglich gehaltene, weil noch langweiligere Landesinnere zu karren, meinem Ziel Salamanca entgegen. Die ebenso schlichte wie zwingende Absicherung des Drahtlos-Netzwerkes gegen Schadnut­zung durch Unbefugte bestand in der Nichtstationarität des Funksig­nals an Bord eines bewegten Reisebusses; Passworte oder gar die üblichen WAP-Quisquilien waren nicht von Nöten.

In Salamanca angelangt, musste ich sofort an den größten Sohn der Stadt denken, Don Quixote: Hatte nicht auch er gegen das Nichts angekämpft, gegen die Windmühlen des Sinnlosen! Alles aus Stein und Staub; selten hat ein Reisender von trauriger Gestalt das satte Grün und die dicken Eichen der deutschen Innerlichkeit mehr vermisst. Ich schnallte mir meine Rüstung um und trabte mit meinen Getreuen quer durch die Ödnis dieser Innenstadt.

Salamanca, Figure 1Kurz vor Erreichen der Herberge, an einer Anhöhe gelegen, wäre es fast noch zu einem sogenann­ten Showdown gekommen mit einem dicken Mann, der sich uns ins den Weg stellte. Ich for­derte freies Geleit, und fragte ihn nach seinem Namen. Breton, gab er mir zu verstehen. Der ganze Platz war nach ihm benannt, und ich dach­te: unglaublich, so schlimm kann es doch um Spa­nien, die Welt, unsere Zeit also nicht bestimmt sein, wenn sie in diesem Dorf eine Statue nach dem Begründer des Surrealismus, der großen Manifest-Maschine André Breton benennen. Hinter Breton staubte es gewaltig, doch bevor mir die Luft knapp und die Zeit zu lang wurde, gelang mir noch einer mei­ner allegorischen Kunstschüsse, für die ich geliebt werde: DER ER­FINDER DES SURREALISMUS SCHAUT AUF DIE TRÜMMER DER POST­MODERNE.

Was bleibt mir zu sagen: Die Performance am nächsten Tag wurde natürlich ein großer Erfolg. Auf dem so schnell wie möglich eingeleite­ten Rückflug (die Firma Avanza arbeite mit allen Angestellten an einem Relaunch der Website, wie man mir versicherte, und stattdessen fuhr ein Künstlerkollege mich zum Flughafen) lernte die Flugbegleiterin hinter meinem Sitz die Sicherheitsansagen auf Spanisch auswendig. Heute morgen begegnete ich dann meinem mir wegen seiner über­steuerten Hispanistik widerlich gewordenen Nachbarn, der mich darauf hinwies, dass Don Quixote de la Mancha ja bekanntlich aus, nun, La Mancha gewesen sei. Bestimmt war er auch der anonyme Schlaumeier, der mich nun bei Wikipedia aufklärt, dass Salamanca allerorten seinem angeblich sehr berühmten Sohn, dem obskuren Komponisten Tomás Bretón huldige. Fahren Sie dort bitte niemals hin.


Voyage Voyage (Teil 5):
Der Tourismus-Superlativ

Konstanz, 19. Dezember 2009, 08:12 | von Marcuccio

Am 26. April 2009 definierte Andreas Lesti in der Randspalte des FAS-Reiseteils den Tourismus-Superlativ.

Beispiele für diese grammatikalische Sonderkategorie kennt man ja: Der zweithöchste freistehende Berg der Welt, der drittgrößte Binnensee Mitteleuropas, die längste baumfreie Nordabfahrt in den Westalpen usw.

»Da muss man erst mal abholzen, um zu erkennen, dass es hier um die ›längste Abfahrt der Alpen‹ geht. Weil es aber nicht die längste Abfahrt der Westalpen ist, und auch nicht die längste Nordabfahrt der Westalpen, rechtfertigt sich dieser Superlativ erst über die vierte baumfreie Einschränkung.«

Und weil Lesti ein ausgewiesener Kenner alpiner und anderer Superlative ist, liefert er uns die lexikonfertige Definition des Tourismus-Superlativs gleich dazu:

»Das Grundprinzip des Tourismus-Superlativs lautet: Man muss ihn so lange einschränken, bis die Kategorie so speziell, spezieller, am speziellsten ist, dass es keine Gegner mehr gibt. Die Marketingleute gehen also nicht vom Superlativ selber aus, sondern von der Konkurrenz, die sich durch – das muss man zugeben – beachtlich kreative Einschränkungen eliminieren.«

Im Guinness-Buch der (Pseudo-) Rekorde würde der touristische Superlativ also wahrscheinlich noch nicht einmal auffallen. Schön wäre aber auch mal eine Art Enzensberger-Poesieautomat der Fremdenverkehrssprache, in der jede (vermeintliche) USP einer Destination automatisch einen so noch nie gehabten Superlativ erzeugt. Die generative Grammatik des Tourismus freut sich jedenfalls auf weitere Kapitel.

(Der Lesti-Artikel ist leider nicht online, Spuren davon hier.)


Voyage Voyage (Teil 4):
Die Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi

Konstanz, 16. Dezember 2009, 10:33 | von Marcuccio

Und auch heuer gab es wieder ein paar schöne Reise-Stücke. Da wäre zum Beispiel Claus Spahns Weinreise durch die Saale-Unstrut-Region (Die Zeit 42, 8. 10. 2009).

Das Highlight dieses Artikels war die unverhoffte Berührung mit einer Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi. Für Freunde der Antonomasie gab es aber erst mal einen O-Ton vom Geschäftsführer des Nietzsche-Weinguts Kloster Pforta (»Wir sind das Kloster Eberbach des Ostens«), wenig später ging es dann um das Für und Wider einer Degustation von Bernhard-Pawis-Weinen beim Winzer selbst oder eben auswärts, zum Beispiel

»auf der Terrasse des Hotels Rebschule bei Naumburg (…), mit herrlichem Blick über die Weinberge. Aber da serviert man ihn auf einer blassgelben Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi, wie sie einst in den Schrebergärten beliebt war.«

Peng, und das Ding ist da, das Ding hat sogar endlich einen Namen, was es bei mir bis hierher noch nie hatte. Mein bescheidenes Sprachzentrum hatte sich schlicht und ergreifend noch keinen Begriff von diesem Ding gemacht, das, meine ich, auch als Unterbau des berühmt-berüchtigten Kännchenkaffees zum Einsatz kommt. Ich glaube sogar, dass ich mich in einem unbeobachteten Augenblick schon einmal getraut habe, so ein Häkeldeckchen aus wetterfestem Weichgummi anzufassen.

Vom natürlichen Weichgummivorkommen ist es dann auch nicht mehr weit bis zum Gustav Seibt für Weinverkoster:

»Die Gastronomie will nicht davon lassen, (…) die Käseplatte zum Wein mit frisch aus der Folie gepelltem Schmelzkäse zu bestücken.«

Die Besichtigung der von Neo Rauch gestalteten Domfenster (»Soviel Pathos spült man am besten mit einem extra säurebetonten Riesling hinunter«) endet dann auf dem Naumburger Weinfest:

»Ein verliebtes Paar teilt sich einen Rotkäppchen-Piccolo. Die Rentnerpaare sitzen sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander und starren schweigend in die Probiergläser.«

Sideways an der Saale-Unstrut. Zum Wohl!


Der Umblätterer in Rom

Paris, 8. August 2009, 21:02 | von Paco

UMBL in Rom

Säulenhain. Gymnastik und Diskussion über die neusten Sendbriefe des Cicero.

UMBL in Rom

Piazza del Popolo, »Autoritratto con gli altri voltapagine«.

UMBL in Rom

Alan Bennett in »La Repubblica«: »Leonardo? Non mi piace!« Das scheint so aber nicht mit Vasari abgesprochen gewesen zu sein.

UMBL in Rom

»How do we get to …?« – »This way!« – »Graw-tsee-yeah!«

UMBL in Rom

»Hey Kiddie Kiddsens, zieht euch eure bed decks übers Kopfkaffee, heute geht es so um Kunst so.«

UMBL in Rom

Allons enfants, zu den Vatikanischen Museen.

UMBL in Rom

Zypressenhain, FAS-Lektüre.
 


Voyage Voyage (Teil 3):
»Männer über fünfzig mit Digitalkameras«

Konstanz, 6. Dezember 2008, 09:48 | von Marcuccio

Arezu Weitholz: Die Tosca-Fraktion. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Juli 2007.

Durst im Reisejournalismus, das müssen nicht zwangsläufig pointenrülpsende Geschichten aus der Biertrinkerzone sein:

»Im Prospekt steht ein Zitat aus der Zeitung: ›Intimes Musizieren – ein Festival, das die durstige Seele erfrischt.‹ Das klingt gut«, denkt sich Arezu Weitholz und fliegt spontan von Berlin in die Toskana, zum so genannten Tuscan Sun Festival von Cortona.

Erste Zweifel kommen unterwegs: »Kann eine Seele überhaupt Durst haben?« Egal.

Vor Ort dann noch mehr Irritierendes: Name und künstlerische Leitung des Tuscan Sun Festival stellt die US-Amerikanerin Frances Mayes, die Cortona schon mit dem gleichnamigen Buch und Film ›beglückt‹ hat.

Ein Festival wie ein Amazon-Algorithmus

Leute, die »Under the Tuscan Sun« gesehen/gelesen und darüber hinaus Bücher gekauft haben, die »Cappuccino zu dritt« oder »How I discovered my inner Italian« heißen – diese Leute mögen sicher nicht nur die Toskana, sondern auch Tosca (zumal das so schön toskanisch klingt), Anna Netrebko, Joshua Bell, Lang Lang usw. Warum also nicht Weinproben, Wellness und Klassik-Konzerte zu einem Paket schnüren? Warum Toskana- und Tosca-Fraktion nicht vereinigen?

Doch bevor Arezu Weitholz realisiert, in welcher Zielgruppenfusion sie da gelandet ist, kommt es schon zum Showdown in Cortona:

»Acht Uhr abends vor dem Konzertsaal. Viele Leute wirken, als kämen sie aus Baden-Baden. Oder einer Folge vom ›Traumschiff‹, kurz vorm Abendessen. Frauen mit schimmernden Lappen um die Schultern. Männer über fünfzig mit Digitalkameras. Eine Frau, die aussieht wie Nancy Reagan, kommt vom Klo.«

Kopfkino vom Feinsten!

Der Artikel hat einen Trick, mit dem Arezu Weitholz die ganze Tuscan-Sun-Szenerie vorführt. Sie sagt nämlich kein einziges Mal »ich«, sondern hält während ihres ganzen Artikels die Wellness verheißende Anrede des Festival-Prospekts durch: Die versprach, die »durstige Seele« zu erquicken. Nur: Für die meisten Festivalbesucher scheint Klassik eher das Gegenteil von Wellness zu sein:

»Alle werfen einander ernste Blicke zu. Sie haben sicher Angst vor der Musik, denkt die Seele. Als Joshua Bell zehn Minuten später die Bühne betritt, lächelt er. Dann spielt er, und sofort schließt die Seele ihre Augen und freut sich: Endlich. Doch nein. Jemand knipst. Es macht plötzlich ›ksst‹. Dann noch mal ›krscht‹. Vom Rang ein ›Pling‹. Es sind die Männer mit ihren Kameras.«

Und die Szene ist noch nicht zu Ende:

»In der Mitte vom letzten Stück (Prokofjew) reißt Bell die Bogensaite. Er zieht sie mit einer Hand sekundenschnell weg, die Männer knipsen jetzt erst recht, ›pling‹, Bell spielt unbeirrt weiter, ›Kssrt‹, doch dann unterbricht er, jetzt ist ihm auch noch der Geduldsfaden gerissen, er bittet das Publikum um Stille: ›Bitte!‹ Dafür gibt es Applaus. Er beginnt von vorn, nun sind alle leise. Am Ende bekommen er und der Pianist weiße Blumen. Die Seele hat noch immer Durst.«

So wird die Kitsch-Ansprache aus dem Prospekt zum Running Gag, und Arezu Weitholz gelingen ein paar schöne Notate über den Klassiker: die Dissonanz zwischen Katalog und Wirklichkeit beim Reisen.


Voyage Voyage (Teil 1):
»The coolest thing to do in Dubai«

Konstanz, 4. Dezember 2008, 09:13 | von Marcuccio

Voyage Voyage! Endlich was über Reisefeuilletons! Ich fange gleich mal mit einem der eindrücklichsten Reisetexte aller Zeiten an:

Andreas Lesti: Dubai. Ein Wintermärchen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Juli 2006.

Mein Lieblings-Alpin-Journalist heißt ja schon lange Andreas Lesti. Es war diese unerhörte Begebenheit, die seinen Skibericht aus dem Morgenland zur preisgekrönten Novelle (PDF) machte:

Mitten in der Wüstenhitze von Dubai liegt Schnee. In einer Skihalle. Und mitten in dieser Skihalle steht eine Skihütte, in der die von 46 Grad (Außentemperatur) auf minus zwei Grad runtergekühlte Luft (Skihalle) wieder auf 25 Grad (Hüttentemperatur) erwärmt wird.

»The coolest thing to do in Dubai« besticht durch sein durchweg surreales Setting, das Lestis Reportage phänomenal einfängt:

Da ist die Glaswand, durch die man das Schnee-Spektakel aus einer Shopping Mall heraus beobachten kann:

»Touristen in kurzen Hosen und ärmellosen Tops machen Bilder mit ihren Fotohandys. Frauen in Tschador und Burka sehen durch die dünnen Sehschlitze ihrer Kopfbedeckungen. (…) Drinnen liefern sich junge Männer in der Dischdascha, dem weißen Gewand, und schwarzen Daunenmänteln darüber eine Schneeballschlacht.«

Da sind die Wintersport-Fachgeschäfte der Wüsten-Metropole:

»›Im Sommer kann es bei uns zu bis 46 Grad haben‹, sagt er [der Verkäufer] – und verkauft aber Mützen, Handschuhe und Carvingski, weil es in der Halle fast 50 Grad kälter ist.«

Und da ist Lesti selbst, der das alles unaufgeregt und (wie man aus einer Neben-Storyline erfährt) irgendwie auch nicht richtig angemeldet für die »FA Sat« notiert:

»Ich fahre mit dem sehr langsamen Vierersessellift nach oben, an der Mittelstation könnte ich aussteigen, aber ich will auf den Gipfel von Dubai.«

Irgendwann wird es dann auch mal Zeit für einen Einkehrschwung, denn »schon während der vierten langsamen Sesselliftfahrt frieren meine Finger ab. Ich hatte auf Handschuhe verzichtet, weil ich mir draußen einfach nicht vorstellen konnte, daß es hier drinnen wirklich kalt wird.«

Aufwärmen dann im »Avalanche Café«, der eingangs erwähnten Skihütte, wo Nina aus Indonesien »die angeblich beste Heiße Schokolade im Nahen Osten« serviert. Und Lesti fühlt sich »ungefähr so, als würde man sich im Hochsommer mit Wärmedecke in die Gefriertruhe setzen«.

Inklusive der Überschrift einer der eindrücklichsten Reiseberichte aller Zeiten! Man liest jede Zeile schaudernd-fröstelnd und hat sich selten so amüsiert.