25 Jahre Coen-Kino (2):
Raising Arizona (1987)

Hamburg, 4. Februar 2010, 07:53 | von San Andreas

Raising Arizona (Icon)

Ladenräuber H.I. und Ex-Cop Edwina stehlen eines von fünf Babys des Möbelbarons Nathan Arizona, um ihre unfrucht­bare Ehe zu retten. Der Beraubte setzt eine Belohnung aus, worauf zwei üble Knastbrüder und ein apokalyptischer Biker ebenfalls Interesse an dem Kleinkind entwickeln. Eine wilde Hatz entbrennt.

Coen Country. Die Wüste Arizonas, staubige Trailerparks, kakteen­bestandene Ödnis, Wildwest-Städtchen, Tankstellenshops.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Dot), John Goodman (Gale Snoats), Holly Hunter (Ed), M. Emmet Walsh (Labertasche in der Maschinenhalle), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »Watch your butts.« (Nathan Arizona auf die Frage, was er den Kidnappern mitzuteilen habe)

Coen Gold. Der Ausbruch der Gebrüder Snoats. Das Gefängnis im Hintergrund, strömender Regen, vorn ein riesiges Schlammfeld. Eine kolossale Gestalt bricht aus dem Matsch empor, kämpft sich nach oben, brüllt unablässig aus Leibeskräften. Seine Pranke glitscht in den Modder und zerrt einen Zweiten an die Oberfläche; der ist auch am Brüllen. Ein Knastausbruch als wilde, naturgewaltige Schlammgeburt.

Classic Coen? Der zweite Streich der Coens konnte unterschiedlicher nicht ausfallen. War »Blood Simple.« langsam, sparsam und grausam, legte der neue Film ein halsbrecherisches Tempo vor, strotzte vor exzentrischem Slapstick und pointiertem Stakkato-Geschwätz. Der Screwball-Klamauk rangiert zwar im Fahrwasser der Mainstream-Familienfilme der Achtziger, ist aber so skurril und subversiv, dass Coen-Enthusiasten ihn ziemlich liebgewonnen haben.

Der Film bietet vieles, was geradezu prototypisch coenesk daher­kommt: schlichte Landei-Gemüter mit breitem Südstaatenakzent, penibel ausgefeilte Einstellungen und Dialoge, dazu diesen speziellen Humor, mal spröde, mal heiter, mal schier bizarr. Vergleicht man »Raising Arizona« mit ihren späteren Filmen, die doch einen deutlich kultivierteren, gemesseneren Eindruck machen, erscheint er wie eine Spielwiese, auf der Joel und Ethan versuchen, ihren Comedy-Stil zu finden. So grotesk, turbulent und over-the-top wie hier wird kein anderer Coen-Film mehr sein (vielleicht mit Ausnahme von »The Ladykillers«, aber dazu dann später).

Man beachte die Szene, in der die Gebrüder Snoats die Tankstelle überfallen. Der Wortwechsel zwischen Gangster und Verkäufer (»Do they [die Luftballons] blow up in any funny shapes and all?« – »No. Unless round is funny.«) wird 20 Jahre später in »No Country for Old Men« unter völlig anderen Vorzeichen stattfinden. Als Gale und Evelle dann in voller Fahrt realisieren, dass sie das Baby auf dem Autodach vergessen haben, schauen sie sich ruckartig mit großen Augen an und brüllen unisono wie am Spieß. Diesem immer wieder lustigen Effekt werden wir in »Intolerable Cruelty« wiederbegegnen, wenn George Clooney und Kompagnon ein fataler Fehler dämmert.

Bei allem Rabaukentum fängt der Film erstaunlich viel Zeitgeist ein, es mischen sich sogar dezente politische Untertöne zwischen die Szenen, natürlich ohne überhand zu nehmen. Joel und Ethan lassen ihre Geschichten gern vor dem Hintergrund politischer Krisensituationen spielen: Bei »Barton Fink« wird das Pearl Harbor, bei »The Big Lebowski« der Golfkrieg sein. Diesmal kriegt Ronald Reagan sein Fett weg.

Die Story an sich lässt sich ganz familienfreundlich an, und sie endet auch mit einer versöhnlichen, gutmenschelnden Szene. Aber was dazwischen passiert, spottet jeder Beschreibung. Da werden Nasen eingeschlagen, da wird ein Baby auf einen Motorradlenker geschnallt, da gibt es chaotische Schießereien zwischen Windelregalen im Supermarkt und einen ziemlich unprofessionellen Banküberfall, zwischendurch explodieren Kaninchen, und später auch, mit großem Kabumm, ein Mensch. Alles natürlich auf die lustige Art.

Den Film bevölkert eine Armada schräger Nebenfiguren, jede davon liebevoll ausgearbeitet und ausstaffiert (obwohl die Nase von Leonard Smalls merkwürdig angeklebt aussieht). Mit John Goodmans Charakter feiert ein echter Coen-Archetyp seinen ersten Auftritt: der bullige Rüpel, der eloquent zu parlieren versteht, seiner dämonischen Triebe letztendlich aber nicht Herr werden kann. Er wird uns in drei weiteren Filmen begegnen.

Auch das handwerkliche Vokabular der Coens definiert sich: Off-Kommentar (Eingangsmonolog!), niedrige Kamerawinkel, dramatische Fahrten in die Großaufnahme, pointierte Montagen, tracking shots die Straße entlang. Vor lauter cineastischer Raffinesse aber, so beklagen Kritiker nicht das letzte Mal, vernachlässige die Regie das emotionale Moment: Das Baby bilde nicht den herzigen Mittelpunkt der Handlung, sondern lediglich eine Art MacGuffin. Das soll aber so sein; im Vordergrund stehen groteske Situationen, Wortgefechte, Szenen voll eigenwilliger Details: Nur die Coens zelebrieren eben Haarpomade im Close-up, und das ist auch gut so (Auf Wiedersehen in »O Brother, Where Art Thou?«).

Trotzdem »Raising Arizona« der eingängigste, durchaus mainstreamigste unter den früheren Coen-Filmen ist, stecken Joel und Ethan damit weiter ihren kreativen Claim ab: Hier verständigen sich die Autoren mit dem Publikum über eine Art der Inszenierung, die fraglos exaltiert daherkommt, die dem Zuschauer aber nichts vormacht. Die Handlung überlagert ein Augenzwinkern, das ein Einverständnis signalisiert über Konventionen im Leben und Konventionen im Film. In »Raising Arizona« sind beide außer Kraft gesetzt.

Coen Culture. Die Credits verzeichnen einen gewissen William Preston Robertson als ›Amazing Voice‹. Der Mann, so stellt sich heraus, ist ein alter Freund der Coens, er war bereits der Radioprediger in »Blood Simple.« und half ihnen bei praktisch jedem Film bis »The Big Lebowski«, wo er unter ›Giggles/Howls/Marmots‹ gelistet ist. Anlässlich des Endes der Dreharbeiten zu »Fargo« richtete er ein Steak-Abendessen aus – die Coens dankten es ihm mit dem Credit ›Meat Dinner MC‹.
 

25 Jahre Coen-Kino (1):
Blood Simple. (1984)

Hamburg, 3. Februar 2010, 05:25 | von San Andreas

Blood Simple. (Icon)

Kneipier Marty beauftragt den skrupellosen Detektiv Visser, seine untreue Frau Abby und ihren Lover, Barmann Ray, zu beseitigen. Visser hat eigene Pläne; kurz darauf segnet Marty das Zeitliche. Denken zumindest alle. Alle außer Abby. Von der Ray wiederum annimmt, sie sei die Mörderin …

Coen Country. Eine namenlose Stadt in Texas während eines heißen Sommers. Die Gegend ist durch ihre Stereotypen, den Dialekt und die karge Landschaft wie geschaffen für die Coens, trotzdem wird es mehr als 20 Jahre dauern, bis sie nach Texas zurückkehren.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Abby), M. Emmet Walsh (Loren Visser), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »I haven’t done anything funny.« (Abby, ahnungslos die Prophezeiung ihres Mannes erfüllend, sie würde genau das sagen)

Coen Gold. Ray begräbt Marty, der mit letzter Kraft den Revolver hebt und mehrmals abdrückt. Ray akzeptiert in schuldbewusster Trance das Russian Roulette und entwindet Marty nur langsam die Waffe.

Classic Coen? »Blood Simple.« kam, wurde gesehen, und siegte. Was die Welt 1984 noch nicht wusste: dieser erste Ausflug auf den Planeten Coen war bereits ein nahezu prototypisches Coen-Erlebnis. Ein erstaunliches, selbstbewusstes Debüt, der Beginn einer eindrucksvollen Karriere, und tatsächlich einer der einflussreichsten amerikanischen Filme der 80er Jahre. Independent-Kino wurde durch »Blood Simple.« praktisch über Nacht hoffähig gemacht, der Film bereitete den Boden für Leute wie Tarantino, Soderbergh und Rodriguez, die über das spätere Sundance den Aufstieg schafften.

Stichwort Tarantino: Man stelle sich den Film unter seiner Regie vor. Der Stoff läge ihm, hier steckt ein eins a Pulp-Thriller drin, wie geschaffen für eine knackige Melange aus Avantgarde und Retrokult. Die Coens kleiden ihren Erstling jedoch ins Gewand eines Noir; der Dialog ist hard-boiled, die Inszenierung ruhig, der Ton trocken.

Allerdings versteht sich der Film keineswegs als Hommage, auch nicht als astreines Genrestück. Die Atmosphäre ist da, die Zutaten der Story ebenso, aber die Dramaturgie ist coenesk, typisch einfallsreich und unkonventionell, wenn auch noch nicht so unbeschwert wie in späteren Werken. Direkte Noir-Referenzen bleiben aus. Die Coens zitieren nicht. Keine Metaebenen, keine Spielereien: Alles ist, was es ist. Jedes Mittel dient dem Film, und zwar genau diesem Film. Joel und Ethan verstehen die Sprache des Kinos und die Regeln des Genres, aber sie wissen: Der Zuschauer tut das ebenso.

Die Coens spielen nicht kapriziös mit dem Genre, sondern machen es sich gemeinsam mit dem Zuschauer untertan. Und so entsagt die Regie jeglicher Manipulation, im Gegenteil: Sie schanzt dem Publikum alle nötigen Informationen zu, macht es ohne Umschweife zum Komplizen. Das bedeutet nicht, dass es keine Überraschungen gäbe – nur kann der Zuschauer diese direkt nachvollziehen; sie sind nicht extra für ihn inszeniert.

Freilich gilt es, dranzubleiben: Welche der Figuren weiß zu welchem Zeitpunkt was, und was wiederum denkt er oder sie, das andere Charaktere wissen? Und: Wie viele Kugeln sind eigentlich noch im Revolver? Klingt anstrengend, ist es aber nicht. Die Story entblättert sich ohne Sackgassen, die Fakten liegen klar zutage, müssen nicht erst dechiffriert werden.

So bleibt genug Zeit, die kleinen Details zur Kenntnis zu nehmen, die dräuende Atmosphäre zu verinnerlichen. Unwillkürlich wird man sich gelegentlich den Kragen lockern wollen, so unerträglich lastet die drückende Schwüle der texanischen Nächte: das Drehen der Ventilatoren, die Schweißperlen auf den Gesichtern, das elektrische Knistern der Moskitofallen.

Zahlreiche spätere Coen-Markenzeichen brechen sich Bahn – larmoyanter Eingangsmonolog, kuriose Kamerafahrten, breite Akzente, Gegenstände in Großaufnahme, schwarzer Humor, Traumsequenzen, Ohrwurm-Oldies – und eine gewisse Wahrhaftigkeit sprengt die sonst so distanziert wirkende Noir-Rhetorik. Beispielsweise wird man darauf aufmerksam gemacht, dass es wirklich mühsam sein kann, große Mengen Blut von einem unbehandelten Holzfußboden zu entfernen.

Auch die Tatsache, dass Todgeweihte mitunter äußerst zäh an ihrem Leben hängen, zeigt der Film in einer finsteren, alptraumhaften Sequenz. Die Ereignisse kulminieren schließlich in einem bizarren Endkampf, bei dem sich die Gegner erstaunlicherweise nicht ein einziges Mal sehen. Schüsse fallen, Messer werden gezückt, Kugeln durchschlagen auf Verdacht Sperrholzwände, bis einer, tödlich getroffen, auf den Fliesen des Badezimmers zu liegen kommt.

Nun hat jeder schon einmal beobachtet, wie sich an kalten Armaturen Kondenswasser absetzt, langsam einen Tropfen bildet und quälend lange damit zögert, sich vom Metall zu lösen, dann aber doch unvermeidlich herabfällt. Detektiv Visser (hervorragend reptilienhaft: M. Emmet Walsh) beobachtet das ebenfalls, mit sorgenvoller Miene. Es ist das letzte, was er sieht im Leben.

Das ist er, der Coen-Touch; hier zeigt sich der Sinn der Brüder für die fiesen Kleinigkeiten, für das Skurrile, Makabre und Groteske. Doch derlei Vorlieben ordnen sich dem Geschehen unter, werden nicht selbstzweckhaft herausgestrichen. Da gibt es keine coolen Zeitlupen, keine stilisierten Gewaltausbrüche, keine geschmäcklerische Ästhetik. Coen-Filme sind kein Jahrmarkt. Andererseits sind sie auch keine politische Kundgebung. »Blood Simple.« hat, wie die meisten Coens, keine besondere Botschaft. Ihre Filme, so kann man vielleicht sagen, gehen in sich auf, aber nicht über sich hinaus. Für die nächsten zwanzig Jahre nach »Blood Simple.« werden sich die Coens auch für nicht viel mehr interessieren als für pures, originales Kino.

Coen Culture. Der Film erschien 2008 hierzulande als Director’s Cut auf DVD. Abgesehen davon, dass Carter Burwells Score ein wenig den 80er-Jahre-Charme eines alten Carpenter-Horrors versprüht, ist der Film gut gealtert. Der Director’s Cut war bereits 2000 in die amerikanischen Kinos gekommen, und anders als andere Director’s Cuts ist er knappe vier Minuten kürzer als das Original. Die Coens beschnitten verschiedene Einstellungen oder nahmen sie ganz heraus, um den Rhythmus des Films zu verbessern.
 

Joels & Ethans wunderbare Welt
25 Jahre Coen-Kino — Eine Retrospektive

Hamburg, 2. Februar 2010, 07:55 | von San Andreas

Loren Visser, Evelle Snoats, Bernie Bernbaum, Jack Lipnick, Waring Hudsucker, Jerry Lundegaard, Uli Kunkel, Wash Hogwallop, Freddie Riedenschneider, Rex Rexroth, Goldthwaite Dorr, Anton Chigurh, Chad Feldheimer, Dick Dutton

Was soll man von Filmen halten, in denen die Figuren Namen tragen wie diese? Nur das Beste, wie sich herausstellt. Was wäre das Kino der letzten 25 Jahre ohne die Gebrüder Coen: Sie etablierten mit ihrem Debüt »Blood Simple.« (nur echt mit dem ».«) die amerikanische Independent-Szene, schufen mit »Fargo« einen modernen Klassiker, kreierten mit Jeff »The Dude« Lebowski eine kultisch verehrte Ikone, verhalfen dem Bluegrass-Folk mit »O Brother, Where Art Thou?« zu einer überraschenden Renaissance, stemmten mit »No Country for Old Men« eine der besten Literaturverfilmungen überhaupt. Ihr neuester Film »A Serious Man« zählt als ihr wohl persönlichster, wärmster und nachdenklichster Film bereits jetzt zum Besten, was sie je gemacht haben.

Man sagt, die Coen-Brüder seien ›der Regisseur mit zwei Köpfen‹. Es soll unerheblich sein, ob man während eines Drehs eine Frage an Joel oder Ethan richtet; man würde dieselbe Antwort erhalten. Noch nie wurde an einem Coen-Set beobachtet, dass die Brüder in Streit geraten würden. Nicht ein einziges Mal. Sämtliche Aufgaben teilen sie sich: Sie schreiben zusammen, sie produzieren zusammen, sie führen zusammen Regie, sie schneiden zusammen. Eine schon fast unheimliche Allianz.

Sie funktioniert indes seit 14 Filmen, seit einem Vierteljahrhundert. Ihre imposante Karriere ist eine der respektabelsten Hollywoods und vor allem eine, die am konsistentesten Qualität zu liefern vermochte (es gibt ein schwarzes Schaf in der Familie der Coen-Filme und vielleicht noch ein oder zwei hellgraue). Stellte sich kommerzieller Erfolg ein, ließen sich die Coens dadurch nie von der Tagesordnung abbringen. Schreiben, Filmen, Schreiben, Filmen. Das letzte Mal verfassten sie drei Drehbücher am Stück (»No Country for Old Men«, »Burn After Reading«, »A Serious Man«), um dann drei Produktionen in Reihe zu schalten.

Ihre Filme mögen teilweise an Kaliber zugenommen haben, blieben vom Charakter her aber stets eigenwillige, unbestechlich konsequente Filme, geprägt vom typischen skurrilen, subversiven Stil der Coens und ihrem unfehlbaren Händchen für Charaktere und Dialoge. Die schöpfe­rische Integrität, die allen Poren ihrer Filme entströmt, die charakte­ristische Handschrift sowie die Tatsache, dass sie oft mit denselben Technikern und Darstellern zusammenarbeiten, macht sie per Definition zu Autorenfilmern; und sie sind unter denen wohl die einzigen, die sich durchaus in dem aufhalten, was wir Mainstream nennen, sich A-List-Stars leisten können und messbare Einspielergebnisse erzielen.

Wer wäre denn da noch? Gus Van Sant betreibt Eigenbrötlerkino auf hohem Niveau, ist abwechselnd sperriger und artiger als die Coens. Jim Jarmusch genießt großen Respekt; seine Filme sind introvertierter und unzugänglicher als die der Coens. David Lynch gehört zum guten Ton, er macht abgründiges, sinistres Rätselkino, gerne ohne Lösung. Wes Anderson teilt mit den Coens den Sinn fürs Skurrile, pflegt überdies einen ähnlichen Ausstattungswahnsinn, aber er ist kein Erzähler.

Die Coens besetzen eine eigene kleine Nische, ihre Filme verquicken Anspruch und Amüsement auf wunderbare Weise, sie sind originell und kunstvoll, schämen sich aber nicht ihres Unterhaltungswertes. Sie verlieren sich selten in Launen, bürsten zwar sanft gegen den Strich, bleiben aber stets an der Erzählung orientiert und sind dadurch in der Regel immer gut verdaulich.

Grenzt sich die Coen-Nische thematisch ab? Abgesehen davon, dass ein Großteil des Coen-Œuvres das Verbrechen als narrativen Motor heranzieht (beliebt sind Mord, Betrug und Entführung, und oft geht dabei etwas schief), findet sich kein richtiger roter Faden. Machen die Coens Genre-Kino? Krimis, Thriller, Komödien? Auch nicht. Joel und Ethan kennen freilich die Winkelzüge des Kinos, sie verstünden es mühelos, einen waschechten Noir oder eine astreine Screwball-Comedy auf die Beine zu stellen (Fingerübungen dieser Art finden sich in ihrer Filmografie). Aber viel lieber lassen sie Konventionen links liegen; sie kidnappen Genres und verbiegen die Schablonen nach ihrem Gusto. Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Liebe zu klas­sischen Formen des Kinos und der Literatur, lassen ihre Filme aber nie zur schwerfälligen Hommage geraten. Sie injizieren das, was man mittlerweile den ›Coen Touch‹ nennt.

Gerne lassen sie ihre Geschichten in der nicht allzu weit zurückliegen­den Vergangenheit spielen (»Fargo«: 1987, »The Big Lebowski«: 1991, »No Country for Old Men«: 1980), bringen aber auch längst vergange­ne Epochen auf die Leinwand: die Prohibitionszeit der 30er Jahre (»Miller’s Crossing«), die Zeit der Depression in den Südstaaten (»O Brother, Where Art Thou?«), das Leben jüdischer Gemeinden zu Beginn der Flower-Power-Ära (»A Serious Man«). Die Geschichten sind allerdings immer fiktiv, nie historisch; die jeweilige Epoche liefert lediglich den kulturellen Hintergrund, die Region das Lokalkolorit, welches in den Händen der Coens oft ein faszinierendes Eigenleben entwickelt.

Zu den Markenzeichen der Coen’schen Filmlandschaft zählen dicke Menschen, schnell redende Menschen, schreiende Menschen, in Dialekten sprechende Menschen, ferner Menschen, die auf bizarre Weise ums Leben kommen. Die Coens lassen die Kamera gerne eine Straße entlangfahren oder auf ein Gesicht zu, einige ihrer Filme beginnen mit Landschaftsaufnahmen und einem launigen Voiceover, sie lieben mit Musik unterlegte Montagesequenzen und zitierbare Oneliner. Unverkennbar ist eine frappante Vorliebe für runde, sich drehende Objekte: sie können die Form von Ventilatoren, Hula-Hoop-Reifen, Radkappen, fliegenden Untertassen, Pomadedosen oder Bowlingkugeln annehmen. Nur Spielerei, eine fixe Idee, oder steckt da eine Art Code dahinter?

Vorsicht! Man hüte sich, im Werk der Coens zu viel Bedeutung zu suchen. Querverweise und Metaphern sind da, warten aber nicht auf ihre Entschlüsselung. In Interviews winden sich Joel und Ethan regel­mäßig bei der Frage, was ihr jeweiliger Film denn bedeuten würde und warum dieses oder jenes Element so und nicht anders konstruiert wäre. Häufige Antworten sind dann »We were just thinking it felt right.« oder »It just goes where it goes.« Ihr Kino ist zu großen Teilen eines, das sich selbst genügt, ohne philosophischen Überbau aus­kommt. Es ist typischerweise nicht darauf aus, die Welt zu erklären, es trägt keine Botschaft, ist nicht politisch, ist nicht allegorisch.

Schlimm ist das nicht, im Gegenteil: Die Abwesenheit von verquasten Metaebenen gibt den Blick frei auf das natürliche Wesen nicht nur des Coen-Kinos, sondern des Kinos schlechthin, auf das schiere Funktionie­ren seiner Sprache. Die Coens tragen keine Aussagen, keine Kunst in den Film hinein, und trotzdem ist die Erfahrung so erfüllend wie bei drei Greenaways zusammen. So unterschiedlich oder abstrus die Themen der Coen-Filme auch sind, sie fühlen sich echt an, unaufdringlich und ehrlich, zwar überlegt, aber nicht überlegen.

Als Macher und Künstler geben sich Joel und Ethan wohltuend be­scheiden und unprätentiös, und sie sind es auch; ihre Filme kommen so gekonnt wie gelassen daher. Sie buhlen nicht um Anerkennung, scheinen einzig und allein dem Kino verpflichtet, und sonst niemandem – nicht dem Studio, nicht dem Kritiker, nicht dem Publikum.

Nicht dem Publikum? Könnte man etwa sagen, die Coens liebten das Kino mehr als ihre Zuschauer? Weit hergeholt ist die Idee nicht, wie­wohl die Rechnung für den Zuschauer dennoch aufgehen kann – wenn nämlich der das Kino genauso liebt wie die Coens, und ihnen, den Machern, ihrer Weltsicht und ihrem Humor noch eher verbunden ist als dem Film und seinen Figuren. Fehlt einem dieses Einverständnis, mag man eine gewisse klinische Kühle wahrnehmen, die tatsächlich vielen Coen-Werken innewohnt – ein unbestimmtes Gefühl der Distanz, ein impliziter Sentiment, der nicht da ist und den man nicht nachahmen kann, auch wenn der Film noch so ausgereift ist.

Dann und wann aber geschieht es, dass ein Coen-Film seine Charak­tere wirklich gern hat, dass er diese besondere Wärme ausstrahlt, die den Film öffnet und ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt zu werden. Präzise dann ist es der Fall, dass ein Werk der Coens die letzte Stufe von der Exzellenz zur Perfektion zu erklimmen vermag. Dem eher intellektuellen Genuss gesellt sich ein emotionaler hinzu, und der macht die Sache rund. Die Kritiker sprechen dann von ›Meisterwerk‹ und ›Geniestreich‹, und einer formulierte es sogar so, ohne die geringste Furcht vor Widerspruch: »In a perfect world, all movies would be made by the Coen brothers.«

*

Was in den nächsten Tagen folgt, ist ein Film-für-Film-Durchmarsch des kompletten Coen-Kanons, von 1984 bis 2009: 25 Jahre, 14 Filme, jeden Tag einen. Ein Hinweis für Coen-Neulinge: Die Texte können Spuren von Spoilern enthalten:

Blood Simple. (1984)
Raising Arizona (1987)
Miller’s Crossing (1990)
Barton Fink (1991)
The Hudsucker Proxy (1994)
Fargo (1996)
The Big Lebowski (1998)
O Brother, Where Art Thou? (2000)
The Man Who Wasn’t There (2001)
Intolerable Cruelty (2003)
The Ladykillers (2004)
No Country for Old Men (2007)
Burn After Reading (2008)
A Serious Man (2009)
 

Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (1/2010)

Paris, 1. Februar 2010, 07:01 | von Paco

In Island

  ∙ für Julien Louis Geoffroy ∙  

1. The Maulwurf has landed! Ausgabe 5, für das Feuilletonjahr 2009, ergänzt von einem Umbl-Interview bei DRadio Kultur: »Das Feuilleton lauert überall.« – 12. Januar 2010, mp3

2. Vor ein paar Jahren, im Café Cantona: Die Erfindung des Umblätterers.

3. Das neue Outfit der Literaturzeitschrift EDIT, aua! Dieses Apothekerblau, und die Frontpage sieht aus, als ob die eigentliche Frontpage mutwillig ausgerissen wurde. Was ist da passiert? WER IST DAFÜR VERANTWORTLICH!

4. Auch wenn Christian Kracht inzwischen von Guido Westerwelle bevorwortet wird, wogegen sich leider niemand wehren kann, und jetzt hab ich das Ende des Satzes vergessen. Jedenfalls, der gerade erschienene Band »Christian Kracht« ist voller primärer Sekundär­literatur und eine uneingeschränkte Empfehlung wert. Eckhard Schumacher in Bestform! Und die erste apokryphe Schrift zum Band ist bereits hier im Umblätterer erschienen: »Der Eisenbahner Christian Kracht«.

5. »Zum 80. Geburtstag von Rainald Goetz.«

6. Immer noch die germanistische Königsdisziplin: die Aufzählung aller Teilbände der »Römischen Octavia«.

7. Seit dem 25. November 2008 kündigen wir hier so regelmäßig wie großspurig die große Coen-Brothers-Retrospektive an, eine Werkmonografie über alle bisherigen 14 Coen-Filme. Seit über einem Jahr war sie »so gut wie« fertig, und jetzt musste noch »A Serious Man« laufen, und jetzt ist es dann angeblich soweit. Der reguläre Betrieb setzt aus, hier gibt es dann zwei Wochen lang In-depth-Film-Feuilleton von San Andreas.

8. »Lost«, die sechste Staffel, das Finale, ab dem 2. Februar auf ABC. Wir sind beim narrativen Showdown dabei, Folge für Folge, wie immer (our very own Episodenführer). Nach dem ganzen zusammenge­stückelten SciFi-Brei in den Staffeln 4 und vor allem 5 kann es eigentlich nur schlecht enden, hehe. Bisheriger dramatischer Tiefpunkt ist natürlich der Satz von Locke bzw. dessen Resurrection-Double: »I think this is the best mango I’ve ever eaten.« (Folge 5.07) Die Recaps starten hier dann irgendwann nach der Coen-Brothers-Werkschau.

9. Hehe.

Überschriften-Workshop beim ADAC

Konstanz, 31. Januar 2010, 16:20 | von Marcuccio

Benjamin von Stuckrad-Barre hat damals in »Remix I« eine Namensliste von »Fahrradläden in Studentenstädten, die wirklich so heißen«, zu­sammengestellt:

  • Gegenwind
  • Stadtrad
  • Sattelfest
  • Fahr Rad Laden
  • Rad ab
  • Kein Rad Au
  • Fahr Rad (ich dir)
  • Fahrraden & Verkauf
  • Radelführer
  • Räderwerk
  • Zentralrad
  • Fahrradies

»Thesaurus der Gegenwart« nannte das Moritz »Poproman« Baßler. Aus aktuellem Anlass scheint mir mal ein Katalog der Überschriften­masche im »ADAC-Reisemagazin« angebracht.

Im Heft Nr. 111 (»Graubünden«):

  • Chur ohne Schatten (über die Vorzüge der Kantonshauptstadt)
  • Schweizer Suppkultur (über das Nationalgericht Bündner Gerstensuppe)
  • Seensucht (über badetaugliche Bergseen)

Im aktuellen Heft Nr. 114 (»Ruhrgebiet«):

  • Schönen Ruhrlaub! (Über Bademöglichkeiten im Ruhrgebiet)
  • Fußballungsgebiet (über die Vereinsdichte im Revier)
  • Rückzugsreviere (über Hotels und Herbergen)

Mit Katja und Max Frisch auf den Piz Kesch

Konstanz, 30. Januar 2010, 12:48 | von Marcuccio

Neulich, pünktlich zur Davos-Saison, gab es mal wieder Zauberberg-Deko in der FAZ. Der für literarische Ortstermine viel spannendere Berg liegt aber eigentlich schon immer ein Tal weiter, im Engadin, und heißt Piz Kesch.

Piz Kesch (Quelle: Wikimedia Commons)

Dieser Piz Kesch (übrigens in Sichtweite von Tarantinos Piz Palü) hat einen ganz großartigen Auftritt in »Mein Name sei Gantenbein«. Mit Anfang 20 gelesen und nie mehr vergessen hab ich die Szene, wie Gantenbein 1942 auf dem Gipfel einen urlaubenden Nazideutschen trifft:

»Als ich in die Kesch-Lücke kam, hatte ich den Mann eigentlich schon vergessen, doch als ich das Kreuz und Quer seiner Stapfen sah, erinnerte ich mich, dass man etwas hätte tun können, was ich nicht getan habe. Es interessierte mich aber, wohin er voraus­sichtlich gestürzt wäre. Nur so.«

Dein Name sei Großvater

Unter diesem Titel schreibt Katja Frisch, die Enkelin von Max Frisch, letzten Sommer für das »ADAC-Reisemagazin Nr. 111 Graubünden«. Das penetrante Du hält sie übrigens den ganzen Beitrag lang durch: »Heute, hier am Piz Kesch, bin ich dein Leser«.

Doch es wäre wohlfeil, das als Selbstfindungstrip abzukanzeln. Oder als Auto-Motor-Sport-Jargon – Katja ist zwar Redakteurin der »ADAC Motorwelt« (Du gibst Gas, du erhöhst deine Drehzahl, du spürst den Berg!). Denn gern vergessen wird, was für prominente Vorbilder das Outdoor-Du hat: In allen Wipfeln spürest du …

Und eines ist auch klar: Als Besitzerin eines Tantra-Sex-Studios oder mit ähnlichen Zusatzqualifikationen hätte sie es natürlich längst schon mal ins FAS-Feuilleton geschafft (wie vor ein paar Jahren dieser Enkel von Heinrich Mann). Wenigstens Bademeisterin im Letzibad hätte Katja Frisch ja noch sein können. So aber schreibt sie fürs ADAC-Feuilleton.

Schlüsselqualifikation: Schriftsteller-Enkelin

Interessant an der Bergtour auf Großvaters literarischen Spuren ist das gemeinsame Metapherngelände. Sie erwähnt »schier endlose, graubraune Geröllfelder, ganz leicht verschneit, ein gigantischer Nusskuchen, der gleichmäßig mit Puderzucker bestäubt ist«. Latent kuchenrezepttauglich textete auch schon er: Der Fels »wie Bernstein«, »der Schnee eher wie Milch«.

Und: Man versteht sich generationsübergreifend auf Swiss Product Placement im Hause Frisch: Gantenbein »frühstückte eine trockene Ovomaltine«. Katja: »Ich bestelle Rösti und ein Rivella. Frage Ruthli, die Hüttenwirtin mit dem sonnengebräunten Bubengesicht, ob sie etwas über ›Gantenbein‹ und eine darin beschriebene Wanderung von Max Frisch wisse. Sie schüttelt den Kopf. Aber Max Frisch, ja natürlich, den kenne sie.«

Später im Tal, die Enkelin in der Buchhandlung von Pontresina:

»›Stiller‹ ganz vorn im Regal, der einzige Frisch, der im Laden zu haben ist. Nachfrage bei der Buchhändlerin: ob sie denn wisse, dass das Buch auch den Ort zum Thema mache. Stirnrunzeln, Erstaunen, nein, man habe den Roman hier, weil er eben eines der wichtigsten Werke des Schriftstellers sei. Ich nenne meinen Namen nicht und gehe weiter.«

Am Schluss eine schöne, weise Absage an alle hermeneutischen und sonstigen Enkelinnenverpflichtungen des Literaturbetriebs: »Ich verstand und verstehe so viel oder so wenig von Literatur wie Millionen andere Menschen auch.« Ab sofort liest man Katja Frisch wieder exklusiv in der ADAC Motorwelt.

 
Bildquelle: Wikimedia Commons

Erleuchtung

Lyon, 29. Januar 2010, 12:24 | von Niwoabyl

Spannend bis in die Lesermeinungen hinein: die neue FAZ-Serie »Intellektuelle Erleuchtungen«. Im ersten Teil Henning Ritter über Descartes. In den Kommentaren dann folgendes Szenario:

  • am 13.01. um 18:31 – bibliografische Anmerkungen eines ziemlich sammelwütigen Lesers, Hinweise auf die Erleuchtungserlebnisse von Karl Marx und Charles Darwin, Lob Henning Ritters;
  • am 13.01. um 18:41 – derselbe Leser (sicher leider gar nicht der Helmut Hampl, von dem Google weiß, dass er von Beruf Tischten­nistrainer ist) fügt noch etwas zur theologischen Sicht der Erleuchtung hinzu und zitiert ermüdend lang aus der »Theologischen Realenzyklopädie«;
  • am 14.01. um 20:51 – ein anderer Leser meldet sich zu Wort, und zwar mit einer schönen Geschichte, in der es um dänischen Pan­theismus geht;
  • am 15.01. um 07:53 – Comic Relief: lustige Bemerkung eines wie­derum anderen Lesers über Descartes‘ äußere Erscheinung (und tatsächlich sieht Descartes auf dem Bild, das die FAZ-Leute ausgewählt haben, ganz gutgelaunt aus);
  • am 15.01. um 11:10 – na also: wilder Angriff auf Descartes und nebenbei auch auf Freud, denen der aufgeregte Leser Montaigne und Schopenhauer vorzieht;
  • am 15.01. um 14:10 – derselbe Leser hat drei Stunden später offenbar gedacht, er habe sich nicht klar genug ausgedrückt, und liefert eine Verallgemeinerung bzw. Theoretisierung, indem er aus ideengeschichtlicher Perspektive das Thema der intellektuellen Erleuchtung als Populismus verwirft, peng!

Nun freue ich mich sehr auf die Lesermeinungen, die der eben erschienene zweite Teil der Serie (Iris Wenderholm über Rousseau) veranlassen wird. Liebe FAZ.NET-Leserschar, enttäusch mich nicht!

Charles Matton in Jena

Jena, 28. Januar 2010, 14:15 | von Paco

Schnell nach Jena in die Charles-Matton-Ausstellung (in der Göhre, noch bis 21. Februar). Es ist ja die erste ihrer Art in Deutschland, und da hatte es sich selbst SP*N nicht nehmen lassen, darüber zu berichten. (An den anderen Feuilletons ist das vorbeigegangen. Schande, Schande, Schande!)

Die Genrebezeichnung der ausgestellten Werke lautet boîtes, Boxen. Das sind diese absonderliche Guckkästen, an denen Matton seit Mitte der Achtziger bis zu seinem Tod vor etwas mehr als einem Jahr herumgebaut hat. Sie zeigen das Zimmer einer unordentlichen Frau (Spielkarten, zerwühlte Decken, Revolver auf dem Kissen), Hotel­szenen oder Künstlerateliers, etwa die von Francis Bacon und Alberto Giacometti. Die Boxen lassen sich als bloße Kulissennachbauten interpretieren oder aber als extrem originäre Überkunst.

Die Logik der Spiegel

16 der insgesamt knapp 100 von Matton gefertigten Boîtes sind in Jena ausgestellt (daneben auch noch ein paar Dutzend Fotografien). Die Kantenlängen der Boxen, die in Sichthöhe aufgebahrt sind, betra­gen jeweils zwischen 50 und 100 cm. Die gläserne Frontseite gibt den Blick frei auf die jeweilige Miniaturszene. Durch die obere Abdeckung strömt ab und zu noch etwas künstliches Licht.

Die den realen Gegenständen nachgebildeten Einzelelemente in den Kästen hat Matton meist aus Kunstharz und Marmorstaub angefertigt. Das waren sicher so fitzelige Sessions wie damals vor 400 Jahren, als Adam Elsheimer seinen perfektionistischen Sternenhimmel auf diese eine Kupferplatte setzte. Das wichtigste Stilmittel aber sind (vor allem teildurchlässige) Spiegel, deren Logik nicht immer leicht zu durch­schauen ist. Sie verlängern einen Weinkeller, eine Hotelhalle oder gleich die Bibliothek zu Babel ins Unendliche.

Zeitungen, immer wieder Zeitungen

Bibliothèque de Babel (Box von Charles Matton)In der Box mit der Babel-Bibliothek, eine Hommage an Borges, sieht man naturgemäß volle Bücherregale und eben endlos scheinende Gänge. Matton hat die Szene aber eher frei gestaltet: An den Bücherrega­len hängen miniaturisierte Poster von Rimbaud, Proust, Joyce und anderen Kanonschriftstellern, das erinnert dann eher an ein Jugendzimmer. Und über dem Geländer hängt komischerweise eine »Wiener Zeitung«.

Und überhaupt, die Matton-Boxen lassen sich auch als Parteinahme pro Holzmedien lesen. Denn in fast allen Boxen stehen Bücher und liegen Zeitungen en miniature herum. Zeitungen, immer wieder Zeitungen. In einer leeren Hotelhalle flattert eine FAZ herum. In Sigmund Freuds Arbeitszimmer wieder die »Wiener Zeitung«. Sonst natürlich viele »Le Monde«-Exemplare, sogar auch noch in Sacher-Masochs Dachstube, wo eine »Le Monde« direkt vor einem Abu-Ghuraib-artig gefesselten Mann liegt, zusammen mit einer Ausgabe des »Chronicle« und einem aufgeschlagenen Buch.

Foto der Box »Bibliothek zu Babel«:
Stadtmuseum Jena

Willkürliche Superlative (Teil 1): Wann
wurde der schönste Satz aller Zeiten gesagt?

Lyon, 27. Januar 2010, 06:28 | von Niwoabyl

Der schönste Satz aller Zeiten wurde irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts n. Chr. in Ägypten, genauer: in den Wüsteneien der Thebais, gesagt, oder eher: geschrien, mit voller, vibrierender Stimme und mit einer erhabenen Geste der Weigerung samt hoch über den Kopf erhobenen Armen. Und zwar vom Anachoreten Palemon, der zum Glück Pachomios‘ Meister war, denn der inzwischen zum Heiligen avancierten Famulus hat den sublimen Satz in die Ewigkeit retten können.

« En ce temps-là, le désert était peuplé d’anachorètes … » (Anatole France: « Thaïs », auch nicht schlecht). Und am Abend saßen sie munter zusammen zum Abendbrot und -gebet und verzehrten mit Olivenöl übergossenes Salz.

Und siehe da, als Palemon des Öls ansichtig wurde, da durchfuhr ihn der Geist und ließ ihn verlautbaren:

»DER HERRGOTT WIRD GEKREUZIGT,
UND ICH, ICH, ICH ESSE ÖL?«


Die Nouvelle Revue Française vom 1. März 1935

Paris, 25. Januar 2010, 10:15 | von Paco

Die Zeitungen waren heute nicht geliefert worden, also ging ich hinaus Richtung Jardin du Luxembourg, um sie mir nachzuholen. Ich blieb auf halber Strecke in einem Antiquariat stecken und kaufte mir dann dort lieber eine alte NRF, die Ausgabe vom 1. März 1935, und ging gleich wieder zurück nach Hause.

Wie herrlich! Darin die Anfangskapitel von Malraux‘ »Le temps du mépris«. So ein gewaltiger Erzählschrott ist mir lange, lange, lange nicht mehr untergekommen. Genosse Kassner, von Beruf her jetzt also Protagonist dieses Romans, ist in die Fänge der Gestapo geraten, das ist dann im März 1935 eben frisch zeitgenössisch. Die Interrogations­szene gleich zu Anfang liest sich wie »CSI: Miami«, und das ist in diesem Fall negativ gemeint.

Vor Jahren hatte ich einen anderen Roman von Malraux, »L’Espoir«, lesen und anschließend zu Tode kommentieren müssen. Und obwohl das Buch viel besser ist als der übliche Malraux (auch zum Beispiel »Les Noyers de l’Altenburg« … aaaahh!), erinnere ich mich vor allem daran, dass wir ständig über die Stilblüten lachen mussten.

Zum Beispiel ergeht sich Malraux in so einer Art ausgeweiteter Lavater’scher Physiognomie und verbindet Gesichtszüge ständig mit dem Charakter oder dem Beruf (diese Intellektuellen! mit ihrer hohen kahlen Stirn! diese Bauern! mit ihrem quadratischen Schädel! diese Piloten! mit ihrer typischen krummen Nase! … sicher noch nicht die schlimmsten Beispiele).

Zurück zur NRF, denn dieses Hefterl ist so schön durchzublättern, so eine Monatsrundschrift im alten Stil mit lauter interessanten Sachen aus der zweiten Reihe, dargebracht mit einer uckermärkischen Lang­samkeit, einfach nur superst. Sowas war mir zuletzt vor ein paar Wochen beim Durchbrowsen einer alten »Sinn und Form« aus den Siebzigern passiert.

Irgendwie jedenfalls hatte mich auch der Anfang dieses Malraux-Romans letztlich zu fesseln begonnen, vielleicht sogar wegen dieser narrativen Latschigkeit, als der Text nach 20 Seiten mit einem »(à suivre)« abbrach, und da werde ich mal versuchen, die Folge-NRF aufzutreiben.

Ich könnte auch gleich den fertigen Roman irgendwo kaufen, aber das wäre natürlich witzlos.