100-Seiten-Bücher – Teil 7
Fjodor Dostojewski: »Weiße Nächte« (1848)

St. Petersburg, 13. Juli 2011, 12:30 | von Paco

Der Insel-Verlag hat für seine Ausgabe vor Jahren den bisherigen Untertitel des Romans geändert: »Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers« wurde zu: »Eine Liebesgeschichte«. Eine taktisch gelungene Aktion, auch wenn es sich um eine Liebes­geschichte ohne Happy End handelt. Sie geht eigentlich erst mal ganz gut los, abenteuerlich fast. Ein junger Mann rettet das Fräulein Nastenka vor einem befrackten Unhold, und dann setzen sich Retter und Gerettete in die helle Petersburger Nacht und plaudern.

Insgesamt haben sie vier weiße Nächte zusammen, bis Nastenka mit ihrem ursprünglichen und eigentlichen Traummann abzieht, der dann nämlich wider Erwarten doch noch erscheint – was für eine Wendung des Schicksals! Dabei hatte es so gut ausgesehen, auch wenn der Träumer zwischenzeitlich sehr langwierig von seinen Träumereien erzählt und zum Beispiel auch gleich E. T. A. Hoffmann erwähnt hat, was man vielleicht nicht gleich bei einer der ersten Begegnungen tun sollte.

Ich habe das Buch wieder mal im Zug gelesen, auf einer knapp dreistündigen ICE-Fahrt. Um mich herum waren sechs Frauen eines Strickvereins gruppiert (Zugsocking), ein Setting, das so gar nicht zu meinem Buch passte. Als ich nach Beendigung der Lektüre das Ohropax herausnahm, hörte ich als erstes folgende Sätze: »Ich stricke doch hier keine Ferse! Im Zug kann man doch keine Ferse stricken!«

In der Bemerkung lag allerdings mehr empirische Erkenntnis als im ganzen Dostojewski-Buch, auch wenn das jetzt vielleicht nicht so sehr vergleichbar ist. Es geht übrigens fast schneller, das Buch durchzu­lesen, als Viscontis Verfilmung zu schauen. Und wenn man auch noch das russische Original zur Hand nimmt, ist die Geschichte noch mal um 33.000 Zeichen kürzer, man spart also ein Viertel der Lesezeit!

Länge des Buches: ca. 125.000 Zeichen (russ. 92.000). – Ausgaben:

F. M. Dostojewski: Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers. Übertragen von Hermann Röhl. Nachwort von Michael Wegner. Mit 8 Zeichnungen von Irmgard Zoll. Leipzig: Insel-Verlag 1969. S. 4–95 (= 92 Textseiten, abzgl. 8 Seiten mit den Zeichnungen).

Fjodor M. Dostojewski: Weiße Nächte. Eine Liebesgeschichte. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. Frankfurt/M.; Leipzig: Insel Verlag 2002. S. 7–110 (= 104 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Leonardo malt wieder!

London, 11. Juli 2011, 02:03 | von Dique

Im »Kunstmarkt« der gestrigen FAZ hat Gina Thomas über die jüngsten Londoner Auktionen berichtet, ein sehr schöner Berichterstattungstext mit dem Tenor: »Es gibt einfach zu wenig superbe Alte Meister«. So war also gleich schon die Überschrift formuliert, und so ist es eben auch, das Angebot von hochwertigen Altmeistergemälden wird knapper und knapper. Und vom Preisniveau her sind diese im Vergleich zu zeitgenössischer Kunst auch absolut nicht konkurrenzfähig.

Aber gut, nach der Inspektion der wenigen Topstücke lenke ich meinen Blick in die zweite und dritte Reihe, und da gab es einige Perlen wie zum Beispiel diese Portraitskizze des Charles Binny von Thomas Lawrence.

Binny schaut aus der nur leicht angeschmeckten Leinwand heraus, das Gesicht schon fertig, der Oberkörper in einem Hauch angedeutet. Nicht dass ich wüsste, wer Charles Binny war – ok, es gibt da noch irgendwo ein Lawrence-Gemälde, das ihn mit seinen Töchtern zeigt –, aber darum geht es ja nicht, sondern um diesen Einblick in die Entstehungs­weise aufgrund nicht erfolgter Fertigstellung des Gemäldes.

Im Gegensatz zu den Klassikern der nicht zu Ende gemalten Prachtgemälde (z. B. Menzels »Friedrich« in der Alten Nationalgalerie, Michelangelos »Manchester Madonna« in der National Gallery oder Parmigianinos »Madonna mit dem langen Hals« in den Uffizien) interessiert so ein Akademiestück dann aber doch kaum jemanden und bringt nicht viel ein, es ging für billige 12.000 GBP weg.

Trotz der ganzen Klagelieder wurde bei Sotheby’s aber auch das zweitteuerste Altmeistergemälde ever verkauft, eine Guardi-Vedute, für 23,8 Mio. GBP. Das teuerste Altmeistergemälde bleibt, wie Gina Thomas in der FAZ schreibt, Rubens »Kindermord von Bethlehem«, aber vielleicht nicht mehr lange, denn, und das war das große Thema in der Halbwelt der diesjährigen Old Masters Week in London: Es gibt einen neuen Leonardo!

Immer wenn ich jemandem davon erzähle, führt das standardmäßig zu der Nachfrage, ob Leonardo denn wieder malen würde. Aber egal, es geht um einen »Salvator Mundi«, der früher noch als Kopie nach Giovanni Antonio Boltraffio verschrien war. Doch nun erklärt gleich eine Handvoll Experten dieses Gemälde für einen echten Leonardo. In der »Welt« hat Stefan Koldehoff alles momentan erreichbare Wissen darüber sehr schön zusammengefasst.

Das Stück gehört einer Gruppe von Händlern aus den USA und wird eventuell nicht unter 150 Mio. Dollar weggehen. Ob es dann wirklich echt ist oder nur ein weiteres Exempel für den modernen Zuschreibungswahn, ist dabei vorerst auch eigentlich egal. Es wäre nämlich einfach schön, wenn mal wieder ein Alter Meister den zweifelhaften Rekord des teuersten Kunstwerks halten würde und nicht ein deprimierendes Drip-Painting von Jackson Pollock oder der goldene Schrecken des großen Dekorateurs Gustav Klimt.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 6
Friedrich Dürrenmatt: »Der Richter und sein Henker« (1950/51)

Konstanz, 6. Juli 2011, 15:13 | von Marcuccio

Krimi-Schullektüre – aber welcher Hundertseiter kann was für sein Schicksal. Und Richter hin, Henker her, mich faszinierte an diesem Buch nichts mehr als die ominöse Twannbachschlucht. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der ganzen Krimihandlung, aber auch so eine Art Landschaftsgrenze, zwischen Twann und Lamboing. Trennt das Berner Seeland vom Jura, die Deutschschweiz von der Welschschweiz.

Dass zwischen einem Dorf und dem nächsten eine Sprach-, aber keine Landesgrenze verlaufen konnte, das war für einen Neuntklässler mit »Französisch fakultativ« schon das Maximum der Schweiz-Exotik. Erst Jahre später begriff ich: Die Schlucht – durchflossen vom Twannbach, französisch Douanne, also quasi douane – ist Dürrenmatts kleiner Röstigraben.

Wenn Kommissär Bärlach von Bern ins Jura-Dorf ermitteln fährt, sagt er beharrlich Lamlingen statt Lamboing. Und wenn der Dorfpolizist von Lamboing mit Bern deutsch sprechen muss, »eine Sprache, in der es ihm nicht ganz geheuer war«, kriegt er schlechte Laune. An einer Stelle ist auch von »Separatisten« und der »Jurafrage« die Rede. Aber das alles hat mit dem Krimiplot nichts zu tun. Im Gegensatz zur Lamboing-Anfahrt der Ermittler, die von Bern aus entweder linksdrehend oder rechtsdrehend um den Bieler See möglich ist: zum literarischen Geocaching wie geschaffen.

Im Übrigen ein Krimi für SZ-Leser: Die Leiche, ein Polizist, führte ein Doppelleben als Spion. Deckname seiner Investigativexistenz: »Doktor Prantl, Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte in München.«

Länge des Buches: ca. 156.000 Zeichen. – Ausgaben:

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Roman. Mit 14 Zeichnungen von Karl Staudinger. 2691.–2730. Tsd. Hamburg: Rowohlt 1985. S. 5–118 (= 114 Textseiten).

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Kriminalroman. In: ders.: Die Kriminalromane. Zürich: Diogenes 2011. S. 7–158 (= 152 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Hitchcock und Caravaggio

London, 1. Juli 2011, 21:43 | von Dique

Gerade habe ich das Caravaggio-Buch von Andrew Graham-Dixon beendet, »Caravaggio: A Life Sacred and Profane«. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte ich mich noch geziert, es auch nur zu kaufen. Bei Hatchards lag ein riesiger Haufen, anderthalb Meter hoch, wie gemauert, und alle Exemplare waren signiert.

Das hätte mich sogar auch fast gereizt, aber dann hatte ich eben doch keine Lust auf noch ein Caravaggio-Buch, und außerdem fand ich es reichlich beknackt, mich von einer signierten Kopie animieren zu lassen. Doch der Titel blieb in meinem Kopf, 10 Jahre hat Graham-Dixon am Buch gearbeitet, das von allen Kritikern und Lesern auch ziemlich gefeiert wurde, und der Autor ist ja übrigens auch der Macher der fantastischen BBC-Doku »Travels with Vasari«.

Jetzt hatte ich also die Idee, dieses Buch doch haben zu müssen, und dann stand ich eines Tages bei Foyles und hatte es in der Hand und fing ein bisschen an zu lesen und wollte überhaupt nicht wieder aufhören. Anstatt es gleich mitzunehmen und im nächsten Café weiterzulesen, dachte ich wieder an die signierten Exemplare bei Hatchards. Das war nun allerdings schon ein paar Monate her, aber der Haufen war so riesig gewesen, die konnten doch unmöglich alle verkauft worden sein.

Also stellte ich das Buch zurück ins Regal und marschierte die Charing Cross Road hinunter, quer durch Soho bis nach Piccadilly zur schönen Buchhandlung Hatchards. Das Caravaggio-Buch fand ich gleich in der zweiten Etage in der Kunstbuchabteilung, aber im Regal, ohne Signierung. Der Ziegelsteinhaufen war verschwunden. Ich schleppte das Buch zur Kasse, mich langsam ärgernd, dass ich damals nicht gleich zugeschlagen hatte, und fragte einen freundlichen Herrn, ob es denn vielleicht auch noch eine signierte Fassung gebe.

Er schaute kurz nach und rief dann seine Kollegen im Erdgeschoss an, ob vielleicht im Schaufenster oder Eingangsbereich noch welche wären. »We had sooo many!«, sagte der freundliche Herr zu mir, während wir auf Antwort von unten warteten. Er selbst besitze auch ein Exem­plar, signiert. Ob er es schon gelesen habe? »No, not yet, but it is supposed to be very good!« Am Ende bekomme ich keine signierte Kopie mehr, alle verkauft!

Es ist also die unsignierte Kopie, die ich gerade zu Ende gelesen habe. Das Buch hangelt sich chronologisch durch Gemälde und Leben des Künstlers. Sein letztes Werk war das Martyrium der heiligen Ursula (heute in Neapel). Wie auf vielen seiner Bilder hat Caravaggio auch auf diesem einen Cameo-Auftritt. Er hat das Bild 1610 in Neapel gemalt und ist noch im selben Jahr gestorben. Kurz bevor er mit der Arbeit begann, wurde er Opfer eines Racheakts, vier Schergen lauerten ihm vor einer Bar in Neapel auf und schlitzten ihm ein Schandmal ins Gesicht.

Auf diesem letzten Gemälde, eben diesem Ursulamartyrium, ist er mit halbgeöffnetem Mund zu sehen, in dieser kleinen Ansammlung von Leuten, die um Ursula herum stehen. Er sieht aus wie das Leiden selbst, beinah zusammenbrechend, mit einem letzten Seufzer auf den Lippen.

Mir fällt kein anderer Maler ein, der sich so häufig in seinen eigenen Bildern dargestellt hat, nicht in Portraits à la Rembrandt oder Dürer, sondern in der Menge, im Hintergrund, als Beobachter. Ein pindarischer Sprung lässt mich an Alfred Hitchcock denken, der in seinen Filmen ebenfalls immer kurz mal selbst auftaucht. Das sind aber vergleichs­weise kleine Späße, Gimmicks, die Hitchcocks Spitzbübigkeit unterstreichen.

Die Auftritte des Michelangelo Merisi sind Statements, Seelenzustands­dokumentationen ohne jeden Schalk. Ganz besonders in seinem spektakulärsten und prominentesten, dem Portrait als Goliath, dessen abgeschnittenen Gigantenschädel der kleine David quasi in die Kamera hält. Aus dem Hals des abgetrennten Goliathkopfes rinnt noch Blut, etwas Leben scheint in diesem Kopf noch zu sein, doch wird es jeden Moment verlöschen. Vor diesem Cameo-Gruselauftritt sieht man Caravaggio eher unbeteiligt in der Menge stehen und zuschauen, wie im berühmten Martyrium des heiligen Matthäus oder in einer Gruppe Musizierender aus seiner Frühphase in Rom.

Nach diesem Lektürebrocken war ich dann doch erleichtert, ein Exem­plar ohne Signierung gekauft zu haben, denn das wären ja wieder drei Wörter mehr zu lesen gewesen: ›Andrew‹, ›Graham‹ und ›Dixon‹. Falls der Autor nicht noch was reingeschrieben hat wie »Love«, »All the best« oder »Wish you a happy reading«.
 

Loblied auf Lehrte

Berlin, 29. Juni 2011, 16:02 | von Josik

Damals, am Ende ihrer Rede zur Einweihung des Berliner Haupt­bahnhofs, als im Beisein des dann auch im sanierten Dresdner Hauptbahnhof wieder zum Einsatz gekommenen Hauptbahnhof­einweihungsmoderators Cherno Jobatey die Bundeskanzlerin Angela Merkel wörtlichst diese volkstümlichen Worte sprach (ab 9:20 Min.):

»Ich freu mich drauf, wenn ich mal gar nix mehr im Kanzleramt abends zu essen bekomme, entweder einen Döner oder bei McDonald’s vorbeizuschauen, oder – jetzt krieg ich gleich wieder Ärger – auch in einer deutschen Bulettenbude oder wie man das hier nennt, wahrscheinlich etwas gehobener«,

… damals also gab es noch eine Menge Berliner Ureinwohner, die zum einen die Currywurst in dieser kulinarischen Aufzählung vermissten und zum anderen sich fest vorgenommen hatten, auch weiterhin vom ›Lehrter Bahnhof‹ zu sprechen, statt den albernen Mehdorn’schen Neologismus ›Hauptbahnhof‹ zu benutzen.

Freilich ist vom ›Lehrter Bahnhof‹ heute keine Rede mehr, ebensowenig wie von der ehemaligen ›Frauenhaftanstalt Lehrter Straße‹, die sich damals in unmittelbarer Nähe des heutigen Berliner Hauptbahnhofs befand und aus der bekanntlich Inge Viett ausgebrochen ist, um dann später in die DDR rüberzumachen. Es scheint da einen ominösen Zusammenhang zu geben zwischen DDR-Sehnsucht und Lehrte. Auch der Schriftsteller Ronald M. Schernikau, ein gebürtiger Lehrter, hat sich ja noch 1990 in die DDR einbürgern lassen.

Sonst ist Lehrte hauptsächlich leider nur dadurch bekannt, dass Hiltrud Schröder sich dort hat scheiden lassen, genauer gesagt: Hiltrud geborene Schwetje, geschiedene Schröder, nunmehr Hensen, so ähnlich wie man auch bei der ehemaligen jüngsten deutschen Bundesfamilienministerin aller Zeiten inzwischen korrekterweise von Claudia geborene Wiesemüller, geschiedene Nolte, nunmehr Crawford sprechen muss. Was Hiltrud Hensen angeht, so soll ihr Exmann Exkanzler Schröder über das Dach des ehemaligen Lehrter Bahnhofs, das Mehdorn eigenmächtig um 130 Meter verkürzt hatte, gesagt haben, es sehe aus wie eine abgebissene Currywurst.

Lehrte ist aber auch und vor allem der Geburtsort des Lyrikers ZaunköniG, der sich ganz und gar dem Sonett verschrieben hat. Jede Sonettdichterin und jeder Sonettdichter kann versuchen, im grandiosen Sonett-Archiv des ZaunköniGs, in dieser unerschöpflichen Fundgrube irgendwo zwischen Alexis Aar und Stefan Zweig unterzukommen und Selbstsonettiertes zu publizieren. Vielleicht die drei besten Sonettverse überhaupt stammen von Ferdinand Freiligrath:

Dann ruft er aus: »Sie ist die 2te Staël!
Sei sie nun sonsten Lea oder Rahel –
In sieben Jahren ist sie mein Gemahel!«

Das sind Reime, da kann die Neue Frankfurter Schule eigentlich einpacken. Gar in starckdeutschen Reimen reimt man in einem Sonettband mit dem Titel: »Um die Wurst«, in dem es auch um die von Schröder verlorene Bundestagswahl geht. Der Wurststand am Berliner Hauptbahnhof aber, der bis vor ein paar Tagen noch »Kantine« hieß, wurde nunmehr in »Wurststand« umbenannt. Und in Lehrte gibt es gar: einen eignen Wurst-Basar! Die lakonischste Liebeserklärung an Lehrte freilich habe ich in einem Exemplar der »Kleinstadtnovelle« gefunden, dem Debüt des natürlich ebenfalls im Sonett-Archiv vertretenen Ronald M. Schernikau. Ein unbekannter Wolf schreibt dort:

 

Schernikau-Buch, Widmung

 

Interview-Raubkunst gestern und heute

Konstanz, 28. Juni 2011, 07:02 | von Marcuccio

Grüne, die sich schwarz ärgern, weil der »Focus« ein Interview mit Renate Künast geführt hat, um es dann doch nicht abzudrucken (via Bildblog): Das erinnert an einen prominenten früheren Fall von Interview-Raubkunst. Jetzt fast zehn Jahre her.

Damals hat der Interviewte zurückgezogen. Das ist ja der Normalfall. Gleichzeitig war die Sache durchtriebener. Denn was am 13. August 2001 an Interview-Camouflage geschah, dürfte in der jüngeren deutschen Pressegeschichte so auch nicht allzuoft passiert sein. Fast schon ein Stück Literaturgeschichte, wie es da im »Spiegel« (Nr. 33/2001, S. 104) unvermittelt lakonisch hieß:

»›Stern‹-Autor Arno Luik, 46, führte mit Walser am 25. Juli ein mehrstündiges Gespräch, der war mit der geschriebenen Fassung des Interviews aber nicht einverstanden, verweigerte seine Zustimmung und schickte dem SPIEGEL stattdessen den folgenden Text.«

Die einen haben eine Rufumleitung aufs Handy, die anderen eine Interviewumleitung zum »Spiegel«, hehe.

Der Text mit dem Titel »Streicheln und Kratzen« kam tatsächlich wie ein Interview daher. War in Wahrheit aber nur ein Interview-Homunculus: »ein Essay, der aussieht wie ein Interview, aber ein Selbstgespräch ist darüber, wie Interviews und öffentliche Meinungen entstehen«.

Bezeichnenderweise geht es damit los, dass Walser aus »mehreren« erst mal »neun Stunden« Gespräch macht. Devise: Die Verluste des Gegners maximieren. Den Interviewer wie in einem Schauprozess antreten lassen, kleinlaut antworten lassen:

Walser: (…) das Geredete haben Sie mir dann schriftlich geschickt, ich war nicht einverstanden – und zwar mit uns beiden nicht. Dann habe ich vorgeschlagen, dass ich ein Interview schreibe. Stimmt das?

Luik: Das stimmt.

Walser: Also alles, was jetzt folgt, ist von mir geschrieben. Auch ihre Antworten.

Luik: So ist es.

Und dann folgen da wirklich neun Stunden »Stern«-Interview auf zwei Druckseiten »Spiegel«. Walser spielt Tom Kummer, nur umgekehrt (der Promi erfindet die Antworten des Journalisten) und natürlich Kummer-unlike mit diesem Lamento-Sound. Und dieser Verlust­rechnung:

»Herr Luik, ich habe in unserem Neun-Stunden-Gespräch gesagt, dass Sie sich informiert haben wie ganz selten ein Interview-Partner. Ich habe Ihre virtuosen Interviews mit Gore Vidal, Edmund Stoiber und anderen gelesen. Und nur darum habe ich nicht nach einer halben Stunde gesagt: Lassen wir’s, es hat keinen Sinn.«

Vielleicht ist es mit Walsers verschlepptem Interviewausstieg ein bisschen so wie mit der CDU und mit den Grünen. Wer für den Atomausstieg ist, kann heute selbstredend schwarz-rot-gelb votieren. Und wer fingierte Interviews lesen möchte, kann das natürlich auch bei Walser oder anderen tun. Aber am Ende – das lehrt der Erfolg der Grünen wie die Faszination für den Bad Boy Kummer – bleibt man vielleicht doch lieber beim Original?
 

Besuch im Serienland #6:
Die 10 besten US-Serien der Saison 2010/11

Leipzig, 27. Juni 2011, 02:21 | von Paco

Das hier wird vielleicht der letzte Rundown einer US-Seriensaison (die aus den letzten Jahren sind hier: 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10). Das Goldene Serienzeitalter, das spätestens mit dem legendären TV-Herbst 2004 begonnen hat (Start von »Lost«, »DH« usw.), ist erst mal wieder vorbei. Im Moment stagniert der Sektor kräftig, ein paar noch laufende Altserien beherrschen die Szenerie. Richtig gute neue Großserien gab es im letzten Jahr praktisch nicht, abgesehen vielleicht von »Game of Thrones« (das ich allerdings nur im Doppelpack mit den genialen Recaps von Roman Held ertrage, hehe).

Allerdings beginnen in ein paar Tagen, am 10. bzw. 17. Juli, die neuen Staffeln der absoluten Ausnahmeserien »Curb Your Enthusiasm« (Sea­son 8) und »Breaking Bad« (Season 4). CYE wird hier auch voraus­sichtlich wieder folgenweise gerecapt (wie die Staffeln 6 und 7).

Aber jetzt schnell in einem Aufwasch die zehn besten (bzw. mehr hab ich auch gar nicht komplett gesehen) US-Serien der letzten Saison:

1. Dexter   (5. Staffel, Showtime)
2. Episodes   (1. Staffel, Showtime/BBC Two)
3. Big Love   (5. und letzte Staffel, HBO)
4. Mad Men   (4. Staffel, AMC)
5. The Office   (7. Staffel, NBC)
6. Portlandia   (1. Staffel, IFC)
7. Glee   (2. Staffel, Fox)
8. Mildred Pierce   (Miniserie, HBO)
9. Boardwalk Empire   (1. Staffel, HBO)
10. Rubicon   (AMC, 1. und letzte Staffel)

*

1. Dexter   (5. Staffel, Showtime)

Lumen, Lumen, Lumen! Nach der herrlich britischen Extremkünstlerin Lila in Staffel 2 endlich mal wieder eine ebenbürtige Partnerin für Dexter. Er befreit sie aus der Sklavenschaft einiger Vergewaltiger, die dann im Verlauf der Staffel ausfindig und jeder für sich hingerichtet werden.

Lumen (Julia Stiles) hört nicht auf Dexters Rat, ihrem Seelenheil zuliebe die Bestrafung dem Bundesstaat zu überlassen: »This is Florida, we execute here. These men will be brought to justice. You can walk away from all of this now, put it behind you.« (Folge 7). Doch sie will es selbst machen, eine Offensive gegen ihr Trauma, sie will eine Auge-für-Auge-Rache, und Dexter verliebt sich ein bisschen in sie. Es sieht auch alles nach einer erfüllten Massenmörderbeziehung aus, doch am Ende will Lumen doch Miami wieder den Rücken kehren. So wird für die bald beginnende Staffel 6 alles wieder beim Alten sein.

Am Ende der Staffel kommt es übrigens fast zur Anagnorisis, Dexters Schwester und Polizeikollegin Debra lässt ihn und Lumen aber inkognito entschwinden, ohne sie zu identifizieren, da sie für die romantischen Racheakte der beiden ziemliche Sympathien hegt.

Dabei stellt sich dann die Frage, wie »Dexter« überhaupt mal enden soll. Die Entlarvung des freundlichen Forensikers von nebenan als vermeintlich politisch korrekte Mörderbestie würde nicht nur das ganze Seriengebäude einreißen, sondern auch uns mit unseren Sehgewohn­heiten konfrontieren, denn zu sehr haben wir schon die Prämisse der Serie akzeptiert: »Todesstrafe? Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es die richtigen trifft.«


2. Episodes   (1. Staffel, Showtime/BBC Two)

Diese Show ist sehr, sehr gut, und zwar *obwohl* Matt LeBlanc mit dabei ist. Der gealterte »Friends«-Star, der sich selbst spielt, trifft auf die britischen Serienautoren Sean und Beverly Lincoln. Die beiden sind verheiratet und entscheiden sich nach dem Gewinn eines BAFTA-Awards, nach Los Angeles zu gehen.

Dort kreieren sie eine neue Serie, die schließlich den fragwürdigen Namen »Pucks!« bekommt. Sie werden zudem auch noch gezwungen, LeBlanc zu besetzen, den sie für den Proll halten, der er letztlich auch ist. Das gibt einen herrlichen Clash der verschiedenen Serienkulturen, UK vs. US, auch wenn sich die beiden Briten dann auf je ihre Weise mit LeBlanc anfreunden. Die Dialoge, in denen oft genug zynisch die TV-Serien-Kultur reflektiert wird, sind absolute Spitzenklasse. Nach den 7 Folgen von Staffel 1 soll es 2012 eine Folgestaffel geben, dann mit 9 Folgen.


3. Big Love   (5. und letzte Staffel, HBO)

Nach dem freiwilligen Outing der Hendricksons als Polygamisten, mit dem Staffel 4 geendet hat, geht erst mal alles drunter und drüber. Bill kämpft als frisch gewählter Senator nun auch auf politischer Ebene für seinen Glauben: »Senate resolution 312! An act for the legalization of plural marriage. (…) A 19th-century ban that’s based on comparing polygamy to religious murder and actual human sacrifice and cannibalism doesn’t even pass the stink test.« (letzte Folge)

Wegen der allgegenwärtigen Anfeindungen, gegen die sich Bill nun wehren muss, hat er noch weniger Zeit für sein Unternehmen und seine drei Frauen. Diese wiederum begeben sich jede für sich auf Selbstfindungskurs. Es geht in dieser Schlussstaffel auch um Reformbewegungen innerhalb der Polygamistenszene, die man teilweise sogar feministisch nennen könnte (Barbs Storyline). (Achtung, im nächsten Absatz geht es mit einem Spoiler weiter.)

Und nun ist »Big Love« nach 5 starken Staffeln ausgelaufen: Der Nachbar Carl, ein Ottonormal-Mormone, diffus eingeschüchtert durch Bills polygame Rechtschaffenheit, streckt ihn mit drei Schüssen nieder (an Ostern, natürlich!). Insgesamt hatte die Serie einen der innovativsten Plots der letzten Jahre. Das polygamistische Hauptthema wurde in den letzten Jahren Folge um Folge gekonnt ausgeleuchtet und war einfach sehr gut geeignet, um (Beziehungs-)Probleme, die auch andere Drama-Serien schildern, unerwartet zuzuspitzen.


4. Mad Men   (4. Staffel, AMC)

Nach den relativ elegischen ersten drei Staffeln wird es jetzt heftig. Don Drapers idyllische Machowelt ist dahin. Serienerfinder Matthew Weiner im Interview: »I started off the season with those three holidays – Thanksgiving, Christmas, New Year’s – to show, this is what it is to be divorced.«

Es ist eine Weile her, dass ich diese letzte Staffel gesehen habe. An was ich mich sonst noch so erinnern kann: Der Lucky-Strike-Account geht verloren, der lebenswichtig war für die neu gegründete Agentur »Sterling Cooper Draper Pryce«. Als Reaktion schreibt Don eine NYT-Seite voll mit einem Anti-Tabak-Text, direkt gegen American Tobacco gerichtet, um dabei gleich seine Firma umzubranden.

Die mit Abstand beste Folge war Nr. 7 (»The Suitcase«), eine magische, platonische Chit-Chat-Büronacht mit Don und Peggy am Abend des Fights Muhammad Ali vs. Sonny Liston am 25. Mai 1965.

Was noch? Dons bärbeißige Sekretärin Mrs. Blankenship stirbt direkt am Schreibtisch. Und statt der ihm intellektuell ebenbürtigen Verbraucherforscherin Faye, um die er lange gebuhlt hat, heiratet Don am Ende seine neue Sekretärin Megan. (Joan: »And he’s smiling like a fool, like he’s the first man that ever marries his secretary.« Joanie wird übrigens von Roger geschwängert, während ihr junger Taugenichts-Mann als Militärarzt in Vietnam ist.) Staffel 5 soll übrigens erst im März 2012 starten.


5. The Office   (7. Staffel, NBC)

Ok, Michael Scott ist jetzt nicht länger der fahrige Büroboss-Comedian bei Dunder Mifflin. Er ist mit Holly nach Colorado gezogen, und jetzt warten alle darauf, wer ihn ab Herbst 2011 ersetzen wird. Am Ende der letzten Staffel spielt Will Ferrell für ein paar Folgen seinen Nachfolger, aber die Figur des Deangelo Vickers segnet dann sang- und klanglos das Zeitliche.

Die einzelnen Folgen waren wieder alle sehr gut, das Format zeigt immer noch keine Ermüdungserscheinungen. Ein kleines Special gab es mit dem »Film im Film« in Folge 17, »Threat Level Midnight«. Pam hat schon vor Jahren, in der 2. Staffel (in der Folge »The Client«), das Drehbuch zu Michaels gleichnamigem Agententhriller gefunden, und seitdem geistert dieses Filmprojekt durch die Serie.

Und nun ist der Film nach Jahren des Neuarrangierens fertig und wird den Bürokollegen gezeigt, die auch alle mitspielen (Jim als Bösewicht Goldenface). Es handelt sich natürlich um einen unfassbar käsigen Möchtegernactionreißer, um genau den harmlosen Humor, der »The Office« so diametral von seinem britischen Vorgänger unterscheidet. Und wo wir dabei sind: Am Anfang von Folge 14 kommt es zu einer kurzen Begegnung zwischen Michael Scott und seinem britischen Gegenstück David Brent (Ricky Gervais), kleine Hommage.


6. Portlandia   (1. Staffel, IFC)

Eine der gefühlt seltenen Serien, die nicht aus New York & Co., sondern aus der hinterletzten Peripherie kommen. Hier ist es mal nicht Alaska, sondern, noch schlimmer: Portland, Oregon. Formal ist »Portlandia« eine traditionelle Sketch-Comedy mit wechselnden Storys aus verschiedenen Stadtteilen. Es gibt da zum Beispiel diesen Laden von Radikalfeministinnen, in den sich in Folge 1 Steve Buscemi verirrt.

Ansonsten reichen der Show zwei Hauptakteure, nämlich Carrie Brownstein, eine geborene Portlanderin, und Fred Armisen, die in den verschiedenen Settings wechselnde Charaktere spielen. Öfters mit dabei ist auch Kyle MacLachlan als verhinderter Kreativling, der nun leider Bürgermeister von Portland ist und jede Gelegenheit nutzt, bescheuerte Ideen aller Art umzusetzen. Staffel 1 hatte nur 6 Folgen, die man schön hintereinander wegkucken kann.


7. Glee   (2. Staffel, Fox)

»Nationals are coming up!« So mahnt Lehrer Schuester seine Kids von der Gesangs-AG immer wieder, und gleich mal ein Spoiler: Natüüürlich wird der Song Contest auf nationaler Ebene am Ende der Staffel nicht gewonnen. Die Serie muss ja weiter gehen und Steigerungsmöglichkeiten offenhalten.

Die Geschichten aus dem Highschoolleben sind nach der grandiosen 1. Staffel etwas eintönig geworden. Das hängt auch damit zusammen, dass die herrliche Sue Silvester, diese asexuelle Sportlehrerin mit dem Willen zur Macht, in den Hintergrund gerückt ist. Ihr bösewichtiger Charakter (eine Wiedergängerin der Schulrektorin Miss Musso aus »Parker Lewis«) wurde in der Debütstaffel schon komplett ausgelotet, da bleibt nichts als Wiederholung.

Auch der Irokesen-Gitarrist Puckerman ist etwas aus dem Blick geraten, seit er ganz zu Beginn die Cheerleader-Elfe Quinn Fabray geschwängert hat. Aber seine aktuelle und nie ganz ausgedeutete Liaison mit dem Highschooltier Lauren Zizes war einer der Höhepunkte der letzten Season. Am schlimmsten dagegen waren die mehrfachen Gastauftritte einer völlig überkandidelten, sehr peinlichen Gwyneth Palthrow.


8. Mildred Pierce   (Miniserie, HBO)

Die Romanvorlage von 1941 wurde schon mal als 111-minütiger Noir verfilmt. HBO hat ihn nun noch mal als fünfepisodigen, etwa 333-minütigen Ausstattungsschinken mit Kate Winslet geremaket. Selbst der passionierte Langbuchautor Stephen King fand die Adaption »too damn long«, und das einzige relativ positive Adjektiv, das mir zu der Serie einfällt ist: stimmungsvoll. Alte Autos und Menschen in altmodischen Sachen laufen zur Zeit der Großen Depression durch melancholische Lichtsettings.

Okay, das sich verschärfende Mutter-Tochter-Drama ist schon ganz interessant, und Evan Rachel Wood, die in den letzten beiden Folgen die nunmehr erwachsene Tochter Veda spielt, ist wirklich schön böse. Ihrem Mutter-Counterpart geht angesichts ihrer Taten und Worte allerdings die Kraft zur schauspielerischen Variation irgendwie verloren: »Kate Winslet (…) edges toward self-parody with her constantly pained furrowed brow and exaggerated eyebrow-raising expressions of relief.« (The A.V. Club)


9. Boardwalk Empire   (1. Staffel, HBO)

»Boardwalk Empire« ist letztlich eine vorhersagbare Mafiaklamotte mit Schauplatz Atlantic City. Kann man sich zwar ruhig ansehen, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Leuten mit einer empfundenen Mafia­overdose, mir zum Beispiel, ist sie aber nicht zu empfehlen. Der einzige Clou ist im Prinzip die Gegen-den-Strich-Besetzung von Steve Buscemi als mafiöser Strippenzieher Nucky Thompson (angelehnt an Nucky Johnson). Das läuft allerdings auch nur wieder auf eine Karikatur der Figur des »Paten« hinaus.

Nuckys zeitweiliges Hauptinteresse gilt übrigens der irischstämmigen Witwe Margaret Schroeder, die zu seiner Mistress wird und deren Nachname, den sie ihrem umgebrachten Ehemann verdankt, leider ständig ausgesprochen wird: »Mrs. Schruwjdör«, heißt es immer wieder, »Mrs. Schruwjdör«. Kaum auszuhalten ist das, hehe.

Effektmäßig lässt Tod Brownings »Freaks« grüßen, die Serie hat ein Faible für körperliche Aberrationen. Da gibt es den War Hero mit halb zerschossenem Gesicht, eine blutjunge Prostituierte, der das Gesicht aufgeschlitzt wird, und boxende ›little people‹. Erwähnenswert ist sonst noch der teilweise computermäßig ergänzte Boardwalk, auf dem die Figuren herumhuschen, wenn mal Außenszenen auf dem Programm stehen. Ach ja, der dicke Al Capone kommt auch ab und zu vor (er paktiert mit Nuckys Schützling Jimmy Darmody, gespielt von Michael Pitt), die Stimmung der Prohibitionszeit wird also insgesamt schon irgendwie ganz gut eingefangen. Wie gesagt: Kann man sich schon anschauen, ist aber vom Storytelling nichts als Meterware.


10. Rubicon   (AMC, 1. und letzte Staffel)

Der erste Fehlgriff von AMC: eine Serie voller Terrorismus-Klischees, die auch gleich nach der ersten Staffel abgesetzt wurde. Es handelt sich um so eine Verschwörungssaga nach 9/11, in der Analysten für einen amerikanischen Thinktank die Probleme der Welt lösen sollen. Die meisten der Protagonisten kucken immer so, als ob sie gerade eben die endgültige Lösung für irgendein weltumspannendes Problem gefunden haben könnten. Dabei sitzen sie eigentlich nur in ihren Büros herum und analysieren grisseliges Videomaterial.

Mit James Badge Dale hat auch noch einer der langweiligsten Schauspieler unserer Zeit die Hauptrolle bekommen. Schon in »The Pacific« hat er ja die pure Langeweile ausgestrahlt mit diesem Blick gehobener Besorgnis, den er ständig aufsetzt. Wer wie ich diese Serie versehentlich angeschaut hat, sollte als Gegenmittel die herrlichen Verrisse des Vulture-Blogs lesen (»Intelligence Failure«).

(Die Serie hat aber auch große Fans, das will ich nicht verschweigen.)
 

Oswald Spengler meets David Foster Wallace:
Mit dem Zug von Los Angeles nach San Francisco

Berkeley, 22. Juni 2011, 07:35 | von Papageno

Es ist nicht so, dass mich niemand gewarnt hätte. Mit dem Zug von Los Angeles nach San Francisco? Pure Boredom. So European. Die meisten Kalifornier, denen ich von meinem Vorhaben erzählt habe, hatten von der Zugverbindung eh noch nie gehört.

Von der Union Station geht es frühmorgens in Richtung Norden, durch die endlosen Vorstädte dieser Riesenvorstadt, in Richtung Central Valley, vorbei an zahllosen In-N-Out Burgers und riesigen Parkplätzen. Nach etwa eineinhalb Stunden Fahrt nähert man sich der angeprie­senen Hauptattraktion des Pacific Coast Liners – dem freien Blick auf den Pazifik (die »Kristallmauer«, wie Baudrillard den Ozean einmal nannte, »der Kalifornien in sein Glück einschließt«).

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Der Bummelzug fährt dann die meiste Zeit über oder unter dem Highway 1 entlang, der »vielleicht schönsten Küstenstraße der Welt«. Links blickt man auf die Küste, Strände, Kliffs und rechts auf erdrutschverdächtige Steilhänge, ausgebrannte Autowracks und Milchkühe.

Nach gut zwei Stunden hält der Zug dann in Santa Barbara, einer kleinen Universitätsstadt, in der alles so aussieht, als wäre es Teil eines Golf- und Landclubs. Es steigt niemand weder aus noch zu. Nach zwei weiteren Stunden atemberaubender Aussicht verlaufen die Schienen weg von der Küste ins Landesinnere, wo es außer Mandel-, Zitronen- und Orangenbäumen, Orchideen und flimmernder Hitze nichts zu geben scheint. Hier wird alles produziert, was in Los Angeles und San Francisco dann konsumiert wird.

Tausende mexikanische Arbeiter ernten vor unseren Augen Erdbeeren und Pflaumen. Einige Passagiere winken ihnen zu, sie winken nicht zurück. So auch Steve, der neben mir sitzt. Er trägt Wandersandalen, Karohemd und dreht seine eigenen Zigaretten. In einem Land, in dem Rauchen mehr als verpönt ist, gilt das als revolutionäre Geste. Steve ist auf dem Weg nach Portland, Oregon, um dort Arbeit zu suchen: »L.A. is killing me. Nobody can make a living here«, erzählt er. (Ich muss an John Rechy denken, der es auf die so wahre Formel gebracht hat: »You can rot here without feeling it.«)

Steve fährt gern mit Zügen, da man so die Möglichkeit habe, die Landschaft und seinen Reiseweg wirklich zu erfahren: »You really feel where you are going, it somehow gives me back my sense of space and direction.« Steve liest Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlands«, und während wir durch die Wüste des Central Valley fahren, meint er, dass diese Wüste genauso sei wie Amerika. »Just empty, as if life has vanished completely.«

»Something has happened to people in the 80ies«, spricht er weiter. »It’s not about the people anymore, just about the big cooperations. We’re not making the pie anymore, we’re just havin’ it!« Steve wird diese Sätze noch öfter während der 16-stündigen Fahrt sagen. Als es etwas später wird, bittet ihn eine mexikanische Mutter, die mit ihrer siebenköpfigen Familie nach Seattle umzieht, ein bisschen leiser zu sein, ihre zwei Kleinkinder seien gerade eingeschlafen.

Mir wird es auch langsam zu viel und ich nehme mir David Foster Wallaces gerade aus dem Nachlass herausgegebenes Buch »The Pale King« und setze mich in den Speisewagen, der keinerlei Speisen anbietet. Grob gesagt handelt das Buch vom Leben und Leiden von Steuerbeamten in Peoria, Illinois, in der Mitte der 1980er Jahre.

Viele der von dem Herausgebern zusammengebrachten Geschichten und Fragmente handeln von verlorenen Söhnen und Töchtern, die irgendwie ihren ›eigenen Weg‹ gefunden haben, um schließlich doch wieder in zermürbender Alltäglichkeit, Bürokratie und Selbsthass festzustecken. Wallace geht es in »The Pale King« um Langeweile in allen Formen, nicht weniger als eine allumfassende Beschreibung der Lebenswelt am Ende des 20. Jahrhunderts sollte das unvollendete Projekt werden – »a portrait of bureaucracy«.

Mittlerweile schlängelt sich der Zug hinauf in die Berge, weiter ins Landesinnere, die Landschaft wirkt zerklüftet, aber auf einmal sehr grün, toskanischer Schwarzwald.

»Bläulichschwarze Steinmassen giengen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens die Gipfel, dunkel schmale zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken über die der Zug fuhr und sie waren so nah daß der Hauch ihrer Kälte das Gesicht erschauern machte.«

Ich stelle mir vor, wie sich Franz Kafka das Central Valley vorgestellt hat und wie schön seine Beschreibung doch ist, und erinnere mich, wie falsch und pathetisch Theodor W. Adorno die kalifornische Exilland­schaft aus seinem Exilhaus in den Pacific Exilisades beschrieben hat:

»Es ist als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie ist ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise der Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge bloß im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen.«

Wäre Adorno einmal mit dem Pacific Coast Liner gefahren, er hätte anders gesprochen.

Währenddessen erzählt Wallace von den kleinen Erfolgen eines Steuerbeamten, der sich jedes Mal selbst belohnt, wenn er die Arbeit an einem Formular beendet hat und schließlich merkt, dass er niemals fertig wird: »The thing here is that the returns never stop. There’s always a next one to do. You never really finish.«

Ein paar Seiten weiter heißt es dann: »We think of ourselves now as eaters of the pie instead of makers of the pie. So who makes the pie?« Ich frage mich, ob Steve das Buch gelesen hat und erinnere mich dann, dass er es nicht gekannt hat, als ich es vorhin erwähnt habe.

Es ging Wallace in seinen letzten Jahren vermehrt um die Beschreibung von Erfahrungen der Selbstgewissheit, von Konzentration und Präsenz in einer instrumentalisiert-bürokratischen Lebenswelt. (Das vielleicht beste Beispiel dafür ist seine Meditation über »[Roger] Federer as a religious experience«!) Um die Frage, wie man konzentriert sein kann, wenn man eigentlich nur abgelenkt ist, wie schließlich aus Langeweile Kreativität entstehen kann?

»The underlying bureaucratic key is the ability to deal with boredom. To function efficiently in an environment that precludes everything vital and human. To breathe, so to speak, without air. The key is the ability, whether innate or conditioned, to find the other side oft he rote, the picayune, the meaningless, the repetitive, the pointlessly complex. To be, in a word, unborable. […] It is the key to modern life. If you are immune to boredom, there is literally nothing you cannot accomplish.«

Das Highlight findet sich gegen Ende des Buches, es handelt sich um eine minutiöse Beschreibung eines (Flirt-)Dialogs zwischen zwei Steuerbeamten an einem Freitagfeierabend. Über mehr als hundert Seiten baut Wallace Spannungs- und Frustrationsbögen auf, um sie dann wieder einzureißen. Die besten Momente sind die, in denen man merkt, dass Wallaces Erzähler sich in den Dialog mischt, Sätze vollendet, kommentiert, weiterspinnt, um dann wieder flauberthaft über allem zu schweben, seine Figuren an den Abgrund drängt, sie aber nie fallen lässt.

Wegen Gleisproblemen steht der Zug fast vier Stunden zwischen Mandel- und Orangenbäumen in der Nähe von Salinas. Die Sonne geht ewig unter und färbt alles in blau und rot – jedes Mal wieder ein Schauspiel. Die mexikanischen Arbeiter ziehen sich langsam zurück in ihre Zelte, Steve ist mittlerweile über Spengler eingeschlafen.

Neben ein paar wirklich grandiosen Stellen ist »The Pale King« wirklich langweilig, nicht mehr als ein ungeordnetes Riesenprojekt, das Wallace beim besten Willen nicht beenden konnte, schon gar nicht seine Herausgeber. Aber ich meine gelernt zu haben, mich nicht langweilen zu lassen, und lese weiter, be unborable, stay focused, sage ich mir immer wieder.

Als ich in Emeryville aussteige, kommt es mir wirklich so vor, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen, und als hätte ich alles, was ich in meiner Langeweile gesehen habe, Kristallwände, Wüsten und Untergänge, schon wieder vergessen – a supposedly fun thing I’ll never do again.
 

Der Seinsüberwurf und die drei Verdoppelungen (Lottchen, Marx und Malick)

Stanford, 21. Juni 2011, 02:30 | von Srifo

Aus dem Schatten des doppelten Lottchens hat Ekkehard Knörer ja im »Freitag« den »doppelten Marx« heraustreten lassen, was als Sequel gut passt, denn 1942 hieß Kästners Drehbuch noch »Das große Geheimnis«. Beide Märxe waren vor kurzem nämlich gleichzeitig im bekannten Ferienheim Berlin zu Besuch. Sie konnten sich erst gar nicht ausstehen und fanden aber dann bei Schokoladenmilch auf irgendeine Weise heraus, dass sie durch die Scheidung ihrer Eltern getrennt wurden.

Was nun das große Geheimnis der Stunde angeht, friemelt Knörer auseinander, muss es so sein, dass obwohl die zwei Märxe »zuneh­mend blaß um die Nase« werden, sie trotzdem »egal ob auf Kopf oder Füßen« hinterlistig und qua Bekanntschaft ihrer Erzeuger (der eine aus Saarlouis, der andere aus Ljubljana) als »Virtuosen der Vernetzung« agieren.

Das sieht auch Uwe Justus Wenzel in der NZZ so. Laut seiner Beobach­tung der marxistischen Szenik gibt es einzig bei der »Tischgenossen­schaft« der Märxe, dieses täuschend einhelligen Zusammenhalts der »Keimzelle eines neuen ›Wir‹«, »allenthalben« eine neue Erkenntnis, nämlich die der Vervielfältigung. Dass es damit dann den »authentischen Marx« gar »nicht zu entdecken gibt«, hat ob der Verdopplungswirren auch Tania Martini in der taz feststellen müssen. Was bleibt, ist gegenseitige Verwechselbarkeit im Ferienlager, bei Schokomilch und Heidesand.

Selbst der alte Marx-Monadist Immanuel Wallerstein, dessen soziologisches »World-System« 1974 wider allen Anschein von nur einer Welt voll dependency sprechen wollte, hat letztens indirekt eingeräumt, dass es nach dem »next-to-last speculative bubble burst« 2008 nun vorbei ist mit dem erstrebten Glanz seiner alten Einheits-Idee. Ein Vervielfachen, »an ever-escalating stretching of the interpretation of Marxism« ist wohl die Lösung bzw. ist »actually a world depression«.

Auch das letzte Ressort der Seinsgelassenheit, ein neuer Film von Terrence Malick, kann da nicht mehr zeigen, wie alles Sein zusammen­hängt – Brad Pitt als Naturstrenge? Die Mutter Jessica Chastain als Urknallgnade? Abermals die falschen Eltern. Das klingt sogar nach einem ›ever-escalating stretching‹ von Malick. »Days of Heaven« (1978) hat jedenfalls mehr Sakralität draufgehabt. Hier könnte man jetzt wieder auf Heidegger referieren. Aber das tun ja die anderen schon. Bloß die »Zeit«-Diagnostik macht es kurz und sagt es der Tischgenossenschaft ins Gesicht: »Malicks Naturgott ist schizophren«.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 5
Markus Werner: »Zündels Abgang« (1984)

Berlin, 19. Juni 2011, 19:14 | von Josik

Genau in dem Moment, als im ICE 1605 die Zugführerin per Durchsage von »dem nächsten Unterwegshalt« sprach, wusste ich nicht mehr, ob ich nun über die Oxymoronhaftigkeit des Wortes »Unterwegshalt« nachsinnen soll oder über den schon im Buch in Anführungszeichen gesetzten »Schlankheitsabgrund«, bei dem ich gerade angelangt war. Denn man möchte eigentlich alles, schon den ersten Satz, mit dem Markus Werner in die Geschichte der Weltliteratur eintritt und den so natürlich nur ein Schweizer schreiben konnte, nämlich:

Schöne Kindheit im Warenhaus.

– alles also an dieser Herrlichkeit von Debüt, in dem ein sehr sympa­thischer Misanthrop, der wie alle normalen Menschen als Lehrer arbeitet, verduftet, möchte man am liebsten anstaunen.

Und wenn man etwas nicht versteht und noch kein Google hat, wie zum Beispiel in den 80ern, dann ruft man einfach den Autor an. Eine Freundin des Instituts hat das kurz nach Erscheinen von »Zündels Abgang« getan, als Markus Werner noch nicht berühmt war und sein Name noch im Telefonbuch stand. Sie hat ihn gefragt, wer denn eigentlich »der unstete Geist eines französischen Dichters« ist, von dem es auf Seite 69 heißt, er habe im weltberühmten Portofino seine Ruhe gefunden. Herr Werner gab freundlichst und bereitwilligst Auskunft, dass es sich hier um Guy de Maupassant handle, der in Portofino »Bel Ami« geschrieben habe.

An das zweite literarische Rätsel, um dessen Auflösung sie ihn ebenfalls gebeten hat, konnte er sich leider partout nicht erinnern. Um die lustige Titelpersiflage »Ahndung und Gegenschlag« handelte es sich jedenfalls nicht und auch nicht um eine der Fragen und Antworten in dem grandiosen Zündholzspiel: Man stellt eine Frage und wenn die Antwort »richtig oder wenigstens gut« ist, gibt’s ein Zündholz; wer zuerst fünf Zündhölzer hat, hat gewonnen. Der vorletzte Satz, der von Zündel überliefert ist, lautet: »Geh jetzt bitte, ich stehe unter Sprechverbot«.

Länge des Buches: ca. 189.000 Zeichen. – Ausgaben:

Markus Werner: Zündels Abgang. Roman. Salzburg; Wien: Residenz Verlag 1984. S. 3–138. (= 136 Textseiten)

Markus Werner: Zündels Abgang. Roman. München: dtv 1988. S. 3–116. (= 114 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)