Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 1):
Renate Meinhof über Jauch-Fans in Tel Aviv

Leipzig, 29. Februar 2008, 07:09 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 1:

Renate Meinhof: »Eine Sendung Sehnsucht« (SZ, 4. 1. 2008)

Die Autorin unseres Feuilleton-Lieblingsartikels 2007 hat nachgelegt: Wieder eine fantastische »Seite Drei«-Reportage in der S-Zeitung, diesmal über einige Rentnerinnen in Tel Aviv, die nach 60 bzw. 70 Jahren zurückliegender Emigration Kontakt zu Deutschland und ihrer Muttersprache Deutsch halten – durch Einschalten der Günther-Jauch-Rateshow »Wer wird Millionär?«

Meinhof schildert die vormittäglichen Kaffeekränzchen, die die herrlichen alten Damen im Jeckes-Treffpunkt »Café Mersand« abhalten, um die letzte Folge ihrer Lieblingssendung zu besprechen. Mit dem Besuch des tatsächlichen Jauch hat die Geschichte auch einen unerwarteten Höhepunkt.

Das Bemerkenswerte ist: Unter der Hand erzählt die Autorin die Überlebensgeschichten ihrer Protagonistinnen. Und wie sie diese beiden Welten verbindet, den Holocaust und die RTL-Rateshow, wie sie immer wieder hin und her schaltet, das ist gewagt, aber gut gelungen. Ähnlich wie der alte Wagnerianer wollen einem die Günther-Jauch-Damen nicht mehr aus dem Kopf.

Übrigens, dass Renate Meinhof da ein überbordend interessantes Thema gefunden hat, bestätigt die Berliner Zeitung, die vor ca. zwei Wochen einen ähnlichen Artikel veröffentlicht hat. Der Autorin Charlotte Misselwitz geht es darin vor allem um die Nachfahren der Jeckes, die sich zu späterer Stunde im »Mersand« herumtreiben. Aber am Ende kommt auch sie nicht darum herum, die Jauch-affinen alten Damen zu erwähnen.

Kaffeehaus des Monats (Teil 25)

sine loco, 28. Februar 2008, 14:16 | von Dique

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Lisboa Patisserie, Golborne Road

London
Die Lisboa Patisserie in Golborne Road.

(Knietief in Servietten, und die Zeitung muss man
im Stehen lesen, meistens, das sprichwörtliche
Gegenteil des Wiener Kaffeehauses. Bitte nicht
die Tauben (auch noch) füttern! Und neulich griff
ein einheimischer Lümmel nach meiner FAS,
betrachtete sie kurz und warf sie angewidert
zurück auf den Tisch, ja, ich hatte einen Sitzplatz.)

Würdiger Vorläufer von »Rome«:
»I, Claudius« (BBC 1976)

auf Reisen, 27. Februar 2008, 06:25 | von Paco

Es gibt nach dem Ende der 2. Staffel leider keine Fortsetzung der HBO-Serie »Rome«. Bzw.: Es gibt sie doch, in a way.

Die 13-teilige BBC-Serie »I, Claudius« (nach dem Roman von Robert Graves) ist stilistisch ein deutlicher Vorläufer von »Rome«: Allein die skrupellos-genialen Intrigen der Livia (Siân Phillips), die sie immer so schön doppeldeutig kommentiert und am Ende dem Kaiserkandidaten Claudius (Derek Jacobi) offenbart, sind sehenswert. Die empfehlenswerte Website »I, CLAVDIVS PROJECT« nennt etwa ihre Loswerdung des Postumus in Folge 4 »a masterful piece of manipulation«.

Erzählrahmen bildet Claudius‘ Niederschrift der Geschichte der julisch-claudischen Dynastie unmittelbar vor seinem Tod im Jahr 54 n. Chr. Er beginnt seine Familienstory ca. 24 v. Chr., es handelt sich also historisch gesehen tatsächlich um die Fortsetzung der HBO-Serie »Rome«, die ja mit Marc Antonys Tod nach der Niederlage bei Actium und Octavians Machtantritt endet. Natürlich wirken die 70er-Jahre-Charakter alle etwas dröger als die vor Fleischeslust strotzenden und leuchtenden Römer der US-Serie. Aber das schöne UK-Englisch passt natürlich besser zu den Römern.

Um mit dem Figurenreichtum zurechtzukommen, sollte man auf jeden Fall irgendeinen Serienguide im Netz nutzen. Der unübersichtliche Familiennexus verwirrt sogar Augustus (Brian Blessed) selbst, der den kleinen Claudius in Folge 3 fragen muss:

– Now, which one are you?
– Claudius.
– Oh, yes, Drusus‘ boy.

»I, Claudius« folgt als gute Britenserie auch einem speziellen Humor. Wenn es zum Beispiel in Folge 2 um die römische Provinz Britannia geht, heißt es: »There’s nothing of value there and the people make poor slaves.« Genauso schön funktioniert übrigens das Krautbashing: »Shall we ever civilise the Germans?« Gut, der Ton ändert sich ein wenig im Jahre 9, nachdem Varus an der Grenze zu Germania ein paar Legionen verheizt hat.

Ähnlich wie »Rome« liegt auch der 70er-Jahre-Serie ein lüsternes Drehbuch zugrunde, das sich vor allem für die sagenhafte Promiskuität der Römer interessiert. Nur ein Beispiel: Augustus‘ Tochter Julia hält sich dutzendweise Liebhaber, nachdem ihr dritter Mann Tiberius auf Rhodos exiliert ist. Einmal fragt sie ihren Lover Plautius, der gleichzeitig der Freund ihres Sohnes Lucius ist: »Tell me, does Lucius know you’re ploughing his mother’s furrow with such ferocious skill and energy?« (Folge 3)

Livia setzt diesen Plautius dann irgendwann als Spitzel ein und lässt ihn eine Liste mit allen Lovern von Julia anfertigen. Es wird eine lange Liste. Sie brieft Augustus mit den ausspionierten Daten, und der befragt ein paar angetretene Männer nach ihren Beziehungen zu Julia und rastet dann aus: »Is there anyone in Rome who has not slept with my daughter!«

Dann gibt es noch die Anekdote mit dem Lovemaking-Contest: Während ihr Gatte Claudius Britannia erobert, arbeitet Messalina im Wettstreit mit der berüchtigten Starprostituierten Scylla eine Männerschlange ab, wobei aber nicht mal heruntergelassene Hosen gezeigt werden. Das HBO-»Rome« hätte dafür sicher auch ein paar lustige Bilder gefunden. Erwähnt sei auch noch John Hurt als blondgelockter Lustmolch Caligula, dem schon eine Präfiguration des 1979er Caligula im gleichnamigen Film von Tinto Brass (nach Gore Vidal) gelingt.

An seinem Beispiel lässt sich auch die brutale Entschlossenheit der Figuren zeigen, für die ja auch »Rome« überzeugende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden hat (erinnert sei an die Zunge, die Titus Pullo einem Kontrahenten in Folge 2.08 herausbeißt): Caligula hat dem für tot gehaltenen Tiberius bereits den Ring abgestreift und sich pompös zum neuen Emperor erklärt, da kommt ein Sklave angerannt und vermeldet, dass der bereits Totgeglaubte noch lebt und seinen Ring zurück haben will. Herrlich: Caligulas Blick in diesem Moment. Macro nimmt dann ein Kissen und hilft Tiberius ins Jenseits. – Oder wenn in Folge 9 der Kopf des kleinen Gemellus gebracht wird, und Caligula kommentiert: »I’ve cured his cough.«

»I, Claudius« ist entlang der historischen Begebenheiten also auch so brutal wie »Rome«. Beispielhaft zu nennen wären hier auch noch die Grausamkeiten rund um die Ermordung des Sejanus (gespielt vom jungen Patrick Stewart) und seiner Familie. Dessen minderjährige Tochter steht auch mit auf der Prosrikptionsliste, und als einer der Exekutoren Bedenken trägt, eine Jungfrau zu ermorden, da das Unglück für die Stadt bedeuten würde, schlägt ihm ein Kamerad vor: »Make sure she’s not a virgin before you kill her.«

In 13 fast einstündigen Folgen ist übrigens auch Platz für schöne Details, etwa die häufige Wiederkehr von Augustus‘ komischem Lieblingsausdruck »quick as boiled asparagus«.

Am Ende wird Claudius durch seine letzte Frau Agrippinilla vergiftet, die auf diese billige Weise machthungrig ist wie alle ihre Peers. Claudius will es aber auch gar nicht verhindern, dass ihr verzogener Sohn Nero als sein Nachfolger installiert wird. Die julisch-claudische Dynastie wird mit diesem verwöhnten dicken Jungen tatsächlich abtreten, und genau das ist auch Claudius‘ Ziel, von dem er sich langfristig die Wiederherstellung der Republik verspricht, auf dass es endlich ein Ende habe mit den Giftmischern und Mördern. Es sollte natürlich anders kommen.

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Falls jemand Lust hat:
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Lost: 4. Staffel, 4. Folge

auf Reisen, 26. Februar 2008, 13:30 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Eggtown«
Episode Number: 4.04 (#75)
First Aired: February 21, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Der Deal« (EA 6. 7. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Antwort! Wie in anderen »Lost«-Blogs schon weithin festgestellt wurde, haben wir diesmal die Antwort auf die wohl nagendste Flashforwardfrage bekommen. Als wir im Finale von Staffel 3 überhaupt zum ersten Mal einen Flash nach vorn auf dem Zeitstrahl sehen durften, sahen wir Kate zu Jack sagen, dass sie jetzt zurück nach Hause müsse, zu »ihm« (»he’s going to be wondering where I am«).

Wer dieser »he« war, ist nun geklärt. Nämlich nicht Sawyer oder irgendein anderer, der die Stimmung der Jack-&-Kate-Fraktion getrübt hätte. Sondern der kleine Aaron, der eigentlich Claires Sohn ist.

Aber wo ist Claire, die blonde Jungmutti mit leichtem Hang zum Zickentum? Sie ist offenbar nicht unter den Oceanic Six, und überhaupt wird es eng für die anderen Losties, denn es fehlt nur noch eine Person, die es von der Insel runtergeschafft hat. Aber warum gibt Kate den kleinen Aaron als ihren Sohn aus? Die geklärte »he«-Frage hat also wie jede bisherige Auflösung neue Fragen aufgeworfen.

Warum zum Beispiel will Jack den Kleinen nicht sehen? Vielleicht hat er Claire auf der Insel aus Versehen mit einer Dampfwalze überfahren und schämt sich jetzt? Oder so.

Nun aber zum Beginn der Folge: Locke brät zwei klassische Spiegeleier und greift sich ein Philip-K.-Dick-Buch (»VALIS«) aus Bens Bücherregal. Das sieht zunächst ein wenig wie westliche Frühstücks-Normalität aus. So ähnlich fing ja auch die zweite Staffel an, als Desmond da seinen normalbürgerlichen Beschäftigungen nachging, ohne dass man gleich wusste, dass er den Hatch bewachte, der dann aber auch nur auf der Insel lag, fernab jeglicher Zivilisation.

Jedenfalls sind Spiegeleier und Buch nicht für Locke selber. Er bringt sie Ben in sein Verließ. Ben hat das Buch schon durch, Locke animiert ihn zu nochmaligem Lesen und kommentiert sehr schön (auch in Anspielung auf Bens erste Gefangenschaft, damals im Hatch): »You might catch something you missed the second time around.« Das Gleiche kann und muss man natürlich auf jeden Fall auch auf »Lost« selber beziehen, hehe, da sollte man ja auch lieber noch mal wie sablog einen »Lostathon« einlegen vor jeder neuen Staffel.

Es kommt zu verbalen Machtspielchen zwischen Ben und Locke, und Ben ist da ja Meister. Er erinnert Locke daran, dass er gerade vergeblich Jacob und die Cabin gesucht hat und gern wissen will, wer Bens Spion auf dem Frachter ist. »You’re more lost than you ever were«, haut er noch raus, perfekt: Locke rastet erst mal aus.

Dann die Kate-Story des Flashforwards. Wie ihr Sawyer in 4.03 prophezeit hatte, bekommt sie es außerhalb der Insel mit ihren alten Vergehen zu tun und muss vor Gericht den Tod ihres Vaters verantworten, den sie in 2.09 samt Haus in die Luft gejagt hatte. Auf der Insel wird Sawyers Ratschlag von Miles sinngemäß wiederholt: »If I where you I’d stay right here, on the island.«

Als Kate übrigens mit Miles sprechen will, Locke ihn aber nicht rausgibt und Kate fragt, warum nicht, antwortet Locke: »You may think this is a democracy, Kate, because of the way Jack ran things. But this is not a democracy.« Das ist neben dem belief/disbelief-Streit wieder ein hervorragend herausgearbeiteter Jack/Locke-Gegensatz. Mit seiner believer-Truppe, mit seinem Camp in den Barracks und mit dieser »democracy«-Aussage scheint Locke tatsächlich der »Colonel Kurtz« zu werden, als den ihn Sawyer in 4.02 bezeichnet hatte.

Sawyer macht auch erneut seinem Namen als Spitznamenerfinder alle Ehre, indem er Miles als »Bruce Lee from the freighter« bezeichnet. Miles widerum will $3.200.000 von Ben, dann werde er den Frachterleuten sagen, dass er tot sei. Die »Lost«-Scripter haben es ja mit komischen Zahlen, und das hier ist wieder so eine unübliche Summe, und da werde ich gleich mal Dique damit erschrecken, wenn ich ihm sage, dass »32« eine umgekehrte »23« ist, es ist sehr unheimlich, hehe.

Nach dem Dämpfer für die Kate-&-Sawyer-Fraktion gibt es auf der Insel dann überraschenderweise problemlos eine nur knapp jugendfreie Szene ziwschen beiden. Nachdem man ja mit der Aussicht auf Zuneigungsbezeigungen in TV-Serien eigentlich immer hingehalten wird, fragt man sich, warum »Lost« hier jetzt so mit Romantik um sich schmeißt. Na ja, der Tête-à-tête endet im Streit, immerhin.

Insgesamt setzt mit dieser Folge eine deutliche erzählerische Verlangsamung der Staffel ein, aber nach den fulminaten ersten drei Folgen muss sich alles erst mal ein wenig setzen. Trotzdem gibt es noch Elemente des Schnelldurchlaufs, die Zeit rennt, sie müssen alles noch irgendwie unterbringen und wollen keinen vergessen: Kurzes Gespräch zwischen Sun & Jin, man kriegt das fast gar nicht mit, man konnte sich ja sozusagen kaum mehr an die beiden erinnern, hehe.

Am Schluss dann die spannende Horrormeldung per Funk: Der in der letzten Folge mit Sayid gestartete Heli ist nicht auf dem Frachter gelandet. Locke sorgt darüber hinaus noch für einen eigenen Schocker: Da er keine Antworten von ihm bekommt, stopft er dem gefesselten Miles eine Handgranate mit gezogenem Splint in den Mund, sodass der bibbernde Antwortverweigerer den Bügel nur noch mit seinen bibbernden Zähnen hält. Was für eine Szene!

»Die rasende Radisch«: Die FAS vom 24. 2. 2008

Leipzig, 24. Februar 2008, 23:03 | von Paco

Bevor es gleich ums FAS-Feuilleton geht: SP*N hat eben einen leicht launigen Geburtstagsgruß Richtung »Monocle« geschickt. Darin wird mal schlagend zusammengefasst, was das Magazin so angenehm macht: »Keine IT-Milliardäre, keine Celebrities, kein YouTube-Hype.« Klingt wie das Gegenteil von SP*N, hehe.

Wir lesen »Monocle« übrigens genauso regelmäßig wie die FAS, und damit zur aktuellen Ausgabe, die man am heutigen Sommersonntag mitten im Februar schon auf den Terrassen aller Kaffeehäuser des Monats lesen konnte.

Aufmacher ist ein Gespräch zwischen Julia Encke und Charlotte Roche. Die beiden siezen sich, und das wirkt irgendwie unfreiwillig komisch, wenn es dabei um Masturbation im Badezimmer und Intimrasuren geht.

Dann Klaus Theweleit zu Littell und den »Wohlgesinnten«. Auf der Seite prangt wieder die Thalia-Werbung (»Das beste Buch des Monats!«), dieser freiwillige oder unfreiwillige Gag kommt immer noch so gut wie letzte Woche.

FAS, Buch des Monats, im Hintergrund die Peterskirche

Nun aber zu Theweleits Aufsatz: Auf diese Stimme hat man irgendwie gewartet. Tilman Krause hatte ja in der »Welt« dreisterweise sogar geschrieben, dass Littell »unserem Bild vom faschistischen Charakter neue, über Theweleits ›Männerphantasien‹ hinausgehende Züge gibt«, und da ist es an der Zeit, dass er selbst spricht.

Zunächst arbeitet sich K. T. aber an der (meiner Meinung nach sehr guten) Rezension von Iris Radisch in der »Zeit« ab. Er nennt sie die »rasende Radisch«, und sofort ist klar: Es geht ein bisschen um Polemik.

Er kann Radisch jedenfalls nicht plausibel widerlegen. Ihm gelingt es aber, und das ist viel wichtiger, eine neue Phase in der Debatte um das Nicht-Jahrhundertbuch (Schirrmacher) einzuleiten. Es geht jetzt um Details, nicht mehr um das große Ganze, über das ohnehin schon alles gesagt wurde, bevor das Buch gestern offiziell erschienen ist.

Die Artikelüberschrift – »Der jüdische Zwilling« – deutet schon an, worin Theweleit einen interpretatorischen Schlüssel vermutet, nämlich in der Darstellung der »affektiv-intellektuellen Symbiose des ›Deutschen‹ mit dem ›Jüdischen‹«. Insgesamt psychologisiert Theweleit etwas zu mutig, es wurde mir auch etwas schwindlig dabei, sozusagen, aber den Aufsatz sollte man sowieso am besten nächste Woche noch mal lesen.

Als es am Ende noch mal um die literarische Qualität geht (die den »Wohlgesinnten« ja reihenweise abgesprochen wurde), prägt Theweleit übrigens, womit er eigentlich die Littell-Kritiker imitieren will, das Wort vom »Literaturgefreiten Littell«, und das ist doch mal eine schöne plastische Formulierung.

Ein paar Seiten weiter gibt es ein Interview, das der Interviewkünstler André Müller mit der Violinistin Julia Fischer geführt hat (die Stefan Raab und Tokio Hotel nicht kennt). Wie es sonst nur bei Jonas Kaufmann üblich ist, stellt Müller der Bildungsgeigerin beständig Fragen nach ihrem Aussehen, die sie aber alle abwehrt. Dann folgende Stelle:

Müller: »Kunst, sagen Sie, ist nicht Unterhaltung.«

Fischer: »Ja, das sage ich, denn ich finde, es gibt eine Trennlinie zwischen der Kunst und dem Entertainment.«

Diese Stelle ist deshalb so herrlich, weil genau auf der gegenüberliegenden Seite Reich-Ranicki widerspricht, Schiller zitierend:

»Der Zuschauer [und natürlich der Leser; R. R.] will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er …«

In der FAS haben schönerweise auch Widersprüche Platz, hehe.

Und zum Schluss noch, hätte ich fast überlesen, die Kolumne »Nackte Wahrheiten«, heute bespielt von Claudius Seidl. Er rechtfertigt sich dafür, dass das Bestsellerbuch »Generation Doof« nicht von der FAS besprochen wird. Denn »die beiden Autoren (waren) beim sogenannten Kerner eingeladen«, und C. S. hat zugesehen und den Titel des Buches offenbar auf das Autorenduo beziehen müssen, und dann wurde entschieden:

»Nein, haben wir vom Feuilleton zu uns selber gesagt, ganz gegen unsere Gewohnheit: Angesichts dieser Variante der Dummheit erklären wir uns einfach mal für unzuständig.«

Frühjahrsputz:
Die FAZ und ihre Leserbriefe

Konstanz, 23. Februar 2008, 06:15 | von Marcuccio

Zu den festen Momenten eines jeden Umblätterer-Jahres gehört der Frühjahrsputz. Denn was gibt es Schöneres, als beim lesenden Entsorgen zerfledderter Alt-Feuilletons noch allerletzte Perlen zu bergen. Ich persönlich fröne bei diesem Ritual ja immer ganz gerne der Leserbriefseite der FAZ, also der Seite, die in der F-Zeitung vornehmer als anderswo »Briefe an die Herausgeber« heißt.

Man kann dieser Seite mit den berühmt-berüchtigten Koreferaten der Oberstudienräte und Bundesverwaltungsrichter a. D. nachsagen, was man will. Sie ist manchmal wirklich eine Seite zum Wegschmeißen – was ihre Lektüre gerade beim Wegschmeißen sehr empfiehlt, hehe. Zum Beispiel hier, ich blättere eine F-Zeitung vom 12. Juni 2007 und lasse mich auf der Briefe-Seite von der schönen Headline »Herrenreiter-Mentalität« fangen:

»Vielen Dank für Ihren Artikel Potsdams Spaßbürger (F.A.Z.-Feuilleton vom 24. Mai). Dieser Fall ist, wie Heinrich Wefing treffend aufzeigt, eben leider symptomatisch für dieses Land. An die Herrenreiter-Mentalität nicht weniger Fahrradfahrer hat man sich ja schon gewöhnt, aber ein paar Oasen der Kultur sollen bitte erhalten bleiben.«

Na, nun kommt der Untergang des Abendlandes schon auf dem Drahtesel angefahren, denke ich mir noch, und blättere weiter. Bis ich ein paar Wochenstapel später, nämlich in der F-Zeitung vom 16. Juli 2007, schon wieder bei den Briefen an die Herausgeber hängen bleibe. Diesmal ist »Desavouiert« der Teaser – ein hübsches, schönes Bildungsbürgerwörtchen, das man auch nicht alle Tage zu lesen bekommt. Und dann steht da das:

»In seiner Zuschrift vom 12. Juni beschwert sich Leser Müller über die ›Herrenreiter-Mentalität‹, soll wohl heißen, das Verkehr und Natur gefährdende Rauditum von Radfahrern, besonders Mountainbikern. Ja, wenn diese sich doch wie Herrenreiter verhielten, dann würden sie in jeder Lage ihr Gefährt beherrschen, sich an Radwege halten und nicht auf Schnellstraßen fahren, nicht querfeldein über Saatfelder oder Lichtungen im Wald radeln. Die Begriffe ›Herrenreiter-Mentalität‹ und ›Gutsherrenart‹ werden heute von Leuten zur Bezeichnung rücksichtslosen autoritären Verhaltens gebraucht, die weder einen sein Pferd feinfühlig beherrschenden echten Herrenreiter noch einen stetig um seinen Betrieb besorgten Gutsbesitzer jemals kennengelernt haben. (…) Als Mann, der über 65 Jahre in Ehren korrekt im Sattel sitzt, fühle ich mich durch Leser Müller desavouiert.«

Leserbriefe, die auf andere Leserbriefe reagieren, ein echtes Schatten-Genre. Und wohl nur in der F-Zeitung kann sich eine Zuschrift an einem 16. Julei mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit auf eine durch ein Kompositum ausgelöste Desavouierung vom 12. Juno beziehen. Das zeigt mal wieder die wahren Zeitläufe dieser Zeitung: Sie ist eben auch nach mehr als einem Monat noch frisch.

Womöglich, denkt sich der Umblätterer beim Frühjahrsputz, begreift man diese Zeitung überhaupt erst im Abtrag eines Jahres. Dazu muss sie dann natürlich möglichst lückenlos archiviert sein (von daher darf man nicht zu oft mit der FAZ-Abbesteller-Szene sympathisiert haben und sollte seine F-Zeitung auch immer gut vor San Andreas in der Bahn verteidigen, hehe).

Denn wer weiß, wieviele Briefe an die Herausgeber übers Jahr noch so miteinander kommunizieren? Die geheimen Leser-Netzwerke in der Offline-Blogosphäre der FAZ, das wäre doch mal eine schöne Plotstruktur für die nächste Staffel dieses Buches. Und ist für mich schon jetzt ein Ansporn zum nächsten Frühjahrsputz.

Die Vermeesung der Kunst

Leipzig, 22. Februar 2008, 06:02 | von Paco

Gabriel ist zurück. Der Überschriftenerfinder. Er war in den Fußstapfen von Harald Schmidt und Juan Moreno auf einer Weltreise, »um gewisse Studien zu vervollständigen«, wie er selber sagt. So habe er endlich den tieferen Zusammenhang (den es eigentlich nicht gibt) zwischen dem französischen ›c’est‹ und dem hebräischen ›זה‹ verstanden, die ja komischerweise intersprachlich eine ungefähre Homophonie bei ungefähr deckungsgleicher Semantik verbindet. Solche Erkenntnisse seien für einen Headliner Gold wert.

Anyway. Jetzt müsse er wieder ein bisschen Geld verdienen, daher kurz wieder Leipzig. Und sein neuestes Werk sei die Überschrift zu einem kritischen Artikel über Jonathan Meese und dessen Einfluss auf die Kunst und den Betrieb. Eine nicht näher genannte Hochleistungszeitung hatte angefragt. Den Namen des Artikelschreibers kenne er, wie immer, nicht. Und das hier sei also jetzt die Headline, an der er eine ganze Woche intensiv gearbeitet habe:

Die Vermeesung der Kunst

Gabriel hat dafür 3.500 Dollar eingestrichen, allegedly. Warum er in Dollar bezahlt wird für eine deutsche Überschrift, diese Frage fällt mir erst jetzt ein. Warum er so viel Geld für nur 4 Wörter bekommt, das frage ich dagegen nicht mehr. Von dieser Überschrift werden alle reden, mindestens eine Woche lang. Sie wird den Text, dem sie vorsteht, unerheblich machen.

Eine gute Feuilleton-Überschrift mache man nicht so nebenbei. Es gebe zwar auch in diesem Métier Anfängerglück, aber wenn die »Jungle World« für ihre Titelzeile mal eben den Layouter ein bisschen brainstormen lässt, das sei doch wohl so wie beim Schuster ein Walnussbrot kaufen: In seltenen Fällen hat der alte Schuhklopper vielleicht zufällig eins da, aber dann wird es sicher nach Schuhcreme und siechendem Leder riechen und nicht nach Walnuss und frisch gebackenem Teig.

Warum die »Vermeesungs«-Überschrift so gut ist, vielleicht die beste des Jahres, auf jeden Fall ihr Geld wert?

Sie lebt vor allem natürlich von der parodierenden Anspielung auf Daniel Kehlmann und seinen bestsellerischen Gauß/Humboldt-Roman »Die Vermessung der Welt«. Eine derartige klangbasierte Parodie könne aber jeder verbrechen, so Gabriel. Wenn sie dann aussagemäßig nicht zum parodierten Gegenstand passe, bleibe sie aber ein Kalauer, »das schlimmste Verbrechen der Semantik«. So sei es übrigens bei den meisten Überschriften, dadurch werde jede Langzeitwirkung zerstört.

Gabriel rechnet die Wirkung von Überschriften ja immer aus, ich weiß aber immer noch nicht, was genau er damit meint.

Seine »Vermeesung« werde wie alle Hit-Überschriften erst durch all die Nebeneffekte wirklich tiefgängig. Allein die Ersetzung der ›Welt‹ durch die ›Kunst‹ sei ein Volltreffer. Dann gebe es noch solche Faktoren wie den, dass ›Meese‹ und ›-mess-‹ auch an das griechische ›μέσος‹ (›mesos‹) erinnern, zu dt. ›mittig‹, ›Mittel-‹. Es ruft also den Terminus Meso-Mäßigkeit auf den Plan, so wie einige Leute ›Meso-Amerika‹ für ›Mittelamerika‹ sagen. Die Assoziation ›Meese-Mäßigkeit‹ stelle sich dann schnell ein, und diese Hervorhebung der Vermittelmäßigkeitung (whoa!) sei auch genau die von der Zeitung nachgefragte Tendenz des Artikels, den ja irgendein Kunsthistoriker bzw. Kunstkritiker schreibt bzw. schreiben wird.

Freilich entspräche das Meso-Wort letztlich eher dieser explodierend-bunten »Spiegel Online«-Wortspiel-Ästhetik. Aber eben nicht nur. Und ob die Meso-Anspielung überhaupt gleich jemand mitbekomme, das sei nicht die Frage. Über eine gute Überschrift könne man eben länger nachdenken als über ganze Celan-Gedichtbände. Und die Meso-Mäßigkeit bestimmter Kunstwerke und einer bestimmten Künstlergeneration werde ja eh vom Artikelschreiber thematisch bespielt, insofern gebe es da kein verschossenes Pulver.

Eine gute Feuilleton-Überschrift, sagt Gabriel, muss den kompletten dazugehörigen Artikel ersetzen können. Sie muss der Artikel sein. Und das schafft diese Headline, hier also noch mal der sozusagen komplette Artikel zu Jonathan Meese, seiner Kunst und deren Einfluss auf all die mediokren Strömungen im kontemporären Kunstbetrieb:

Die Vermeesung der Kunst

Matthias Grünewald in Karlsruhe

Karlsruhe, 21. Februar 2008, 11:38 | von Austin

Der Umblätterer unterwegs. Heute: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, »Matthias Grünewald und seine Zeit«. Die vollste und stressigste Ausstellung seit langem. Gute Güte. Menschenmassen. Bildungswillige Rentner drängen sich durch die Räume; hunderttausend Jahre verstellen einem den Weg.

Eine absolute Unsitte: Diese schwarzen Ausstellungsklappstühle. Rentner brauchen sie nicht, um sich mal hinzusetzen (dazu nehmen sie ihren Rollator mit), sie schieben damit die Konkurrenz weg, klappen sie vor dem Bild blitzschnell auf und sichern sich so einen unverrückbaren Blick in der ersten Reihe.

Allerdings sind auch viele Besucher von der Bedienung der monströs geratenen Handapparate der Audio-Guides mehr gefangen genommen als von der Ausstellung. (»Der Faltenwurf ist ganz bemerkenswert.« – »Wo steht das?« – »Sagt der Guide hier.« – »??« – »Taste 20!« – »??« – »Du tippst 0020!«)

Und dennoch wehen durch die Räume von allüberall immer wieder Fetzen des vertrauenswürdigen Baritons aus dem Audio-Guide, wie er mit warmer Stimme die Angst vor der Kunst nimmt: … vor dunklem Hintergrund liegt der Leichnam Jesuwird der Blick des Betrachters gelenkt aufdahinter, am Rand des Bildes, ein Mann … Irgendwie kommt es einem so vor, als ob diese Stimme darauf mittlerweile in vielen Museen das Monopol hat, eine Art Christian Brückner der Kunstaufbereitung.

Ansonsten wird mit viel Materialaufwand verhangen, dass der Isenheimer Altar als das uneinholbare Hauptwerk, die »Supernova der Kunst«, wie die »ZEIT« grandioserweise titelte (6. 12. 2007), nun einmal in Colmar hängt. Bei manchen Besuchern geht der Schock noch tiefer: »Ursula, die Bilder sind gar nicht alle von dem Grünewald.«

Bemerkenswerterweise, ein Seitenaspekt der Kunstgeschichte, sind im 16. Jahrhundert Jesus et al. zu ca. 80 Prozent an expliziten Stellen rasiert. Würden sie heute in jeder Sauna durchgehen.

Im Übrigen viel Bourdieu. Vor Grünewalds »Kreuzigung« vom Tauberbischofsheimer Altar: »Schau mal, Marias gefaltete Hände.« – »Ja. Aber die ›Betenden Hände‹ von Dürer finde ich doch besser. Die sind so toll.« Dann, am Nachbarbild, tatsächlich live, the everlasting Top-Act in allen Museen: »Also, wir gehen dann jetzt langsam.« – »Ja, man kann sich ja gar nicht alles anschauen.«

Genau. Und deshalb hier der nutzpraktische Service des Umblätterers: Die drei Bilder, die man gesehen haben sollte. Und dann kann man eigentlich fast auch schon wieder gehen.

1) Die »Kreuzigung« des Tauberbischofsheimer Altars (Nr. 50). Nicht wegen der Hände Mariens, sondern weil die Kreuzigung fast so tot und wüst ist und so viel unendliche Leere verströmt wie die des Isenheimer Altars. Nicht ganz, aber fast. (Als Ergänzung: Nr. 83, »Christus am Kreuz«. Kohlezeichnung. Das Ganze in schwarz-weiß.)

2) Grünewalds »Beweinung Christi« (Nr. 105). Diesmal wegen der Hände Mariens. Knapp über dem bildfüllend hingestreckten Leib Christi platziert, sind sie auch das einzige, was in diesem Supercinemascope-Format überhaupt von Maria zu sehen ist. Der Rest, und also überhaupt die eigentliche Beweinung, liegt jenseits des Rahmens im Ungemalten – ausgespart, angedeutet, über den Bildrand hinaus gedacht. Was für eine Erzählperspektive. (Der drängendste Verwandte dazu: Hans Holbein d. J., »Der Leichnam Christi im Grabe«, Kunstmuseum Basel.)

3) Als Fan gegenwärtiger US-amerikanischer TV-Serien, als Fan des Weglassens & Andeutens, als Verfechter kühner Perspektiven, als Anhänger kultivierten Erzählens [siehe auch 2)] kam der Umblätterer nicht vorbei an Hans Baldung Griens »Beweinung Christi« (Nr. 106), einer Leihgabe aus der schönen und von uns auch sehr geliebten Stadt Innsbruck. Weil: Christus liegt am Boden, und von den Übrigen der am Kalvarienberg Hingerichteten zeigt uns HBG nur noch die Füße.

Die Ausstellung kostet 9 Euro Eintritt. Das macht pro Bild 3 Euro. Nimmt man die Zeichnung noch hinzu, sind es sogar nur 2,25 Euro. Das geht absolut okay.

Kummer, Kracht und das
Copy-Shop-Feeling bei »Tempo«

Konstanz, 20. Februar 2008, 12:12 | von Marcuccio

Vor knapp einem Jahr sind Tom Kummers Memoiren »Blow up« erschienen. Eben gelesen stimme ich mit Gerrit Bartels absolut überein, dass das Buch »große, feine Momente« hat. So gibt es zum Beispiel endlich mal wieder frische Mythen aus dem Hause »Tempo«. Zwei davon exklusiv hier, in unserem Reading Room. (Zahlen in Klammern = Seitennachweise aus »Blow up«).

1. Wie Tom Kummer enthüllt: »Tempo« war eigentlich gar kein Zeitgeist-Magazin, sondern ein Copy-Shop!

»Mein erster Gedanke beim Betreten der Redaktionsräume war dieser: Habe ich mich im Eingang geirrt? Hier sah alles wie in Copyland aus. (…) Die Tempo-Redaktion erinnerte mich an eine Mischung aus (…) schmucklosen Kopierläden und studentischen Wohngemeinschaften. Ich war ein wenig überrascht, wenn man bedenkt, wie edel das Gebäude von außen wirkte und wie glamourös sich das Heft gab«. (104 f.)

Im Innern war »Tempo« also eigentlich ein Copy-Shop. Und als solcher zugleich die Achtziger-Jahre-Vorform der Blogosphäre. Kummer schreibt das jetzt nicht explizit (zum Glück!), aber er suggeriert es durchaus plausibel:

»Mit Kopierläden kannte ich mich gut aus, das waren (…) die besonderen Treffpunkte zeitgeistiger Strömungen. Man konnte in Kopierläden die aufregendsten Menschen kennenlernen, Leute, denen man sonst nie begegnen würde. Recherchen im Internet gab es noch nicht – alles musste mühsam aus Heften und Büchern rauskopiert werden, und so wurden bestimmt einige der ganz großen Ideen zum ersten in einem Kopierladen geboren.« (105)

Konsequenterweise pflegte »Tempo« nicht nur den Copy-Shop-Look, sondern auch die echte (in solchen Läden ja durchaus bis heute übliche) Ich-bedien-dich-nicht-Atmosphäre:

»Eine Traube von Leuten stand um ein Kopiergerät herum. Alle Köpfe drehten sich jetzt in meine Richtung. Es waren wohl Redakteurinnen und Sekretärinnen, die mich mit cooler Herablassung anglotzten und gleich wieder mit cooler Herablassung wegschauten. (…) Vielleicht wurde ich für einen Fahrradkurier gehalten. Niemand schien mich zu bemerken. (…) Nach zehn Minuten fragte mich eine junge Frau, ob sie mir helfen könne.« (105 f.)

Und dann darf der Fahrradkurier tatsächlich bei »Tempo« anfangen, und kriegt sogar schon bald Verstärkung.

2. Wie Christian Kracht zu »Tempo« kam, für Kummer kopieren musste und das Ergebnis nicht streifenfrei war:

»Ein junger, blondhaariger Schnösel betrat irgendwann die Redaktion. Er war Volontär oder so etwas in der Art und stellte sich als Christian vor. Er sei Schweizer. Das konnte ich kaum glauben, denn der Blonde konnte kein Schweizerdeutsch, was sehr lustig war. Ein Schweizer, der keinen Dialekt spricht – davon hatte ich noch nie gehört.« (117)

Wenn es damals schon einen gewissen Fabian Unteregger gegeben hätte, würde ich ja fast wetten, dass es der nicht bestandene Schnütsgüfeli-Test war, der Kracht das Los des Kopiersklaven unter Eidgenossen bescherte. Vielleicht haben die beiden aber auch ein Schwingen ausgetragen, um zu entscheiden, wer wem was zu sagen hat? Jedenfalls (Kummer):

»Ich sagte dem Blonden, er solle mir beim Kopieren helfen, wenn er schon sonst nichts zu tun hätte, ich hatte mir nämlich ein riesiges Arsenal von Fachliteratur für meinen nächsten großen Auftrag besorgt: Drogen in Deutschland – der ultimative Tempo-Test. Und so kopierte ich mit dem Blonden alles, was man über Kokain, Heroin, LSD so finden konnte. Ich erzählte dem Blonden, was für eine grandiose Geschichte dies werden würde, eine Reise durch Deutschland, auf der Suche nach den besten und miesesten Drogen, die diese Republik zu bieten habe. Und dass das gleichzeitig ein Sittenbild werden solle über ein Land das es in dieser Form bald nicht mehr geben würde.« (117)

Na ja, der »Tempo«-Drogenreport schaffte es dann, wie Kummer später schreibt, nie ins Heft. Aber aus der Reise durch Deutschland, den miesen Drogen und dem Sittenbild wurde ja immerhin noch … »Faserland«, genau.

Kummers Kopierauftrag bei »Tempo« als Keimzelle für Krachts literarische Karriere – das wäre dann aber wirklich noch ein hübsche späte Pointe auf Willi Winklers frühe »These von der Geburt der neuesten deutschen Literatur aus dem Geist der Szenezeitschriften« (S-Zeitung vom 14. April 1987). Achtziger-Jahre-Feuilleton, auf jeden Fall – wir Umblätterer machen da manchmal so Retro-Abende, hehe.

Und logischerweise meinte Winkler seinerzeit gar nicht Kracht, sondern Joachim Lottmann, der gerade »Mai Juni Juli« veröffentlicht hatte. Derselbe Lottmann behauptete dann aber Jahre später auch:

»Als später Christian Kracht mit einer Kopie von ›Mai, Juni, Juli‹ triumphal als Begründer der deutschen Popliteratur gefeiert wurde, rief er mich mit belegter Stimme an; ich glaube, er hatte geweint.«

Ob Lottmann sich derweil eigentlich auch bei »Tempo« verdingt hat und wer dort nun welche Vorlage beim Kopieren vergessen hat, je ne sais pas. Das wird dann aber hoffentlich mal in aller Gründlichkeit die historisch-kritische Kracht-Ausgabe klären. Und am Ende ging wahrscheinlich sowieso alles über den »Tempo«-Kopierer. Ich vermute ja fast: Auch das legendäre Faserland-Design ist Copy Art – oder arbeiteten die Kopierer der »Tempo«-Jahre wirklich schon streifenfrei?

Lost: 4. Staffel, 3. Folge

London, 19. Februar 2008, 22:12 | von Dique

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »The Economist«
Episode Number: 4.03 (#74)
First Aired: February 14, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Der Ökonom« (EA 29. 6. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Sayid-Folge, und man fragt sich, wie der ehemalige Foltermeister der Republikanischen Garde immer wieder zum Werkzeug dunkler Mächte wird. Besonders, wenn man ihn von der Insel her kennt, kontrolliert, dominant und somewhat in charge. So wie er in dieser Folge bei seiner Charlotte-Befreiungsaktion rüberkommt, um dadurch auf den Frachter vor der Küste zu gelangen, wie es ihm als Lohn in Aussicht gestellt wird von dem Chopper-Pilot, der aussieht wie der Typ aus »Tropical Heat«, nur eben in alt und versoffen.

Aber so tough er auch sein mag, Sayid hat erkannt: »Everyone has a boss.« Seine Dienstherren scheinen bevorzugt zur Kategorie ›schlimme Finger‹ zu gehören, wenn man seinen Werdegang vom Folterer zum Auftragsmörder von Bens Gnaden betrachtet. Von diesem neuesten Karriereschritt wird uns nämlich im Flashforward gegen Ende der Folge berichtet. Dabei hatte er auf der Insel noch getönt: »The day I start trusting him [Ben] is the day I would have sold my soul.« Hat er also in einem faustischen Pakt, von dem wir noch nichts wissen, seine Seele verkauft?

Und was wissen wir schon. Für jeden Ansatz einer Erklärung, und davon gibt es in dieser Folge glücklicherweise mal so einige, werden uns immer wieder neue Fallstricke der Verwirrung gedreht, werden neue Personen und schwindelerregende Plot-Winkelzüge präsentiert.

Da schlendert nun der harte, weiche Sayid, ›der weiche Riese‹ möchte man sagen, ein bisschen wie Axel Schulz, nur ohne die frischen Koteletts auf den Augen, durchs winternasse Berlin und verliert, binnen einer Folge, erneut eine blonde Geliebte. Bauchschuss. So starb auch Shannon auf der Insel (am Ende von Folge 2.06), nur hat Sayid diesmal in Berlin selbst die Hand am Abzug.

Im Café »Die Mauer« lernt er Elsa kennen. Sie soll eigentlich nur ein Lockvogel sein, eine Informationsquelle, ein Vorwand. Der Mörder Sayid, das kann man ruhig mal so hart sagen, will ihren Boss niederstrecken, so wie er den Herrn zu Anfang der Folge auf dem Seychellen-Golfplatz erledigt hat. Der altmodische Boss von Elsa, über den wir nichts wissen, wird ein alter Bekannter sein. Dazu gibt es sicher bald mehr, oder eben gegen Ende der 6. Staffel, falls es die Autoren irgendwie zwischenzeitlich vergessen, verschieben oder verplanen. Deshalb frage ich auch nicht schon wieder nach dem Statuenrest mit den vier Zehen.

Die Folge ist auch wieder ein bisschen touristisch, so wie Paco es bei der letzten Folge bereits feststellte, nach dem anfänglichen Abstecher auf die Seychellen wird uns ein kühles Deutschland präsentiert, Berlin. Und es gibt auch wieder Namensspiele: Sayids Geliebte (und Opfer) Elsa erinnert einerseits an den berühmten Exploitationklassiker »Ilsa, She Wolf of the SS« von Don Edmonds, hehe, aber vor allem natürlich an die ach-so-deutsche Elsa (von Brabant) aus Wagners »Lohengrin«. Die Parallelen der Todesumstände beider Elsas sind zumindest recht deutlich. Aber vielleicht gehen wir hier ein bisschen zu weit mit unseren Mutmaßungen, denn eine Zigarre ist manchmal eben nur eine Zigarre.

Wo wir gerade dabei sind, Namen, Zahlen … Faraday lässt vom Frachter aus eine kontrollierte Rakete auf seine Position abschießen, welche mit einiger Zeitverzögerung auf der Insel ankommt. Die Zeit auf der Insel scheint deutlich langsamer zu laufen. Das ist natürlich ein dickes Ei. Erklärt vielleicht auch, warum Richard, den Ben auf seiner kurzen Flucht während seiner Kindheit hinter den Sicherheitspylonen im Wald traf (Folge 3.20), seither nicht oder nur sehr wenig gealtert ist. Als er ihn nach dem Massenmord an der gesamten Dharma-Besetzung wiedertraf, sah der noch genauso aus, aber aus dem jungen Benjamin war inzwischen ein Mann geworden.

Die Rakete brauchte übrigens 03:16:22 Realflugzeit, nach Inselmessung aber nur 02:45:03. 3+1+6+2+2=14 (1+4=5, die Quersumme von 23). Nun mal bitte die Inselzeit zusammenrechnen, scary, platt oder Zufall? Ach so, flight number 8+1+5, hehe.

Es gab ja das U-Boot, und wir wissen auch um den Kontakt der Inselbewohner mit der Außenwelt, welcher allerdings immer sehr sporadisch wirkte und an dem Ben nicht beteiligt war. Es erschien immer, als hätte er sein Leben nach der Ankunft auf der Insel ausschließlich dort verbracht. Nun entdeckt aber Sayid diesen geheimen Raum in Bens Haus (ganz klassisch: ein drehbares Bücherregal).

Ein Raum voller Pässe, plus Geld in verschiedenen Währungen und anderen Reiseutensilien. Ben war also out and about in der weiten Welt. Und dann bekommen wir noch einen kurzen Blick auf Bens Schweizer Reisepass. Und was wird wohl herauskommen, wenn wir von Bens Geburtsdatum die Quersumme bilden, 3. März 62, 3+3+6+2?

Bens Reisetätigkeit wird auch erklären, warum einige Leute auf ihn so sauer sind und ihn suchen. Es sieht nach Rache der Dharma-Initiative aus. Vielleicht gehört Ben zu einer Organisation, die direkt mit den Dharmas in Konkurrenz steht. Nach dem in Tunesien freigelegten Skelett eines Eisbären mit Dharma-Halsband liegt die Vermutung nahe, dass Dharma nicht nur auf der Insel Experimente mit dem weißen Meister Petz durchführte, sondern verschiedene Stationen betrieb.

Vielleicht hat Ben die alle nacheinander ausgeschaltet. Die Insel war für ihn sicherer Fluchtpunkt, denn niemand konnte sie orten, aber nach der Explosion im Hatch und der Zerstörung von »The Looking Glass« hat sich das alles geändert, und die heile Inselwelt des Benjamin Linus entgleitet immer mehr ins Chaos.

Locke führt in der aktuellen Folge seine »Herde« über die Insel und folgt dabei seinem ganz persönlichen Abendstern, in Form von Mr. Ekos Schnitzereien. Nun begegnen sich die Gruppen at gunpoint, aber doch zivilisiert. Sayid wird von Kate überrascht, noch ehe er seine Gedanken über Bens Versteck verdauen kann und wird, wie zufällig, zu Ben gesperrt, der ihn mit »I guess they’re running out of jail space« begrüßt.

Vielleicht haben die beiden hier ihren teuflischen Pakt geschmiedet, obwohl dafür wohl die Zeit nicht gelangt haben dürfte. Denn Sayid wird sich schnell einig mit Locke: Er tauscht Charlotte gegen den Geisterjäger Miles und kehrt mit ihr zum Heli zurück, zu Jack und den anderen. Der Plan geht auf, und der Chopper hebt ab, mit dem versoffenen Tropical-Heat-Piloten, Sayid, Desmond und der toten Naomi.

Für Herz und Record, Kate hat sich mal wieder für Sawyer (und damit die Insel) entschieden, aus Mangel an Perspektive. Das wird sie sich aber scheinbar noch mal anders überlegen, schließlich ist sie eine der Oceanic Six. Wie übrigens eben auch Sayid, der jetzt Nr. 4 von 6 ist, fehlen also noch 2 (wenn man Ben nicht mitzählt, der ja im Flashforward mit Sayid unterwegs war). Die Komplettierung dieses Figuren-Sixpacks ist im Moment wohl die spannendste Perspektive, und sie wird auch nicht so lange auf sich warten lassen wie die Auflösungen all der anderen Fragen (die Monumentalstatue mit den vier Zehen will ich gar nicht erst wieder erwähnen, was zur Hölle ist das!).