FAS-Nachschlag:
Obama, Stromberg, Pastewka, Dr. Psycho

Leipzig, 1. April 2008, 15:50 | von Paco

Nur kurz: Dique hat vorgestern in seinem Rundown der FA-Sonntagszeitung natürlich einiges weggelassen, z. B. den Doppelseiten-Artikel von Hans Ulrich Gumbrecht (S. 30-31). Das Erwähnen von Gumbrecht-Artikeln bleibt unabgesprochenerweise aber sowieso meist dem Romanistik-Subsidiary des Umblätterers (Marcuccio, Millek, ich) überlassen, daher hier schnell die Nachreichung:

Es ist ein Text über Barack Obama und dessen Wahlkampf, und zwar ungefähr der beste Text dieses Themenkreises so far. »Kann man Wähler fangen mit der Wahrheit?« lautet die Überschrift, und es geht um »jenes paradoxale politische Charisma, das eben daraus erwachsen ist, dass er [Obama] sich nicht wie ein Politiker verhält«.

Als sich Bill Richardson, ein ehemaliges Kabinettsmitglied unter Bill Clinton, aufgrund von Obamas Philadelphia-Rede innerhalb der demokratischen Partei für diesen ausgesprochen hatte, wurde er von Clinton mit Judas verglichen. Und jetzt kommt’s:

»Vielleicht liegt es also tatsächlich jenseits des Vorstellungsvermögens eines Vollblutpolitikers wie Bill Clinton, dass Entscheidungen in seiner Welt nicht als Ausgleich für vergangene und in Vorbereitung zukünftiger Begünstigungen fallen, sondern einfach, weil jemand, der sich entscheidet, das, wofür er sich entscheidet, als richtig ansieht.«

Was für ein schöner klarer Satz.

Eine Umblätterung weiter (S. 33) gibt es dann noch einen Artikel von Peer Schader über die Produktionsfirma Brainpool. Eine der herrlichen Kat-Menschik-Zeichnungen lockt sehr gelungen in den Text hinein. Zu sehen sind die Köpfe von Ulmen, Barth, Herbst, Engelke, Pocher, Pastewka, Raab.

Das Bild führt jedoch ein wenig in die Irre, denn es geht vorrangig um Brainpools Firmenpolitik, nicht um die Comedy-Produkte selbst. Deswegen bauen wir mal schnell ein bisschen enttäuschte Erwartungshaltung ab und erinnern noch mal an die drei besten Brainpool-Serien der Welt:

1. »Stromberg«

Wer noch mal behauptet, dass das Original-»Office« der BBC besser sei, soll das gerne tun. Wahrer wird die Behauptung dadurch nicht. Auch die vor einem Jahr gesendete 3. »Stromberg«-Staffel war wieder so genuin strombergig, so dicht geschrieben, so voller Einfälle, so überzeugend kausal verknüpft, so voller unfassbarer Dialoge und vor allem ungeahnter Emotionen (Erika!), dass man es immer wieder gar nicht glaubt, dass so etwas im deutschen Fernsehen läuft. Die 4. Staffel soll im Frühjahr 2009 gesendet werden.

2. »Pastewka«

Ok, die Ende letzten Jahres gesendete 3. Staffel war die bisher schlechteste: Die Geschichten um die ungarische Haushälterin/Kurtisane von Pastewkas Vater bergen einfach keine tragenden Storylines, und die eigentlich gut ausgedachte Rolle der »Frau Bruck« wirkt mittlerweile ausgewrungen. Die Serie ist aber eben immer noch gut, in der letzten Staffel vor allem die Til-Schweiger-Folge. Der selbst gesetzte Standard war aber nach den ersten beiden Staffeln auch wirklich hoch. Das Kausalitätentheater à la »Curb Your Enthusiasm«, das in Folge 2.02 (»Die Strategie der Schnecke«) in Szenen gesetzt wird, ist unübertroffen. Wer die nicht gesehen hat, weiß nicht, wie gut ein deutsches Drehbuch sein kann.

3. »Dr. Psycho«

Christian Ulmen wird als Psychologe Max Munzl der Abteilung für organisiertes Verbrechen zugeteilt. Ulmen spielt den ambitionierten Schluffi so genial, dass es reichen würde, seine Szenen einfach willkürlich aneinanderzureihen: Ewig könnte man ihm zusehen. Leider gibt es aber auch noch Handlung in den 6 Folgen der ersten Staffel, und die wird schön gestreckt. Das einstündige Sendeformat ist einfach zu lang für »Dr. Psycho«. Macht aber nichts: Viele schöne Einzelszenen und ein gut gecastetes Polizeiteam (vor allem der dumpfe Eddie kommt sehr gut) lassen das vergessen. Eine 2. Staffel ist in der Mache.

+++ End of Nachschlag +++

Die FAS vom 30. 3. 2008:
Peter Rühmkorf, Michael Jackson, Boris Johnson

London, 30. März 2008, 19:40 | von Dique

Aus aktuellem Anlass drängt die Politik ins Feuilleton, die ersten Seiten widmen sich dem Konflikt in Tibet aus verschiedenen Richtungen. Im Interview mit Ai Weiwei auf der Eingangsseite (sehr kurze Fragen, sehr lange Antworten) und in einem sehr guten, wenn auch ernüchternden Gastartikel der Schriftstellerin Jade Y. Chen.

Ein paar Seiten weiter sitzt Peter Rühmkorf auf einer Backsteintreppe an einem Gewässer. »Paradiesvogelschiß« heißt sein neuer Gedichtband, und Patrick Bahners widmet diesem einen langen Artikel. Rühmkorf schreibt zum Beispiel von einem »Marcel Rex Ranitzen« und liefert, wie der Artikel mehrfach bescheinigt, eine Menge medialen Gegenwartsbezug:

»Gedichte, die den Lesenden enteilen,
flott wie bei ntv die Durchlaufzeilen«

À propos Gegenwartsbezug und Federvieh: Paradiesvögel sind das nicht, die sich da wieder vorm Lisboa zusammenrotten, ganz gegenwärtig. Schon morgens auf dem Weg zu meinem Newsagent: Noch ganz verschlafen komme ich um die Ecke, und neben mir schrecken drei Tauben auf, Senkrechtstart, aber irgendwie in Zeitlupe und für meine Begriffe mir viel zu nah. Hellwach und leicht schreckhaft kaufe ich dann die FAS.

Auf dem Foto zum Artikel trägt Rühmkorf übrigens einen Old-School-Trenchcoat. Diese Variante mit all dem Schnickschnack dran, nicht nur Achselklappen und Gürtel, nein, auch noch diese Art Minigürtel um die Unterseite der Ärmel. Dazu rotes T-Shirt, ein holzfällermäßiges Hemd, also kariert, und darüber einen etwas ausgeleierten grau-beige-farbigen V-Pullover. Dann kommt erst der Mantel.

Die Brille ist relativ groß, aber vielleicht nicht groß genug, um trendig zu sein, denn im »Gesellschafts«-Teil erfahren wir, dass große »Streber«-Brillen aus den Achtzigern wieder hitverdächtig sind. Das kommt mir allerdings nicht so neu vor.

Bleiben wir im Ressort, ein paar Seiten vor dem Brillenartikel. Die Politik ist ja heute tief ins Feuilleton gekrochen, das dafür auf die »Gesellschafts«-Seiten weitergezogen ist, möchte man meinen, obwohl das ja auch nicht neu ist.

Es gibt dort einen großen Artikel über Michael Jackson, »King of Pop ohne Reich«, von Alexander Marguier. Auf einem Begleitfoto sieht man ihn mit seinem Sohn an der Hand in Bahrain, und darauf trägt er schwarze Vollverschleierung. Hätte er nicht die obligatorischen schwarzen Loafer mit weißen Socken dazu an, könnte man ihn für eine Einheimische halten.

Daneben ein Artikel über Boris Johnson, den Ex-Herausgeber des »Spectator« und konservativen Bürgermeisteranwärter in London, der im Augenblick anscheinend gute Chancen gegen Ken Livingstone hat.

Der »Spectator« wurde ja erst kürzlich in Folge 63 von Matusseks Videoblog über den grünen Klee gelobt, als eine Institution des Meinungsjournalismus, welche es in dieser Form in Deutschland (natürlich leider) nicht gebe.

Johnson, der »konservative Witzbold«, wird als Kasper, Eigenbrötler und Liebhaber charakterisiert. Ein Luftikus, der sich beim Besuch im Irak kurz nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 aus den Trümmern der Residenz des Außenministers einfach mal eines von dessen Zigarettenetuis eingesteckt hat.

Er hat sich später allerdings in einer Zeitungskolumne selbst angezeigt und jetzt, 5 Jahre danach, kündigt Scotland Yard Ermittlungen an. Johannes Leithäuser kommentiert das in seinem Artikel so:

»Solche Schildbürgereien kommen Boris gerade recht. Er liebt alle Gelegenheiten, die ihm Hohn und Spott für die Bürokratie, für politische Korrektheit oder gesellschaftliche Fortschrittsbemühungen erlauben.«

Ein bisschen erinnert der semmelblonde Johnson, den alle nur Boris nennen, an den verqueren Charakter des Johan Nilsen Nagel aus dem wunderbaren Roman »Mysterien« von Knut Hamsun, der gern Verwirrung um der Verwirrung willen zu stiften scheint und seine Meinung ohne Probleme in kurzer Zeit auch mal ganz grundlegend ändert.

Zurück zum Feuilleton, dort gibt es dann noch eine kleine Rezension zweier Bücher über Frauenthemen oder vielleicht sogar Feminismus von Johanna Adorján. Inhaltlich nicht unbedingt der Brüller, aber wunderbar verpackt von der Autorin, »Allerliebst – Der neue Feminismus ist mädchenhaft brav«.

Usw.

In der Tate Britain: Kanus, Kälte und Kaffee

London, 29. März 2008, 12:28 | von Dique

Zwei Ausstellungen in der Tate Britain. Da gibt es zum einen Peter Doig und zum anderen »Modern Painters: The Camden Town Group«.

Peter Doig

Eigentlich kein Riesenfreund moderner Malerei, gehe ich doch wegen Doig dorthin. Großformatige Leinwände sind das normalerweise. Zum ersten Mal sah ich die in der alten Saatchi Gallery in »Triumph of the Painting«.

Der heroische Titel lockte mich damals, und neben Kippenberger und Immendorff gab es dort eben auch Peter Doig. Eine Handvoll Bilder, und die gingen sehr gut. Eines davon zeigte ein überlanges Kanu mit einer relativ gesichtslosen Gestalt darin, ein waldiges Ufer dahinter, was für eine Stille.

Dann gab es da noch ein waldiges Bild, und hinter dem Gestrüpp sah man ein bauhausartiges Gebäude hervorscheinen. Im Februar kamen bei Sotheby’s zwei Doig-Bilder unter den Hammer, mindestens eines aus der Saatchi-Sammlung, das »White Canoe«, das satte £5,7 Mio. brachte. Und nun eine fette Einzelausstellung.

Camden Town Group

Irgendwie gruselt mir dann ein bisschen vor all diesen großen Leinwänden moderner Malerei, und ich gehe erst mal zur Camden Town Group, wegen Sickert, der ja wahrscheinlich Jack the Ripper war, aber eben noch wahrscheinlicher doch nicht.

Ein bisschen unambitioniert kommt mir vor, was hier zusammengehängt wurde. Post-Impressionismus in England, in London, London um 1910, »Modernity«, »Sex«, »Sensation«, »Anti-Modern«, um einige Räume beim Namen zu nennen, und der letzte heißt »Home Front«, und wir sind im Ersten Weltkrieg, der Briten liebstes Kind.

Aber egal, besonders die Sickert-Bilder faszinieren, einige seiner Mordszenen in Camden und besonders das Bild eines älteren Herrn, der vor seinem Pint Bier am Tisch sitzt und eine Zigarre pafft. Dahinter steht eine (seine?) Frau und betrachtet ein Bild an der Wand. Beide für sich und doch zusammen, gefangen, einsam zweisam, Hopper’sche Züge, nicht nur auf diesem Bild.

Members Café

Danach einen Kaffee im Members Café. Leider ist das Members Café in der Tate Britain ein ziemlicher Witz im Vergleich zur Tate Modern oder zur Royal Academy. In der Tate Britain ist es immer kalt, rein von der Atmosphäre her, und die Seite mit dem riesigen Fenster eröffnet einen 2 Meter weiten Blick auf eine weiße Wand, und das verstärkt den Kühlhauscharakter noch.

Eine Einreichung als Vorschlag zum nächsten Kaffeehaus des Monats wäre auch rein technisch nicht möglich, weil keine Telefonkamera der Welt bei diesen Temperaturen arbeitet. Man fährt also eigentlich deutlich besser im öffentlichen Café.

Zurück zu Doig

Wegen unserer Trödelei und den ganzen Diskussionen beim Kaffee haben wir dann für Doig nur noch ca. 55 Minuten Zeit. Von denen wir aber nur ganze 20 in Anspruch nehmen, denn in dieser Fülle funktioniert Doig für mich einfach nicht.

Es gibt ein paar Lichtblicke. Die Kanuszene wird noch ein paar Mal verballert, eigentlich ziemlich gut sogar, und immer wieder diese Wälder mit diesen eigenartigen Flecken auf dem Bild, nicht schlecht, aber eben auch nichts, das lange fesselt, nichts, in das man sich gern hineinmeditiert, und viele der Bilder scannt man schnell weg, und das scheint zu reichen.

Irgendwann sitzt dann mal eine Art Jesus in einem dieser langen Kanus, und ich frage nicht nach dem Grund. Dieser Jesus taucht dann ständig auf, auf Inseln, im Wasser. Das sind die neueren Bilder. Die allerneusten zeigen Wasserflecken, diese sind natürlichen Ursprungs, denn in Doigs Studio schien es reinzuregnen, und er nutzte dann einfach die Flecken als Teil des Bildes.

Das schnappe ich im Vorbeigehen im Foyer auf, denn da laufen ein paar Videos über den Künstler, und er erklärt es gerade persönlich, und hier erkenne ich genau dieses Bild wieder, neben dem Ausgang. Dem nähern wir uns dann recht schnell und nutzen die letzten 35 Minuten, um uns noch ein bisschen an den reichhaltigen Turner-Schätzen zu laben, zum Akklimatisieren, wenn man so will.

Nachträglich zum Achtzigsten:
Die Klaus-Heinrich-Charts

Leipzig, 27. März 2008, 21:32 | von Paco

Am 23. September 2007 wurde Klaus Heinrich 80 Jahre alt. Also der Mensch, der das aus dem Blick geratene Altertum so vergegenwärtigt, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts daneben zuweilen alt aussieht (Stichworte: Heidegger, Strukturalismus).

Seine Dahlemer Vorlesungen waren eine derartige class of their own, dass die gesammelten Vorlesungsmitschriften eben auch »Dahlemer Vorlesungen« heißen dürfen, selbst wenn Heinrich und die Herausgeber der Reihe anfangs Zweifel hatten, ob dieser Titel nicht zu sehr nach Provinz klinge (›nie aus Dahlem rausgekommen‹ oder so, was ja letztlich auch stimmt, Henning Ritter nennt es schönerweise »intellektuelle Sesshaftigkeit«).

Alle überregionalen Feuilletons, die etwas auf sich halten (also alle außer »FR« und »Welt«, hehe), haben Klaus Heinrich mit einem Gratulationsartikel Respekt gezollt. Alle 4 Beiträge sind sehr gut, und deshalb werden sie hier zwar gerankt, aber wie (sagen wir mal:) Koransuren der Länge nach angeordnet, nicht unbedingt nach inhaltlichen Kriterien:

1. FAZ (Henning Ritter)
2. TAZ (Cord Riechelmann)
3. ZEIT (Klaus Hartung)
4. SZ (Thomas Meyer)

Jeder der Artikel ist mehr oder weniger zweiteilig. Erstens wird der Konnex zwischen Heinrichs Biografie und der Geschichte der Freien Universität in Berlin-Dahlem hervorgehoben; zweitens werden Heinrichs Forschungen zum »Verdrängten der Philosophie« beschrieben, einschließlich der Erwähnung des »eigentlichen Hauptwerks«, den nach studentischen Mitschriften und Tonbandaufnahmen edierten, bei Stroemfeld erscheinenden »Dahlemer Vorlesungen«, die auf ca. 40 Bände angelegt sind.

1. FAZ

Henning Ritter: Die lange Lehre zum kurzen Protest. In: FAZ, 22. 9. 2007, S. Z1-Z2.

Den meisten Platz räumt dem Jubilar die F-Zeitung ein, der Aufmacher der Beilage »Bilder und Zeiten« belegt ganze zwei großformatige Seiten! Auch das Foto auf der zweiten Artikelseite ist hervorragend: Klaus Heinrich vor einem Bücherregal, im Hintergrund schimmert u. a. das »Lexikon der alten Welt« heraus, das er in seiner Vorlesung »arbeiten mit ödipus« der Benutzung nur mit Vorsicht anempfiehlt. Es steht dann also trotzdem in Griffnähe bei ihm im Regal wie ein Beispiel seiner intellektuellen Redlichkeit, sehr gut.

Im Text selber holt Henning Ritter ganz weit aus und beginnt mit Walter Benjamin, mit der Benjamin-Rezeption der frühen 60er-Jahre, »noch bevor die Schlachten um den Marxisten Benjamin entbrannten, von dem man [damals] noch nichts wusste«. Außerdem werden sehr plastisch die Stellungskämpfe um den sozialwissenschaftlich ausgerichteten »Fachbereich 11« rekapituliert, in die neben Heinrich vor allem Peter Szondi und Jacob Taubes verwickelt waren.

Ritter beschreibt auch am ausführlichsten die Faszination der vorwiegenden Mündlichkeit der Lehre: Heinrich hielt seine Vorlesungen stets ohne Stichwortzettel oder Manuskript und betrieb trotzdem »detaillierte Exegesen zu griechischen Mythen, zu frühneuzeitlicher Wissenschaft, zu Kantischer oder Hegelscher Philosophie oder zu Heidegger«.

2. TAZ

Cord Riechelmann: Die Chance des Verschwindens. In: die tageszeitung, 22./23. 9. 2007, S. 20.

Auch die »taz« ist großzügig und spendiert eine ganze Seite ihres Feuilletons. Cord Riechelmann legt den Schwerpunkt auf Heinrichs Apotheose einer unabhängigen Universität. Sein gleichzeitiges Schulterzucken ob der Tatsache, dass auch die Universität inzwischen von ökonomischem Denken durchwirkt ist, hat damit zu tun, dass diese Institution für Heinrich auch nur episodischen Charakter hat als Ort einer (von ökonomischen Zwängen freien) unabhängigen Wissenschaft.

3. DIE ZEIT

Klaus Hartung: Denken, sprechen, anklagen, besser machen. In: Die Zeit, 20. 9. 2007, S. 56.

Der »Zeit«-Artikel legt den Schwerpunkt ein wenig auf das Verhältnis von Heinrichs Habilitationsschrift »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen« (1964) und den Studentenprotesten, die ja bekanntlich in die Gewalt mündeten. Wobei es Heinrich eben auch immer wieder darum gegangen sei, die »Blutseite philosophischer Abstraktionen« aufzudecken. Auch Klaus Hartung beschreibt lebendig die Vorlesungsatmosphäre und darüber hinaus das Phänomen, dass Heinrich bei der Wirkmacht seiner Gedanken doch so »verfügbar entzogen« sei, so »präsent verborgen«.

4. SZ

Thomas Meyer: Der ewige Wissenstrieb. In: SZ, 22./23. 9. 2007, S. 14.

Trotz der Knappheit seines Artikels gelingt es Thomas Meyer, die Eigentümlichkeit von Heinrichs Denkstil zu umreißen und die wilden Jahre an der FU zu evozieren. Sogar seine spätere Rivalität zu Taubes kriegt einen Satz ab: »Dass dies [Heinrichs Forschungen] etwa beim philosophierenden Kollegen Jacob Taubes, der in allem das Gegenteil von Heinrich war, wütende Ausfälle provozierte, gehört zur Geschichte der produktiven Jahre der Freien Universität.« Auch Meyers Text ist wie die anderen Text da am stärksten, wo er Heinrichs Lehrumgebung, die FU, anekdotisch wieder aufleben lässt.

Lost: 4. Staffel, 8. Folge

auf Reisen, 25. März 2008, 23:50 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Meet Kevin Johnson«
Episode Number: 4.08 (#79)
First Aired: March 20, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Mein Name ist Kevin Johnson« (EA 3. 8. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

In dieser Folge wurde die manipulative Informationspolitik von beiden Seiten, Widmores und Bens, eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch stetig wechselnde Vorzeichen wird wieder mal klar vor Augen geführt, dass hier gar nicht wirklich ausgemacht ist, wer ›gut‹ und wer ›böse‹ ist.

Mehr noch: Es steht zu vermuten, dass beide Machtklüngel zu den ›bad guys‹ zählen. Das wäre ja mal interessant: Der Kampf Böse gegen Böse. Und die Survivors des Oceanic-Fluges stehen dann in der Mitte, wobei die ja auch fast alle ein paar Leichen im Keller haben.

Wie auch immer, der Schlagabtausch beginnt mit der Rekapitulation eines Dialogs aus Folge 2.23, einem verzweifelt fragenden Michael und einem sympathisch (hehe) grinsenden Ben:

Michael: Who are you people?
Ben: We’re the good guys, Michael.

In der letzten Folge hatte Widmores Kapitän so halb überzeugend dargestellt, warum die Frachterbesatzung auf der Suche nach Benjamin Linus sei: weil er nämlich das falsche Flugzeugwrack inklusive 324 (teils?) falschen Leichen auf dem Meeresgrund geparkt hat. In der aktuellen Folge wird diese Aussage nun GENAU ANDERSHERUM erzählt: In einer Flashback-Szene in New York behauptet nämlich der inzwischen von Sawyer getötete Tom (von den Others), dass Widmore den falschen Flieger auf den Meeresgrund gepflanzt hat.

Allerdings wird Michael an Bord des Frachters die Geschichte wiederum aus der anderen Perspektive erzählt, diesmal vom Chopperpilot: Widmore sei tatsächlich aus rettungstechnischen Gründen auf der Suche nach dem wahren Wrack. Als Michael aber sieht, wie die Söldner auf dem Deck mit ihren MPs in den offenen Ozean ballern, kommen ihm berechtigte Zweifel am Rettungscharakter der Mission.

Also was nun! Dieses Hin und Her ist effektvoll inszeniert und spiegelt überzeugend das manipulative Spiel beider Mächte wider.

Gegen Ende von Michaels Flashbacks folgt eine Hammerszene: Er ist entschlossen, die ihm von den Others mitgegebene Bombe zur Explosion zu bringen, um das Widmore-Schiff dem Meeresboden gleich zu machen. Ein 15-Sekunden-Countdown startet, Spannung pur. Und dann …

… springt bei 00:00:00 nur ein Zettel heraus, auf dem steht: »NOT YET« – und da sage einer, die Others hätten keinen Humor.

Dann ruft Ben auf dem Boot an (durchgestellt wird er als »Walt«, der Trick kommt ein bisschen billig, funktioniert aber offenbar). Er rechtfertigt den Bombenscherz so:

»I had to show you the difference between him and me. When I’m at war, I’ll do what I have to win but I won’t kill innocent people.«

Auch hier also wieder ein deftiger Schuss einlullender Informations­politik.

Der Fülle literarischer Techniken, die in »Lost« ihre Verwendung finden, wird diesmal eine weitere hinzugefügt. Anhand Michaels Background-Story gibt es zum ersten Mal einen Figuren-Flashback, der nicht als mentale Erinnerung ausgelegt ist, sondern einer anderen Figur direkt ins Gesicht gebeichtet wird.

Dadurch erfahren wir nebenbei, was Michael widerfahren ist, nachdem er mit seinem Sohn Walt die Insel verlassen durfte (nichts Gutes). Am Ende führt Michaels Story aber vor allem dazu, dass Sayid ihn erst mal an den Captain des Frachters verrät. Sein Dasein als »Kevin Johnson«, als Bens Trumpf an Bord des Frachters hat damit ein Ende.

Das ist für Michael selbst aber nicht so wichtig, denn er hatte Sayid auf dessen erste Anfrage hin, was er denn auf dem Boot mache, geantwortet: »I’m here to die.« Er bringt das mit ziemlichem Pathos hervor, und sein Satz wirkt auch deshalb ein bisschen lächerlich, weil er vorher schon mehrfach erfolglos versucht hat, sich umzubringen. Toms herrliche Erklärung für seine Fehlschläge: »You can’t kill yourself. The Island won’t let you!«

Und damit sind wir wieder auf der Insel: Dort scheint es mal wieder Zeit für ein neues Level zu sein, sprich: für einen neuen Dharma-Bunker. Diesmal handelt es sich um irgendeinen Tempel, von dem wir noch nichts Genaues erfahren. Alex (Bens Tochter) und Rousseau (Alex‘ Mutter) werden von Ben zusammen mit einem Inselboy (Karl) dorthin geschickt.

Die Fußreise der drei wird jäh durch MG-Salven unterbrochen. Karl ist wohl hinüber, Rousseau zumindest gut getroffen, und Alex lässt die Folge mit einem Schrei ausklingen, adressiert an den unsichtbaren Schützen: »Wait! I’m Ben’s daughter!«

Und jetzt haben wir erst mal einen Monat »Lost«-Pause.

Hexameter-Kritik im Feuilleton

Leipzig, 23. März 2008, 23:49 | von Paco

Eine dem fremdsprachlichen Original adäquate Versübertragung ist immer noch die Königdisziplin unter allen Übersetzungsmöglichkeiten.

Im Rezensionswesen gehört neben der Kritik altägyptischer Papyri sicher die nicht-wohlfeile Hexameter-Kritik in die Schwergewichts­klasse. (Es ginge natürlich auch ganz billig, etwa wenn Zlatko Trpkovski die Blankverse einer Shakespeare-Verfilmung als »Deppengeschwätz« bezeichnet, hehe).

Zuletzt konnte sich die feuilletonistische Kritik an der Hexametrisierung der »Odyssee« durch Kurt Steinmann austoben, die im letzten Jahr in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen ist (übrigens einige Wochen bevor Raoul Schrott mit einem Langartikel in der F-Zeitung eine neue Debatte zur Herkunft Homers in Gang setzte – der Umblätterer berichtete).

Kurt Flasch in der FAZ lobte Steinmanns Neu-»Odyssee«, Johan Schloemann in der SZ verriss sie. Beide kritisierten aber unisono die Umsetzung in deutsche Hexameter. Flasch spricht von einer »Belastung durch das Versmaß«, Schloemann bezeichnet die Übersetzung als »vielfach rhythmisch holprig und sprachlich unelegant«. Zusammengenommen gibt es folgende Kritikpunkte:

– unnatürliche Wortverlängerungen und Verkürzungen (FAZ)
– Verrenkungen der deutschen Syntax (FAZ)
– unnatürlich starke Wortbetonungen (SZ)
– Tonbeugungen bei mehrsilbigen Wörtern (SZ)

In der NZZ lobt dann Hans-Albrecht Koch an Steinmanns Neuübersetzung vor allem die Hexameter, und zwar lustigerweise aus denselben Gründen, aus denen FAZ und SZ die Versifikation ablehnten:

»Nicht mechanisch fällt bei Steinmann immer der Wortakzent mit dem Versakzent zusammen, das nimmt seiner Sprache die Schwere. Das ist in der langen Tradition deutscher Hexameter-Übersetzungen ein wenig gewagt, aber es ist schön und entlastet.«

Jens Jessen in der »Zeit« widerspricht im Übrigen allen anderen, indem er das Hexametrisieren als Bewertungskriterium herabwürdigt:

»(…) die Leistung einer neuen Übersetzung wird niemals in den Hexametern bestehen. Sie sind die leichteste Übung.«

Kaffeehaus des Monats (Teil 27)

sine loco, 21. März 2008, 11:32 | von San Andreas

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Leonar, Hamburg, Grindelviertel

Hamburg
Das Café Leonar am Grindelhof.

(»You had me do a two hour turn around
to Anchorage to pick up bagels––
Maggie zu Joel in »Northern Exposure«
)

Lost: 4. Staffel, 7. Folge

London, 20. März 2008, 01:19 | von Dique

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Ji Yeon«
Episode Number: 4.07 (#78)
First Aired: March 13, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Ji Yeon« (EA 27. 7. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Sun-zentrierte Folge, und ich bin erst mal enttäuscht. Dieser ganze Affären-, Klassen- und Vaterkomplexkram geht mir gehörig auf den Zeiger. Doch die 4.07 entpuppt sich dann schnell als starke Folge mit einer ganzen Menge Puzzleteilen.

Gehen wir voll rein in die großen Bedeutungsfelder: Benjamin Linus und Charles Widmore verkörpern zwei Mächte, die sich im Kampf um die Insel gegenüberstehen und dabei informationspolitisch-manipulatorisch die Sau rauslassen. Wer wen als Scherge und Opfer benutzt, ist noch nicht ganz klar, aber beide nutzen alle Tricks, um den Gegner taktisch zu schwächen.

Wenn man den Aussagen des Frachter-Captains Glauben schenkt, hat Ben also aufwendig falsche Spuren gelegt, indem er den gecrashten Rumpf der Oceanic 815 irgendwo im Ozean platziert hat, zusammen mit 324 Leichen, die zahlenmäßig der Passagierliste des Fluges entsprechen. Mit dieser Finte will er offenbar alles und jeden von der Insel fernhalten, hat aber nicht mit Widmore gerechnet, der irgendwie (wie?) die Original-Black-Box des 815er Fluges auftreiben konnte. Und jetzt ankert sein Freighter namens »Kahana« in der Nähe der Insel.

Allerdings wird dieser auch sabotiert, wahrscheinlich von einem alten Bekannten, Michael. Denn: Ein bisschen frisiert und inkognito (als Kevin Johnson), aber immer noch mit seinem gereizten Blick, sehen wir ihn endlich wieder. Welcome back, brotha, würde Desmond sagen, sagt er aber nicht, da er ihn ja gar nicht kennt. Michael, der im Finale der 2. Staffel mit seinem Sohn Walt erfolgreich von der Insel fliehen durfte, scheint also Bens Spion an Bord des Freighters zu sein.

Benjamin Linus erschien ja von Anfang an als äußerst vierschrötig und unheimlich, schon als er sich noch als Henry Gale ausgab, mit oder ohne sein gelb-blau geschlagenes Gesicht, und nun wird ihm noch dieses »staged wreckage« des Fliegers angehangen. Aber jetzt kommt’s:

»What’s even more disturbing … where exactly does one come across 324 dead bodies? And that, Mr. Jarrah [Sayid], Mr. Hume [Desmond], is just one of the many reasons we want Benjamin Linus.«

Das sagt wiederum Widmores Kapitän. Verkörpert also Widmore die gute Seite der Insel-Medaille? Unwahrscheinlich. Das kann man der Serie gar nicht genug danken, dass sie bei ihrer Konstellation der Mächte eben nicht klar zwischen Gut und Böse unterscheidet. Die Konturen verschwimmen je nach Informationslage, und es begegnen uns auf der Mikroebene der Charaktere sowie auf der Makroebene des Plots stark ausgeprägte Ambivalenzen.

Juliet zum Beispiel ist uns in ihrer wachsenden Apathie gegen ihren Boss Ben Mal um Mal sympathischer geworden. Doch in dieser Folge lässt sie wieder ihre Skrupellosigkeit heraushängen. Mit berechnender Eiseskälte haut sie dem gerade so Englisch radebrechenden Jin das Affärengeheimnis seiner Frau ins Gesicht. Das Geheimnis, das ihr von Sun in einer prekären Lage vertraulich mitgeteilt wurde. Am Ende vertragen sich aber alle wieder, Jin & Sun, Sun & Juliet. Sie wollen ja alle bloß von dieser verdammten Insel runter, und da haben die Emotionen eben mal kurz übergekocht.

Für Sun sowieso, klar, aber auch für uns Zuschauer mit Wissensvorsprung gegenüber der koreanischen (nun) Mutter, erscheint Juliet noch immer zwielichtig, was treibt sie eigentlich, will sie wirklich einfach von der Insel runter, irgendwo sicher, aber is it as simple as that?

Auch Bernard findet eine schöne Beschreibung für die wabernde gut/böse-Dichothomie. Bernard, der zusammen mit seiner Frau Rose einer der wenigen zu sein scheint, der keine Leichen im Keller hat. Nachdem Jin die Affäre seiner Frau serviert bekommen hat und sich zur Beruhigung zum Fischen aufs Meer zurückzieht (als Symbol der Reinigung funktioniert das ja immer gut), hält ihm Bernard diesen Monolog über die Ehe, der wohl Jin darin bestärkt zu verzeihen und zu Sun zurückzukehren, um dieses Kapitel ein für alle mal abzuschließen.

Vor allem stellt Bernard zum ersten Mal fest, was auch die Zuschauer noch nicht so gedacht haben werden, obwohl es stimmt: »Locke is a murderer.« Dann erklärt er Jin das Karma-Konzept, eine Hommage à »My Name Is Earl«, die NBC-Comedyserie, in der das allgegenwärtige Karma neben dem Ex-Tunichtgut Earl die Hauptrolle spielt:

»You see, now, that’s karma. We must be the good guys, huh?«

Das ist einerseits ironisch, wenn man Jins Vergangenheit als mordender Scherge von Suns Vater bedenkt. Andererseits stimmt man sofort zu, ja, Jin is one of the good guys. Das passt irgendwo auch ein bisschen zu unserer kürzlich geführten Diskussion um Schirrmachers Artikel über Peter Hacks. Schuld, Sühne, Chance, Fehler, gut, böse »und der ganze Crap«, wie George Costanza vielleicht sagen würde.

Die Sterberate ist übrigens für eine Serie, die ja immer wiederkehrende Figuren braucht, recht hoch, und manche Tode kommen und gehen ohne irgendeine Konsequenz. Da springt nun diese Regina (Tarantinos »Death Proof«-Muse Zoë Bell) mit Ketten um den Leib ganz von sich aus in den Ozean. Die Besatzung juckt das nicht, keiner springt hinterher um sie zu retten.

Gut, vielleicht kann man da auch nichts machen, cabin fever und so, aber trotzdem wird dann ziemlich schnell umgeschaltet, obwohl da gerade ein Mensch in den Tod gesprungen ist (auch wenn Z. B. im wirklichen Leben Stuntfrau ist und ihr nichts passiert sein wird, hehe). Man denke hier auch noch mal an Locke. Der ballert einfach mal Naomi ab und wird dann Führer des einen Flügels der Überlebenden. Auch diese ganzen Morde an den Others, etwa in einer der letzten Szenen der dritten Staffel, als Sawyer den Other Tom regelrecht hinrichtet.

Jack sehen wir dieses Mal nur ganz kurz. Eine dieser Jack-Szenen, in denen er sich nach irgendjemandes Wohlbefinden erkundigt. Er erinnert mich darin sehr an Doctor Livesey in irgendeine Verfilmung der »Schatzinsel«. Der kommt da auch manchmal mit der weißen Fahne ins Blockhaus und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden der verfeindeten Piraten, die auch gerade Jim Hawkins auf ihrer Seite haben.

Auch Kate wurde etwas stiefmütterlich in die Folge hineingeschrieben und erscheint wie einer dieser Vollgummibälle, die mit unglaublicher Kraft unkontrolliert herumspringen, nicht wissen, wo sie hinwollen und dabei eine Menge Porzellan zerschlagen.

Ach ja, Jin ist angeblich tot. Das Datum auf seinem Grabstein ist das Datum des Flugzeugabsturzes. Zumindest dieses Datum hat er aber überlebt, das müssten Jin und Hurley eigentlich wissen. Andererseits scheinen beide im Flashforward trotzdem anzunehmen, dass er tot ist, warum auch immer.

Sehr schön ist die Parallelisierung von Suns Entbindung im Flashforward mit Jins Kauf eines riesigen Plüschpandas, den er slapstickhaft durch den koreanischen Großstadtverkehr schleppt, bevor er ihn als Representative von Suns Vater, Mr. Paik, in einem Krankenhaus abliefert, offenbar eine Flashback-Szene.

Sun wird jedenfalls als eine der Oceanic Six bezeichnet, also fehlt noch einer. Aaron scheint nicht zu zählen, da er ja auch nicht auf der Passagierliste stand, weil er beim Absturz noch nicht geboren war.

Okay, vielleicht ist das beste an dieser Folge, dass dieser ganze Sun/Jin-Affärenkram ein für alle mal vorbei ist. Bleiben Vaterkomplex und Klassenunterschied, also immer noch genügend Lückenfüller, hehe.

Darf man das lesen? (Teil 10: »Jungle World«)

Leipzig, 18. März 2008, 12:37 | von Paco

Ja. Und das kann man ruhig mal mit Vorsatz machen (2,90 Euro), nicht nur zufällig per Google-Suchtermen oder Buchmesse-Freiexemplaren. Aber bitte wirklich nur das Feuilleton, das seit kurzem übrigens wieder »Dschungel« heißt, und das ist doch mal eine treffliche Metapher.

Im letzten Jahr hat die Wochenzeitung ihr zehnjähriges Jubiläum gefeiert, und Ivo Bozic hatte damals mal schön aufgeschrieben, wie es dazu kam, dass es plötzlich die Jungle World gab. (Nach einem redaktionsinternen Streit beim alten FDJ-Tageblatt »junge Welt« wurde sie ursprünglich als Streikzeitung gegründet.) Zusammen mit der Tatsache, dass die Independentzeitung mehr als 30 Herausgeber hat, ist das doch der abgefahrenste Gründungsmythos seit dem One-Man-Relaunch der »Fackel« im Jahre 1912.

Immer empfehlenswert waren die Literaturkritiken von Jörg Sundermeier (exemplarisch sein Aufsatz über die Veränderungen auf dem Buchmarkt) sowie die populär-germanistischen Artikel von Jan Süselbeck.

Immer wieder gab es auch überraschende outgesourcte Texte, z. B. den von Dietmar Dath über die popkulturellen Implikationen des Analverkehrs oder das vorabgedruckte Grünbein-Kapitel aus Steffen Jacobs’ »Lyrik-TÜV«. Legendär ist auch die Tagebuch-Fortsetzungsreihe von Detlef Kuhlbrodt in 1, 2, 3, 4, 5 Teilen (Februar/März 2002), da kann man immer mal wieder reinlesen.

Eine Augenweide, aber das nur nebenbei, ist auch das cleane Design der Homepage jungle-world.com mit der schönsten Druckansicht aller Onlineauftritte deutschsprachiger Zeitungen.

Usw.

Leipziger Buchmesse: Lesungswahnsinn

Leipzig, 16. März 2008, 14:05 | von Paco

Donnerstagabend, Kuppelhalle der LVB. Dort werden gern rauschende Feste gefeiert, für Lesungen ist der hallende Raum eher nicht geeignet. Die Tür gibt beim Öffnen und Schließen ein inkommensurables Kojotengeheul von sich.

Für 20 Uhr ist also eine Lesung angesetzt, mit 7 Autoren aus aller Herren Länder. Jenny Erpenbeck liest als erste, während immer mal wieder ein paar Nachzügler hereinkrächzen, zuletzt auch der beauftragte Lesungsfotograf.

Dieser packt sein Equipment aus und schraubt die Kamera zusammen, klack, ratter, zzzzz. Er ist schon jetzt unschöner Mittelpunkt der Veranstaltung, aber dann …

… dann klingelt auch noch sein Handy. Einmal, zweimal, er beutelt das Ding, wo das Handy drin ist, hin und her, dreimal, viermal, endlich hat er es. Statt es jetzt auszumachen, geht er ran. »Hallo?«

»Fucking hell«, tönt es von irgendwoher hinten, es murrt, es zischt. Irgendwann hat er zuende gemurmelt, zückt dann aber das Fotomachgerät und hält es erst mal frontal in die Menge.

Ähm, könntest du mir jetzt bitte mal nicht so voll in die Fresse reinfotografieren? Öffentlicher Ort hin oder her, es nervt. Alle halten sich irgendwie die Hände vors Gesicht.

Sicher keine schöne Aussicht, kein repräsentatives Publikumsfoto mit konzentrierten und erheiterten Zuhörern. Der Fotograf tingelt seitlich durchs Publikum, sucht sich irgendeinen Platz und schickt sein Blitzlicht jetzt voll in den Lesewinkel der Frau Erpenbeck.

Die zuckt zusammen und fragt ganz freundlich, ob man das bitte vielleicht mal lieber nach der Lesung machen könne (correct Konjunktiv used by courtesy of Die Dschungel). Es herrscht aber irgendwie ein wenig Uneinsichtigkeit bei der Fotoabteilung. Da prescht ein Autorenkollege vor und packt den Kamerahalter am Schlafittchen.

»Il sloveno!« rauscht es durch die Reihen. Ich kenne den mit seiner Kollegin solidarischen Autor nur von einer Handvoll Gedichten aus dem EDIT-Sonderheft »Slowenien« vom letzten Frühjahr. Jedenfalls …

… reicht es jetzt nämlich offenbar wirklich, überall wird Zustimmung signalisiert. Leider wird der Sloveno forsch und besteht mehrmals darauf, dass der Fotograf den Ort verlässt. Als seine Jacke aus der Tür hinaus die Treppen runterfliegt, schlägt die Zustimmung sofort in Mitleid um. Einige wenige verlassen mit dem Fotomenschen den Raum, aber das mag noch mal fünf andere Gründe gehabt haben.

Marcel Beyer ist übrigens auch bei der Rausschmisslesung dabeigewesen. Einen Abend später liest er dann noch mal aus »Kaltenburg« vor, im »smow« am Burgplatz, und zwar diesmal allein. Eine Stunde, vier Substorys.

Im Vergleich zum Vorabend macht sich nun der komplette herrliche Lesungswahnsinn breit. Menschen halten Wein in ihren Händen, hören da jetzt genau zu, der Autor erklärt vorab ein bisschen den Roman. Das ist sehr angenehm, wenn im Kneipengeschichtenstil schnell über die Figuren gesprochen wird, damit jeder weiß, worum es jetzt gleich noch mal geht.

Dann die Lesung, das Aufschnappen einzelner schöner Sätze, das Verlieren in der Betonung, das Sammeln von erzählerischen Informationsbits, kurze Langeweile, dann plötzlich wieder die Freude über Konjunktive, jemand hustet, ein paar grinsen. Und kein Kojotengeheul.