Darf man das lesen? (Teil 11: »getAbstract«)

Konstanz, 29. April 2008, 07:01 | von Marcuccio

Wer sich schon immer die Frage stellte, »wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat«, für den geht es heute mal um eine ganz spezielle Dienstleistung in der boomenden Branche: Es geht um Abstracts von »getAbstract« – also die Produkte des (nach eigenen Angaben) Weltmarktführers für Buch-Zusammenfassungen.

Das Prinzip

Jeder noch so dicke Wälzer der Wirtschafts- und Weltliteratur wird auf ein Standard-Format von fünf bzw. acht PDF-Seiten (oder entsprechende MP3-, Palm-, Blackberry-Äquivalente) komprimiert. »Heiße Luft aus Büchern rauslassen«, nannte Rolf Dobelli, der Mitbegründer von getAbstract, das Verfahren mal ganz treffend.

Content von brutto auf netto, sozusagen, wobei dieser Service, nur als Flatrate zu bekommen, nicht ganz billig ist: das Abstract-Abo für die Bibliothek der Wirtschaftsbücher kostet 299 €, das für die Klassiker 189 € pro Jahr. Vielleicht, hehe, fragen wir also besser nicht: »Darf man das lesen?« Sondern: »Möchte man sich das leisten?« Und: Kann das, was für Business-Bücher passen mag, für belletristische oder philosophische Werke überhaupt funktionieren?

Wir machen die Probe aufs Exempel und nehmen heute endlich das Abstract zu Nietzsches »Zarathustra« zur Kenntnis, das uns die NZZ seinerzeit als Gratis-Beilage zum legendären Sonntagstaucher-Frühstück servierte. (Als Promotion bzw. in Kooperation mit Printmedien lanciert getAbstract immer wieder solche Buchzusammenfassungen zum Sammeln. Aktuell kriegt man mit der NZZ am Sonntag die »Klassiker der Wirtschaftstheorie«, 2007 gab’s eine Philosophen-Serie und schon 2006 zwei Staffeln Belletristik.)

Also sprach Zarathustra kompakt – der netto 11 DIN A 5 Seiten (brutto 420 Buchseiten) umfassende Nietzsche hat folgende Inhaltsstoffe zu bieten:

Die »Buchinformation«

… bildet gewissermaßen vorneweg das Abstract des Abstracts. Bis auf die Allerwelts-Attribute, die begründen müssen, warum der »Zarathustra« überhaupt eine Buch-Zusammenfassung wert ist, geht der Satz in Ordnung:

»Das faszinierende und irritierende Hauptwerk Nietzsches, in dem er die Ideen des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr als Rettung für die Menschheit verkündet.«

Die »Take-Aways«

… heißen wirklich so und sollen, Bourdieu lässt grüßen, wohl so etwas wie eine Liste gesellschaftlich verwendbarer Stegreifsätze über das Werk anbieten. Nur klingen die meisten von ihnen eher nach der Sorte Floskeln, wie sie ahnungslose Lehramtsstudentinnen verfertigen, um sie für die nächste Prüfung auswendig zu lernen. Stilschublade G8 Abiturwissen, Grundkurs Reli respektive Philo:

»Zarathustra hatte besonders große Wirkung in der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst, weniger in der Philosophie.«

Oder hier, das Take Away zum Plot:

»Der Einsiedler Zarathustra steigt nach Jahren der Einsamkeit aus den Bergen herab, um den Menschen seine Weisheit mitzuteilen.«

Wüsste man es nicht besser, man könnte Nietzsche glatt für einen Märchenonkel halten.

Das eigentliche Abstract

Die banalisierende Sprache ist der Dreh- und Angelpunkt, ja vielleicht das eigentliche Problem eines solchen Abstracts, denn in ihr kommt der souveräne Umgang mit dem Gegenstand weiß Gott nicht immer zum Ausdruck: Wenn es etwa heißt, Nietzsche hätte »lange mit dem Nihilismus geliebäugelt«, dann ist das einfach mal das völlig falsche Verb zum richtigen Sachverhalt. Oder liebäugelt man mit Nihilismus wie man mit einem, sagen wir, Topfenstrudel in der Kaffeehausvitrine liebäugelt? Eben.

Umgekehrt gilt aber auch: Nicht alles ist schlecht. Was im hinteren Teil des Abstracts über Nietzsches Stellung in der modernen Philosophie zu lesen ist, hätte so oder so ähnlich in jedem Feuilletonartikel zum nächsten »Zarathustra«-Jubiläum Platz:

»Nietzsche hielt es für eine Illusion, alles Menschliche auf Basis der Vernunft zu konstruieren, weil die Vernunft nur ein Teil des Menschen ist: Wer sie auf ein Podest erhebt, missachtet den Körper und die Leidenschaften. Der Leib, der Rausch, der Impuls gehören genauso zum Menschen wie die Rationalität. Damit nahm der Philosoph die Grundgedanken Sigmund Freuds vorweg. (…) Der moderne Mensch ist auf sich selbst gestellt, absolute Gewissheiten und eine universelle Moral gibt es nicht mehr, insbesondere keine christliche.«

Fazit: »Gott ist tot«

Und der »Nietzsche kompakt« war nicht grad eine lebendige Lektüre. Ein bisschen so wie eine Tube pures Tomatenmark: ordentlich konzentriert wohl, aber als reine Masse fad schmeckend. Wer den »Zarathustra« gelesen hat, wird von diesem Konzentrat wenig überzeugt sein. Und wer das Buch nicht kennt wohl kaum zur Lektüre des Originals verführt.

Das viel bessere Abstract eines Buches versteckt sich manchmal ganz woanders, in einem anderen Buch zum Beispiel. Fabelhaft fasst etwa Rüdiger Safranski den »Zarathustra« zusammen, auf den Seiten 297-301 seines Romantik-Buchs gerät man ganz unversehens in eine süffige, bonmotreiche Paraphrase. Damit gelingt Safranski auf 4 Seiten, was getAbstract auf 11 nicht schafft: Kürze mit Würze.

Kaffeehaus des Monats (Teil 30)

sine loco, 28. April 2008, 20:12 | von Marcuccio

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Bregenz Kunsthaus KUB-Café Interieur

Bregenz
Das KUB-Café neben dem Kunsthaus, Karl-Tizian-Platz.

(Auch bekannt als Drehort von rebell.tv. Wenn das
österreichische Feuilleton (Die Presse, Der Standard)
ausgelesen ist, lohnen die Coffeetable Books aus
dem benachbarten KUB-Shop: Jeff Koons‘ bunte
Balloon Dogs vor Zumthor-Sichtbeton usw.)

Die FAS vom 27. 4. 2008:
Drei Frauen, drei Generationen, drei Artikel

London, 27. April 2008, 21:25 | von Dique

Volker Weidermann mag »Taxi«, das neue Buch von Karen Duve, und hat sie in ihrem zum Wohnhaus umfunktionierten Bahnhof in Blangenmoor bei Brunsbüttel besucht. Locker schreibt er über die Reise in den Norden, die Landschaft und Abgelegenheit des Ortes und die energische Bulldogge der Autorin (S. 25).

Hinterm Haus, am Teich mit den Molchen, zwischen Vogelgesang und Sonnenschein, dann mal was über das Menschenbild der Autorin:

»Vor allem die eine Hälfte des Menschentums steht im Fokus ihrer Verachtung: Männer. Ein Mann übersteht die Karen-Duve-Lektüre nicht unbeschadet.«

V. W. scheint die Lektüre überstanden zu haben. Allerdings bleibt mir in diesem durchweg guten Text unklar, was er an dieser Geschichte über die Menschen verachtende Taxifahrerin Alex Herwig so besonders findet.

»Fahrgäste waren Gesindel. Reiche Fahrgäste waren vergoldetes Gesindel. Nette Menschen fuhren nicht Taxi.«

Das wirkt eher aufgesetzt als provokant. Außerdem, bei ›Taxi‹ denkt man ›Driver‹, vor allem, wenn es sich um Taxistas handelt, die von ihrem Umfeld angewidert sind. Und gegenüber Travis Bickle und seinem »some day a real rain will come and wash all this scum off the streets« klingt »Taxi« ein bisschen nach Lightversion. Pufftouren im Mercedestaxi in Hamburg, denn männliche Taxiinsassen scheinen ständig in den Puff zu fahren. Aber gut, die Frau hat 13 Jahre in diesem Gewerbe gearbeitet und wird es wissen:

»Die ersten drei Jahre waren okay, die letzten zehn hätte es nicht unbedingt gebraucht.«

Vom »low« des Taxifahrerdaseins zum »high« der Society, Cindy McCain. Nach der Berichterstattungsflut über Hillary und Obama und Obama und Hillary nun mal was zur Frau des republikanischen Kandidaten John McCain. Anstatt 13 Jahre Taxi gefahren zu sein, wurde sie mit 14 Jahren Rodeoqueen und zur bestangezogenen Schülerin gekürt, und gut angezogen erscheint sie auch noch heute.

Ansonsten der klassische konservative First-Lady-Typ, philanthropisch, Mutter, Support im Hintergrund, alles nicht so spannend. Aber die Seite sieht schön aus, das Foto, die McCain im roten Kostüm, am rechten Bildrand, und hinter ihr nur der rot-weiße Teil der Stars & Stripes, sehr rot, so wie auf Seite 4, da wird Sigmar Gabriel im Comicformat porträtiert, und zwei Seiten weiter gibt es vier Bilder eines Embryos, ebenfalls rot, sehr intensiv. Nicht umsonst ist die FAS erneut unter den vier »world’s best-designed newspapers«.

Und, um das hier mal »gender biased« abzurunden, noch eine Generation weiter, wieder eine Frau, Leonora Carrington (s. Wikipedia). Es geht in dem Text von Monika Maron überwiegend um Carringtons Roman »Das Hörrohr« (EV 1974), der jetzt in 5. Auflage erscheint. Darin bekommt eine eigentlich taube, alte Frau ein Hörrohr geschenkt, erfährt auf diese Weise, dass sie von ihrer Familie ins Altenheim verbannt werden soll und schmiedet sofort Ausbruchspläne.

Das Altenheim heißt »Die Bruderschaft zur Quelle des Lichts«, und das Buch endet in einem surrealistischen Desaster. Leonora Carrington ist auch Malerin und stellte 1938 zwei Bilder in der Pariser Surrealismus-Ausstellung aus. Seit den 40er-Jahren lebt sie mit kurzen Unterbrechungen in Mexiko.

Viele der anderen Artikel in der FAS handeln übrigens von Männern, so wie der von Joachim Lottmann zum Film »Iron Man«.

Lost: 4. Staffel, 9. Folge

auf Reisen, 26. April 2008, 18:15 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »The Shape of Things to Come«
Episode Number: 4.09 (#80)
First Aired: April 24, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Konturen der Zukunft« (EA 10. 8. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

»Lost est de retour et la guerre de l’île peut vraiment commencer«, schreibt Critik en séries, das beste französische Serienblog. Und ein Krieg ist es tatsächlich, der nach einmonatiger Pause in der neuen »Lost«-Folge am Horizont aufscheint. Endlich wird mit offenem Visier gekämpft: Ben Linus gegen Charles Widmore. Aber diese Ansage kommt erst in der Schlusszene, davor kriegen wir noch eine Handvoll weiterer fulminanter Drehbuchideen zu sehen:

Nach dem üblichen Kurzintro (der »Lost«-Schriftzug wabert uns ins Gesicht) sehen wir Ben in der Sahara aufwachen. Wieder mal mindblowing: Was zur Hölle macht er da! Zwei Reiter kommen angesprungen, jeweils eine AK-47 in der Hand. Eine Szene, die vom Setting her an die Brunnenszene von »Lawrence of Arabia« erinnert (Sherif Ali: »What’s your name?« – Lawrence: »My name is for my friends. None of my friends is a murderer!«).

Die Typen scheinen kein Englisch zu verstehen, Ben fragt sie daher radebrechend, ob sie Arabisch sprechen (ungefähr »تتكلم العربية؟«) und dann komischerweise auch noch: »Türkçe biliyor musunuz?« Ein Wunder, dass er sie nicht auch noch fragt, ob sie vielleicht des Isländischen mächtig sind, hehe. Wie Türken sehen die Wüstenreiter nämlich nicht aus, aber da ist schon klar, dass er seine Fragen nur gefragt hat, um die Beiden zu verwirren.

Denn dann erschießt er den einen und drischt dem anderen den Gewehrkolben ins Gesicht. Ben in einer kleinen Actionszene, sehr ungewöhnlich, wo er doch sonst immer eher besonnen agiert. Und schon sitzt er auf einem der Pferde und reitet davon. Er taucht in einem Hotel in Tozeur (SW-Tunesien) wieder auf.

Dort gibt er sich als »Dean Moriarty« aus. Das ist zwar auch eine Referenzerweisung an Jack Kerouacs »On the Road« und unterstreicht das Reisemotiv, das »Lost« ja auch durchzieht. Aber »Moriarty« ist kulturhistorisch gesehen natürlich vor allem der Gegner von Sherlock Holmes. Mit diesem Falschnamen wird also besonders der sich anbahnenden absolute Antagonismus zwischen Ben und Widmore anspielungsreich herausgekehrt.

Außerdem erfahren wir von der Hoteldame, dass heute der 24. 10. 2005 ist, wir uns also in einem Flashforward befinden, etwas mehr als ein Jahr nach dem Absturz der Oceanic 815. Ben entdeckt in einer TV-Übertragung Sayid, der sich einem Paparazzi-Gewimmel gegenüber sieht und sagt: »Please, I just want to bury my wife in peace.«

Die Beerdigung findet in Tikrit im Irak statt. Sayid ist dort, Ben ist dort (getarnt als Fotojournalist). Außerdem vor Ort ist ein glatzköpfiger Unsympath namens Ishmael Bakir. Er scheint für Widmore zu arbeiten. Ben verfolgt ihn, Bakir merkt das und lockt Ben in eine Falle. Er hat die Waffe auf ihn gerichtet, wird aber seinerseits von Sayid durchlöchert, der kurz vorher von Ben davon überzeugt wurde, dass es Bakir war, der seine Frau Nadia vor 5 Tagen in L.A. ermordet hat.

Ok, die in Tunesien und im Irak zu sehenden arabischen Beschriftungen sind wieder mal krass falsch geschrieben (etwa Sayids Name im tunesischen Fernsehen: »س ي د«, also mit unverbundenen Buchstaben, statt »سعيد«). Es ist ja ein Faible von US-Produktionen, fremde Sprachen einfach nur als desemantisierte Ornamente zu benutzen, hehe.

Aber egal. »Benjamin, who’s next?«, fragt Sayid, sobald er das Magazin leergeschossen hat. Auf diese Weise wird er offenbar zum Auftragskiller von Bens Gnaden. Ein Ergebnis dieses Deals haben wir ja schon in Folge 3 gesehen.

Soweit der Flashforward. Auf der Insel kommt es in dieser Episode zu einer wilden Schießerei. Es sind dieselben Leute, die in der Folge davor Alex‘ Begleiter (ihre Mutter Rousseau sowie Karl) erschossen haben. Nun haben sie Alex (die ja auch Bens Tochter ist) als Geisel mitgenommen und sind bei den Barracks angelangt. Dort jagen sie mit einer Panzerfaust eine der Hütten in die Luft. Claire wird dabei verletzt (ihr kleiner Sohn Aaron saß auf Hurleys Schoß in Sicherheit).

Und dann …

… kommt eine dieser unfassbaren »Lost«-Szenen, die man lange nicht vergessen wird.

Dieser Army-Typ, der den Militärtrupp von Widmores Frachter anführt, droht vor Bens Hütte, dessen Tochter Alex umzubringen, wenn er nicht herauskommt. Ben taktiert und opfert dadurch seine Tochter. Wer hätte das gedacht? Auch wenn wir in »Lost« schon von einem Dutzend Toten überrascht wurden (Boone, Shannon, Doc Arzt, Ana Lucia, Libby usw.), ist diese Attacke auf die Erwartungshaltung des Publikums der bisherige Gipfel. Wir werden Zeuge einer eiskalten Hinrichtung.

Diese Szene erinnert etwas an Hitchcocks »Sabotage« (1936): Ein Botenjunge soll ein Paket überbringen, in dem sich – was er natürlich nicht weiß – eine per Zeitzünder aktivierte Bombe versteckt. NIEMALS, denkt man die ganze Zeit, NIEMALS wird Hitchcock die Bombe explodieren lassen, solange der kleine Junge sie bei sich trägt. Man ist sich so sicher. Und plötzlich: BOOOM!

In der entsprechenden »Lost«-Szene kommt noch verschärfend hinzu, dass der Army-Typ (Keamy heißt er, und Ben kennt ihn, er rasselt seine Biografie runter), dass also der Army-Typ schießt, lange bevor er die 10 Sekunden zuende gezählt hat.

Ben ersteinert zur Statue: »He changed the rules«, sagt er nach der Werbepause. Dann ist es Zeit für ein bisschen Rache: Ben öffnet eine Geheimtür in der Hütte und kommt leicht verschmiert zurück. Er weist die anderen (Locke, Sawyer, Hurley, Miles, Claire mit Aaron) an, auf sein Zeichen schnellstmöglich zum Waldrand zu rasen.

Und dann …

… sehen wir das Black Smoke Monster so mächtig wie nie durch die Gegend schießen. Wir hören die Schreie des sterbenden Militärtrupps, die Losties scheinen gerettet. Ben bleibt zurück und verabschiedet sich weinend von seiner Tochter.

Am Strand (wo sich die Jack-Getreuen befinden) passiert in dieser Folge auch ein bisschen was: Der Doktor vom Frachter wird tot angeschwemmt. Faraday fragt per Morsezeichen auf dem Schiff nach, was mit dem Doc passiert ist. Er kriegt auch eine Antwort und übersetzt sie – aber falsch, wie Bernard bemerkt. »The doctor is fine«, lautet die Antwort. Damit scheint das Thema der verschiedenen Zeitebenen wieder auf. Es gibt nun offenbar zwei Doktoren, einen lebenden, einen toten.

Zum Ende der Folge: Ben macht sich auf den Weg in ein Londoner Penthouse. Er überrascht dort Charles Widmore, der im Bett liegt und sich mit Scotch zuschüttet. Sie schieben sich gegenseitig die Schuld am Tod von Alex zu. Ben jedenfalls will nun im Gegenzug Widmores Tochter Penelope killen, die ja auch Desmonds Geliebte (und Konstante) ist.

Gleichzeitig hebt der Krieg um die Insel an: »That island’s mine, Benjamin. It always was. It will be again«, sagt Widmore. Und als Ben ihn damit aufzieht, dass er sie nie finden wird, entgegnet er: »Then I suppose the hunt is on for both of us.«

Ein ›Killerspiel‹ als Film: »Shoot ’Em Up«

auf Reisen, 25. April 2008, 21:03 | von Paco

Ist jetzt schon eine Weile her: Wir sahen »Shoot ’Em Up« von Michael Davis (2007) in einem von uns hier ungenannten Kino irgendwo in den Suburbs von Tel Aviv. Nie wieder Dizengoff-Kino war die Devise! Da passte es gut, dass Clive Owen den Film mit demselben »Fucking hell!« beginnt, mit dem schon Millek dem niesenden Italiener im Dizengoff seine Unzufriedenheit mitteilte.

Clive Owen als Smith geht dann allerdings noch einen Schritt weiter und rammt einem offensichtlichen Übeltäter eine Möhre in den Hals, bevor dieser die am Boden liegende Schwangere abschießen kann. Dann kommen die anderen Gangster, dazu Nirvanas »Breed«, während die Frau gebiert. Smith disst noch schnell einen Ponytail-Träger und schießt auch ihn ab. Nach 2 Minuten ist klar, das wird ein Mordsspektakel, sozusagen.

Bei rottentomatoes.com steht der Film auf 67 Prozent, gilt also nur relativ knapp noch als FRESH, und wird so zusammengefasst: »Plenty of humor and non-stop action make for a very enjoyable film.«

Owen rettet das Baby der inzwischen tödlich verletzten Mutter, er isst weiter Möhren, die Knarre fällt ihm ins Ekel-Klo (»Damn!«). Er föhnt sie schnell trocken und schießt sich seinen Weg durch die Gangster-Prärie. Witzig geht es weiter: Smith will seine Ammo mit Food Stamps bezahlen – was für eine Filmwelt, es ist zum Schießen. Ebenso die Ratte als Türöffner, eine ›Kultszene‹ wie sie im Buche steht.

»Fuck you, you fucking fuckers!« Immer weiter wird im Film so geredet. »Fuck me sideways«, sagt der Hauptgangster. »Vaffanculo, screw yourself«, sagt Monica Bellucci, als sie das Baby übernehmen und mit Laktose versehen soll. »Brutto figlio di puttana bastardo« hat sie auch noch zu bieten, und Smith ist freundlicher und findet alles nur »pretty fucked-up«.

Der Film speist sich aus einer Ästhetik, die im Erwachsenen-Feuilleton und von Politiker-Noobs immer gern als »Killerspiel« bezeichnet wird. Wie bei der Einzelmission eines richtig schlechten Ego-Shooters tauchen von überall her ständig unintelligente neue Feinde auf.

Also: Abschießen und unflätig werden. Der Film ist irgendwie gut, aber das kann weder an dem einen noch an dem anderen liegen. Keine Ahnung, unser Lieblingsfilmkritiker H.-U. Pönack weiß mehr:

»Shoot ’Em Up« ist ein Kugel-Ballett vom Allerfeinsten; ist eine glänzend wie komisch inszenierte, herrlich dauer-unanständige »Baller-Orgie«; ist ein ideenreicher, origineller, scharf-witziger, phantastisch-schmutzig choreographierter Rock’n’Roll-Thriller-Django-Western. (19. 9. 2007)

Soviel zum Genre. Den Einwürfen von Bedenkenträgern schießt Pönack das hier entgegen:

Das ist Genre-Entertainment in Reinkultur, das macht Spaß, besitzt die nötige Kracher-Distanz, den Anarcho-Charme der totalen Übertreibung. Und ist letztlich, Gipfel des Zynismus, bei dieser »genüsslichen« Dauer-Ballerei, sogar ein cleveres Plädoyer gegen die Waffenlobby in den USA!

Hui.

Die NYT, der NYRB, das TLS, der LRB

Leipzig, 23. April 2008, 14:08 | von Paco

Sapperlot noch mal, jetzt ist uns doch etwas durch die Lappen gegangen. Und zwar:

Michael Hofmann: »Die Literaturkritik sitzt huckepack und sagt, wo’s lang geht«. Zwischen Ruhm, Spott und Bescheidenheit: Vier Charakterphysiognomien der angelsächsischen Literaturkritik. (Aus dem Engl. von Axel Monte.) In: Süddeutsche Zeitung, 22. 12. 2007, S. 16. (vgl. Perlentaucher, Original hier als PDF)

Definitiv Top-10-Kaliber, jetzt eben apokryphe Schrift zu unserem Feuilleton-Reader für 2007.

Der in der S-Zeitung ganzseitige Text basiert auf einem Vortrag, den Michael Hofmann im November auf der Tagung »LitCrit« gehalten hat. Eberhard Falcke von der »Zeit« empfand ihn damals als »erhebendes Intermezzo«. Es geht darin um die 4 Leitsterne der weltweiten Literaturkritik, hier 13 Stichpunkte:

New York Times (NYT)

Seinen ersten Auftrag für einen NYT-Artikel ereilt Hofmann als »unergründlicher Gandenerweis aus der Welt der Götter«.

Zum Ansehen, zur Breitenwirkung der NYT: »Wer eine Besprechung in der NYT bekommt, und sei es ein Verriss, der hat es in gewisser Hinsicht geschafft.«

Zur Rezeption: Auch eine nicht besonders negative Kritik kann einem den rezensierten Autor oder dessen Freunde auf den Hals hetzen, wenn sie in der NYT erscheint, Hofmann bringt als Beispiel seinen Review eines Bandes von Donald Justice (»Note 2 plus«).

Die US-Verhältnisse sind also in Maßen vergleichbar mit dem Hörisch/Müller-Battle, ganz anders als in England, denn dort, »wo ich viel mehr und weitaus bissiger geschrieben habe, ist mir so etwas nie passiert, (…). Man reagiert dort nicht auf Rezensionen«.

New York Review of Books (NYRB)

Ein anglophiles Blatt: »wenn ich es in die Hände bekomme, mache ich mir den Spaß, nachzuzählen, wie viele Beiträge von Autoren von diesseits des Großen Teiches stammen, es sind immer um die fünfzig Prozent«.

»Abgesehen von ihrer Ostküstenvorliebe für (fast) alles Britische bleibt die NYRB für mich durch Umständlichkeit und Pedanterie gekennzeichnet. Dort erscheinen die einzigen Rezensionen, die regelmäßig mit Fußnoten aufwarten.«

Daher habe Hofmann auch nie für die geschrieben, denn ein abgeliefertes Manuskript kam mal mit einer Armada von Annotationen zurück, »ärgerlichen und einfältigen kleinen Fragen und Einwänden«: »Das Ding sah aus, als sei es tätowiert worden.«

Times Literary Supplement (TLS)

»Das TLS, das jede Woche vierzig bis fünfzig Seiten mit Rezensionen und Artikeln über Bücher füllen muss, ist für junge Autoren noch immer ein Geschenk des Himmels, auch wenn das Meiste heutzutage von Professoren verfasst wird«.

»Es ist meines Wissens die einzige englischsprachige Zeitschrift, die alle paar Monate ein oder zwei Seiten für Originaltexte in anderen europäischen Sprachen, zumindest den größeren, reserviert: Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch.«

London Review of Books (LRB)

Sei im Gegensatz zur NYRB weniger umfangreich bei sowieso kürzeren Artikeln und »weniger aufgeblasen« als diese.

»Unter den Genannten ist es die einzige Zeitschrift, von der ich mir tatsächlich vorstellen kann, sie von vorne bis hinten durchzulesen; von der ich sagen kann, dass jede Ausgabe mit etwas Lesenswertem aufwartet, mit Beiträgen, an die man sich noch Jahre später erinnert«.

»Wenn ich mich beim TLS zu Hause gefühlt habe, dann hege ich für die LRB patriotische Gefühle. Sie ist eine kleine literarische Republik.«

Zum Stil: Die LRB liefere »einen Text, der Wissen voraussetzt, aber auch Nichtwissen respektiert; der gleichermaßen Leser, Nicht-Leser und (…) Autoren anspricht, der zugleich unterhält (immer wichtig in England!) und bildet«.

Die FAS vom 20. 4. 2008:
»Der beste deutsche Feuilletonist …«

Göttingen, 20. April 2008, 21:25 | von Paco

Der ca. 65-Jährige, der mir heute mittag im Tonollo in der Weender Straße die FA-Sonntagszeitung verkaufte, diskutierte gerade sichtbar beschwingt mit einer Kollegin den Wirtschaftsteil. Darin geht es um Leute im rentenfähigen Alter, die aber einfach immer weiter arbeiten. »Mit 65 Jahren fängt die produktive Phase doch erst an«, heißt es auf S. 42, und das deckt sich ja mit den 6 schönen Kurzvideos über den »Antiquar Wengerzink«, die kürzlich auf der Website der S-Zeitung veröffentlicht wurden.

Überhaupt der Wirtschaftsteil: super! Der Aufmacher über die superprovinzielle, aber eben supersolide doitsche Old Economy. Allein dieses eine Unternehmen da, »EBM Papst«, Weltmarktführer beim Bau von Ventilatoren, was für eine Story. Mit dieser Erwähnung geht der Artikel los, am Ende wird aber keine dahingehende Pointe geliefert, wie man das eigentlich bei so einem speziellen Einstieg erwartet.

Auf der letzten Seite des Ressorts (S. 48) dann dankenswerterweise ein Jerry-Yang-Porträt von Roland Lindner. Kommende Woche wird es ja ernst für Yahoo (Di: Quartalszahlen, Sa: Microsofts Übernahme-Ultimatum läuft ab), da ist es sehr gut, noch mal schnell die ganze Firmenstory serviert zu bekommen, »Previously on Yahoo« sozusagen.

Das Feuilleton startet auf S. 25 mit einer exzellenten Architekturkritik von Niklas Maak. Im Fadenkreuz: die neue amerikanische Botschaft in Berlin (verantwortlich: das kalifornische Büros Moore Ruble Yudell). Es ließen sich hier zig Formulierungen anführen, die meinen eigenen Verrisswortschatz beträchtlich erweitert haben. Nur ein Beispiel:

»Die Fenster der amerikanischen Botschaft (…) wirken, als hätte sie ein pleitegegangener Bungalowbesitzer in einem Baumarkt bei Fargo gekauft, um seine Behausung für den Winter dicht zu kriegen.«

Maaks Kritik der »industriell gefertigten Wegwerfästhetik« in diesem speziellen Fall wird aber zum Aufmacher erst dadurch, dass er sie induktiv generell auf die US-Architektur und US-Design der nuller Jahre bezieht: »Außer Apple-Computern, Nike-Turnschuhen und iPods gibt es heute kaum noch optisch wegweisende amerikanische Industrieprodukte.«

Hinsichtlich der Embassy legt Maak dann aber noch eine andere Arbeitshypothese als Interpretation nahe:

»Wenn man den seltsamen Botschaftsbau positiv deuten will, könnte man sagen, Amerika bemüht sich vielleicht bewusst nicht, den Deutschen ein glanzvolleres Bild von sich vor Augen zu stellen, als es gerade hergibt.«

Eine okaye Pointe, ein Aperçu fast, und ein alles in allem herrlicher Artikel. Und gleich weiter zum Peter-Richter-Text dieser Ausgabe. Er schreibt auf S. 28 über die Wanderschau »Fragen & Blumen« des schweizerischen Kunstproduktionsduos Fischli/Weiss, die inzwischen in den Hamburger Deichtorhallen angelangt ist. Der Tonfall gleich zu Beginn lässt einen herben Verriss vermuten, aber dann liegt die Sache doch ein wenig anders:

»Fischli und Weiss sind offenbar die Künstler, auf die sich fast alle einigen können. Und man muss schon ein notorischer Nörgler sein, um ihre Arbeiten nicht zumindest ein bisschen zu mögen. (…) ›Fragen und Blumen‹ ist nichts weniger als die perfekte Ausstellung. Der Laie schmunzelt, und der Fachmann erlaubt sich im Katalog auch mal einen launigen Ton.«

Reich-Ranicki beantwortet dann heute mal eine ungewohnt komplexe Frage zum Unterschied zwischen den Feuilletons von Joseph Roth und Friedrich Sieburg. Roth wird sehr passend als »Kauz mit Grandezza« beschrieben. Sieburg als – festhalten! – »bester deutscher Feuilletonist der frühen Nachkriegszeit«. Aber, so seine Vermutung für die years to come: »mit den Schriften Sieburgs werden sich nur noch die Literaturkritiker beschäftigen«, was aber so zumindest eben noch nicht stimmt.

David Mamet hat vor einem Monat in der »Village Voice« diesen Artikel veröffentlicht: »Why I Am No Longer a ›Brain-Dead Liberal‹« – die FAS bringt ihn in einer eigentlich guten Übersetzung (S. 30), die aber »Liberal« zugespitzt mit »Linker« übersetzt. Wenn das jemand schon für anstößig hält, wird er inhaltlich erst recht über den Vergleich zwischen den Präsidenten Bush und Kennedy stolpern, der auf ein paar unerwartete Gemeinsamkeiten hinweist.

Volker Weidermann hat ein hervorragendes Porträt des Kafka-Liebhabers Klaus Wagenbach geschrieben, S. 31. Super Anekdoten, etwa diese:

»Wie schwer war das Forschen damals, als Kafka eine Unperson in der sozialistischen Tschechoslowakei gewesen ist. ›Ich habe gesagt, dass ich über Kisch forsche‹, sagt Wagenbach jetzt, ›das war ideal, denn Kisch war Kommunist, und da sein Name auch mit ›K‹ beginnt, konnte ich in den Archiven in aller Ruhe recherchieren.‹«

Und Gastautor Sylvain Bourmeau liefert einen Artikel zur Zeitungskrise in Frankreich. Hier kurz die Liste mit den 7 überregionalen Tageszeitungen des Landes:

– Le Figaro
– Le Monde
– Aujourd’hui en France (Le Parisien)
– Libération
– La Croix
– L’Humanité
– France Soir

Sieht also nicht gut aus für den Bestand und die Unabhängigkeit dieser Blätter. Am Ende macht der Autor noch ausführlich Werbung für das Netzzeitungsprojekt »Médiapart«, bei dem er den Kulturteil leitet. Leider ist das Ganze eine Bezahlsache, und im Moment gibt es seinen Angaben zufolge erst 7.000 Leser, die monatlich 9 Euro rüberschießen.

Schnell noch zum Aufmacher des Gesellschaftsteils: »Zu Besuch in Hillaryland« (S. 59), von Sascha Lehnartz. Eine gute Reportage über die Kleinstadt Scranton, PA, und die Wähler der Clinton (»meist nicht mehr ganz junge Frauen in bequemen Schuhen«, hehe).

Dass genau diese typische Eastcoast/Middleclass-Kleinstadt relativ berühmt ist, wird aber vergessen zu erwähnen. Denn die erfolgreiche NBC-Mockumentary »The Office« spielt dort. Sie war ursprünglich als Kopie des BBC-Originals gestartet, hat aber mit ihrem herrlich überzogenen Büroboss Michael Scott im Mittelpunkt inzwischen zu einem Manierismus ganz eigener Art gefunden.

Usw.

Jochen Hörisch / Burkhard Müller:
Schon wieder Neues vom 1. FC Feuilleton

Göttingen, 18. April 2008, 16:45 | von Paco

Die Halbwelt tritt ins Licht. Hatte man denken können, wenn man so den Schlagabtausch beobachtete, den sich der SZ-Rezensent Burkhard Müller und der Lit.wiss.ler Jochen Hörisch letzte Woche beim Perlentaucher geliefert haben. Jetzt kommen sie aus ihren Genres herausgekrochen, die Bücherveröffentlicher, die Rezensenten.

Kaum hatte Marcuccio an dieser Stelle über den 1. FC Feuilleton geschrieben, lief das Team also wieder auf und sorgte für ein unterhaltsames, spannendes Spiel. Die Fußballmetapher benutzt auch Malte Dahlgrün vom »Dummy«-Blog in seiner äußerst treffenden Nachlese zum Schlagabtausch, bei der er uns auch einige herrlich feierbare Formulierungen schenkt, bitte unbedingt lesen: »Actionkino im Meta-Feuilleton«.

Im Institut war die Zeit zwischen dem 6. und 14. April ein stetiges Warten auf den nächsten Beitrag. Es kam zu jauchzenden Jubelrufen am Kaffeeautomaten, wenn jemand durch die Gänge brüllte: »Replik Hörisch!«, »Müller hat nachgeliefert!«

Der Perlentaucher hatte das genau richtige Gespür, als er Hörischs offene Mail publizierte. Dass die beiden Sparringspartner am Ende der Debatte die neuen Möglichkeiten des sogenannten »Internets« hervorhoben, klang dann auch nur deshalb so altbacken, weil eine Institution, wie es die Zeitschrift »Der Antikriticus« im 18. Jahrhundert war, längst überfällig ist.

Allzu innovativ war das Online-Scharmützel allerdings nicht. Ich erinnere an das ebenso herrliche Hin und Her zwischen dem Romancier Raoul Schrott und seinem Kritiker Wendelin Schmidt-Dengler vor ein paar Jahren:

Schmidt-Dengler hatte am 11. 10. 2003 in der österreichischen »Presse« Schrotts Roman »Tristan da Cunha« verrissen. Einige Wochen später erschien dann, ähnlich wie im Fall Hörisch/Müller ein Verriss des Verrisses durch den verrissenen Autor. Auch damals reagierte der auf diese Weise kritisierte Kritiker.

Der gesamte Schlagabtausch war mal hier auf der Website der »Volltext« dokumentiert. Der Online-Auftritt der immer noch besten deutschsprachigen Literaturzeitschrift ist allerdings mittlerweile leider irgendwie eingeschlafen.

Usw.

Die FAS vom 13. 4. 2008:
Feuchtgebiete, Bandbreite, Nordgeweihte

Leipzig, 17. April 2008, 15:45 | von Paco

Genau, ja, wobei, ähm?, echt?, niemals!, super, hehe, gute Güte, holla! Soweit meine Eindrücke bei der Lektüre des großen Essays über Charlotte »Feuchtgebiete« Roche von Ingeborg Harms (S. 30). Kulturgeschichtliche Eintütung, die sich gut wegliest. Freud, Germaine Greer, Bachtin, Lessing (Laokoon), Bret Easton Ellis, Sennett, Georg Franck, Kafka, Littell, Kleist. Ok, in ca. einem Monat noch mal lesen.

Als Feuilleton-Aufmacher schreibt Daniel Kehlmann über einen frisch übersetzten Band mit Truman-Capote-Reportagen (S. 25). Abgesehen von den als Übersetzungskritik gemeinten Stellen ein gutes Ding. Aber eben: Der Band wurde von Marcus Ingendaay sehr, sehr gut übersetzt, vor allem angesichts der »Bandbreite der Texte«, die ja auch Kehlmann bestaunt.

Dann Nils Minkmar zum französischen Phänomenfilm »Bienvenue chez les Ch’tis« (S. 27). Bestes Wort im Text: »der Nordgeweihte«. So wird der arme Postangestellte bezeichnet, der von Süd nach Nord versetzt wird. Auch gut, dass die Beobachtungen gegen Textende schnell noch mit Pierre Bourdieu und Dirk Baecker kurzgeschlossen werden.

Soweit der Alibi-Rundown der ja schon 4 Tage alten Ausgabe. Auch sonst war die FA-Sonntagszeitung natürlich wieder gut gefüllt, mais pas de temps, on prépare d’autres actions ici. Bienvenue chez le Tourneur de Pages.

Caravaggio – Kunstgeschichte, Krimi und Rom

London, 16. April 2008, 19:28 | von Dique

Ich lese gerade das Buch »The Lost Painting« (2005) von Jonathan Harr, so ziemlich das Beste, was ich seit einer ganzen Weile in die Finger bekam (NYT-Review und 1. Kapitel). »He could retire after writing this book«, schreibt ein anderer Fan über Harr. Es geht um Caravaggios »The Taking of Christ«, welches jahrelang als verschollen galt und heute in der National Gallery in Dublin hängt.

Harr schreibt in journalistischer Berichtsform, ein bisschen »spiegelig«, über die Ereignisse, die zur Auffindung des Bildes führten, natürlich beginnend in Rom und mit Denis Mahon, einem der wichtigsten Caravaggio-Experten, wie er gerade über die Piazza della Rotonda am Pantheon zu seinem Stammlokal »Da Fortunato« spaziert, um im kleinen Kreis ein Mahl einzunehmen.

Dann lässt ihn der Autor mit der Geschichte beginnen, ein ganz klassisches Setup, ein bisschen wie »1001 Nacht«. Ein Erzähler beginnt, gibt den Rahmen vor, und dann gleitet man in die Geschichte.

So fängt zum Beispiel der Film »Der Dieb von Bagdad« (1940) an oder »Sindbad der Seefahrer« (1947), ohne Zyklopen, dafür mit dem Schurken Melik, der viel bedrohlicher ist als die zyklopischen Pappkameraden von Ray Harryhausen. Die Melik-Figur erinnert mich ein bisschen an Ben von der »Lost«-Insel, die undurchsichtige Gestalt im Hintergrund. Unendlich fortsetzbare Assoziationskette.

Aber zurück: »The Lost Painting« ist auch deshalb edel, weil ich gerade ein anderes Buch über Denis Mahons Gemäldesammlung gelesen habe (vieles davon hängt hier jetzt in der Londoner National Gallery). Irgendwann in den Siebzigern hörte Mahon einfach auf, Bilder zu kaufen. Italienischer Barock wurde wieder populär und die Bilder teuer wie die Sünde.

Weiter heißt es im Buch, dass Mahon nie selbst einen Caravaggio besessen hat. Diese Information stimmt so nicht mehr, denn eine von ihm vor kurzem (2006) für £50,000 gekaufte Kopie des »Falschspieler«-Bildes von Caravaggio entpuppte sich ein Jahr später als Original und soll nun um die £50 Mio. wert sein.

Nichtsdestotrotz ist das Harr-Buch ein toller Mix aus Kunstgeschichte, Krimi und Rom. Vom Style erinnert es mich komischerweise an Graysmiths »Zodiac«, weil das eben auch in diesem »Spiegel«-präzisen Style daherkommt.

Usw.